vonImma Luise Harms 07.08.2010

Land Weg

Das Land ist Ressource und Erweiterungsgebiet für die Stadt, aber auch ihre bestimmte Negation. Grund zum Beobachten, Experimentieren und Nachdenken.

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Auch allein sollte man die Form waren, am Tisch speisen und nicht vor der Kühlschranktür. Halb acht. Abendbrot. Rest Nudelsalat, Rest grüner Salat, Spiegelei. Glas Rotwein. Platz nehmen. Auf dem Teppich unterm Tisch ertasten meine Füße etwas Weiches. Eine tote Maus.
Ich habe eine Phobie vor toten Tieren. Messer, Gabel, sämtliche Haare stellen sich senkrecht. Schreiend fahre ich hoch. Renne aus der Küche, hole Hilfe beim Nachbarn – Thomas ist verreist. Eine tote Maus unter meinem Tisch! St. grinst: „Ach, fängt Jule noch Mäuse? Ist doch gut!“ Jule ist unsere Katze. St. beugt sich unter den Tisch. Ich stehe in der Ecke, halte mir die Hände vors Gesicht und wimmere. Durch die gespreizten Finger sehe ich, wie die Maus am eigenen Schwanz nach draußen schaukelt und im Bogen ins Gebüsch fliegt. Und ich hab fast draufgetreten!
Das Essen schmeckt mir am Tisch nicht mehr. Ich nehme Teller und Glas mit zum Fernseher, wo irgendwas durchläuft. Warum hat Jule die Maus da hingelegt? Wenn sie eine Maus fängt, warum isst sie die dann nicht? Am besten draußen. Sollte die Mahlzeit für später sein? Oder sogar für mich vorgelegt? Ich esse keine Maus.
Jule gilt nicht als große Jägerin. Im Winter, wenn es den Mäusen draußen zu kalt wird, kommen sie ins Haus, kriechen unter meinen gut ausgepolsterten Holzfußboden und machen von diesem sicheren Ort aus Beutezüge in meine Vorratsschränke. Alles, was nicht in Tupperware oder festen Gläsern steckt, wird angeknabbert. In der Zeit ist Jule verpflichtet, in der Küche Wache zu halten. Aber diese Katze ist das friedvollste Tier, das ich kenne, ohne Arg und Aggression gegen irgendjemand auf der Welt. Thomas berichtet, dass er sie mal nachts in der Küche angetroffen hat, wie sie einträchtig mit einer Maus auf dem Boden saß und ihr beim Spielen zusah.
Es könnte also durchaus sein, dass die Maus von dem bösen Kater zurückgelassen wurde, der manchmal ungebeten in die Küche kommt und Jules Futternapf leert. Den Mäusebraten hat er vielleicht so lange abgelegt, musste ihn dann aber aufgeben, als er plötzlich aufgescheucht und rausgejagt wurde. Nicht von Jule; das ist nicht ihre Art. Sie geht ins Nebenzimmer und wartet, bis der Fraßfeind wieder weg ist. Sie weiß ja, dass der Futternapf früher oder später wieder gefüllt wird. Allerdings weigert sie sich, da weiter zu fressen, wo der Kater schon rumgesabbert hat. Sie steht vor der halbvollen Schale und schaut mich klagend an: Da hat einer von meinem Tellerchen gegessen! Ist gut, kriegst ne saubere Schale.
Mäuse sind Mitesser. Und warum eigentlich nicht? Warum missgönnt man ihnen das kleine Bisschen trockene Spagetti? „Es riecht nach Maus, merkst du das nicht?“ sagen meine BesucherInnen vorwurfsvoll. Verwahrlosung droht. Die Vorstellung, dass da ganze Clans, ja Völkerschaften von Mäusen in der Wärmedämmung unterm Fußboden wohnen und sich wöchentlich vermehren, von dort meinen Wohnbereich überfluten, alles zernagen und bescheißen, mir schließlich auf den Leib rücken und mich zur Aufgabe meines Heims zwingen – die Vorstellung lässt keinen Platz für kreatürliches Mitgefühl. Die Maus muss raus oder sterben. Thomas stellt Mausefallen auf, die er dann zeitnah und unauffällig leeren muss. Jule hat dabei eher die Rolle einer Mause-Scheuche.
Aber jetzt ist ja Sommer und die Maus lebt draußen, kommt nur als Mahlzeit ins Haus.

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