vonImma Luise Harms 29.07.2012

Land Weg

Das Land ist Ressource und Erweiterungsgebiet für die Stadt, aber auch ihre bestimmte Negation. Grund zum Beobachten, Experimentieren und Nachdenken.

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Der Mond hängt als blasses gelbes D zwischen den Solarpanelen auf dem Dach. Die Sterne sind da, aber sie funkeln nicht im dunklen Himmel. Vielleicht, weil eine Staubschicht in der Luft liegt, meint Thomas, von der Ernte. Kann sein, auch auf dem See hat heute Nachmittag ein feiner heller Film von Staub gelegen.
Ringsum hört man leise das Dröhnen der Erntemaschinen. Sie sind den ganzen Tag und die ganze Nacht unterwegs. Jetzt schon die zweite Nacht. Morgen soll es regnen. Alles muss rein. Die Zeit von Wachstum und Reife ist zu Ende. Der Halm wird gebrochen, das Korn heraus gekämmt. Die Pflanze aus Wurzel, Stängel, Blättern und Frucht wird zu Biomasse, Stärke und Proteinen. Wahrscheinlich wird sogar alles zu Biomasse. Denn hier in der Gegend wird kaum noch Lebensmittel- oder Futtergetreide angebaut. Das kommt alles in die Biogasanlage und wird zu Strom und Wärme.
„Wenn die Zeit eine Kugeloberfläche ist, dann ist das vielleicht derselbe Abend wie vor 15 Jahren. Da haben wir auch immer vor dem Bauwagen Feuer gemacht“, sagt Thomas. Ich sage: „Der Baum war noch nicht so groß, man hat mehr Sterne gesehen“. Das Bild von der Zeit als einer Kugel stammt von Bernd Alois Zimmermann. Wir haben vorhin das „Requiem für einen jungen Dichter“ von ihm gehört. Ein Lingual nannte er das. Ein überwältigendes Welten- und Zeiten-Gemälde, ein Inferno aus Sprache und Tönen, erzeugt von fünf Chören, drei Orchestern, Sprechern, historischen Ton-Dokumenten. Ein Teil davon soll auf Roberts Beisetzung gespielt werden. Im Begleitheft der CD ist ein Bild vom Dirigenten Gielen, mit niedergeschlagenen Augen, zugekniffenem Mund und einem stricknadel-feinen Taktstock. Da kann man sich so gar nicht vorstellen, dass der Mann eine solche Aufführung steuern kann. „Aber hast du das Bild von dem Zimmermann gesehen?“ fragt Thomas, „der sieht doch auch mehr wie ein Sachbearbeiter aus“. Oder wie ein SPD-Kreistagsabgeordneter, mit Bürstenhaarschnitt, Brille, ausrasiertem Bart, mit stumpfer Nase und teilnahmslosen Augen. Und der Mann macht aus letzten Worten von Dichtern und letzten Werken von Musikern so eine orgiastische Totenmesse. Es war seine eigene. Ein Jahr später hat er sich umgebracht.
Der Mond ist jetzt weg, aber die Sterne bleiben blass. Im lang vor uns ausgestreckten Gutshof-Gebäude gehen hier und da Lichter an. Man sieht, wie die Leute von Raum zu Raum gehen. Licht an im Waschraum. Licht an im Schlafzimmer. Zurück, Licht aus im Waschraum und im Wohnzimmer. Woanders blendet ein Flurlicht, das seinen Schein direkt auf unsere im Dunklen züngelnde Feuerstelle wirft. Dann wird es doch irgendwann ausgeschaltet. In den Gästeräumen unterm Dach bewegen sich Körpersilhouetten durch die hellen Rechtecke hin und her, bücken sich, verweilen, schauen vielleicht auf uns, schließen die Gardine. „Das hast du auch schon oft gesagt“, antwortet Thomas, als ich bemerke, das ist doch wie ein Theaterstück, das müsste man als Theaterstück inszenieren. In zwanzig Jahren sagt man wohl öfter mal was öfter. Das liegt vielleicht an der Kugeloberfläche.
Einzelne Flammen kriegen eine grünlich-bläuliche Färbung, wie ein Feuer im Feuer. Ein Metall verdampft. Vielleicht die Messingriegel aus den Ringbüchern. Wir haben angefangen, Roberts Vorlesungsmitschriften zu verbrennen. Eine Kiste voll mit Din-A5-Ringheftern, jeder so dick wie ein epischer Roman. Als erstes hatte ich zufällig auch das erste in der Hand: Philosophie I, Vorlesung von Prof. Volkmann-Schluck. Die Anfänge der Metaphysik. 1963. Ich habe die mit blauer Tinte geschriebenen Zeilen überflogen, ob sich vielleicht in den mitgeschriebenen Zeilen eigene Wertungen, eigene dazwischen gestreute Gedanken finden, etwas, das begründen könnte, warum diese vielleicht 5000 Seiten Mitschrift noch aufgehoben werden sollten, habe aber nichts außer braver Wiederholung des Dozierten gefunden, erleichtert angefangen, büschelweise die Blätter herauszunehmen und gefächert aufs Feuer zu legen. Eine Hand voll, eine Vorlesung.
Dann kommt Germanistik, Romanistik, Althochdeutsch – seitenlange Deklinationen der alten Wörter. Im schwachen Feuerschein erkennt man sich nicht, sieht nur die Wortkolonnen, die Hand in Hand über die Seiten marschieren, im Marschieren für fast fünfzig Jahre erstarrt sind, von Robert aus sammelwütiger Treue über alle Stationen seines disparaten Lebens mitgenommen.
Die Blätter liegen auf dem Feuer, die Kanten kräuseln sich, wellen auf. Das Feuer fasst die oberen Blätter zuerst, frisst sie mit ingrimmiger Hitze, ohne dass eine befreiende Flamme auflodert. Das oberste Blatt zieht sich zu einer schwarzen Welle zusammen, die Schrift verschwindet in der Textur der Seite. Es wird leicht, es hebt sich, es fliegt über uns, es taumelt als schwarzer Vogel im Nachthimmel – das Gedicht von Rimbaud und die sorgfältige Mitschrift seiner Interpretation. Das nächste Blatt fliegt auf und noch eins und noch eins. Die von ihrer Mitschrifthaftigkeit befreiten Gedanken umfliegen das Feuer, bevor sie sich irgendwohin niederlassen.
Das Haus vor uns ist jetzt fast dunkel. Der Große Wagen, blass und fern, steht genau da, wo er immer steht. Ein blinkender Punkt kreuzt durch die Sternbilder. Wir trinken den Wein aus.
Das letzte Ringbuch. Nochmal Philosophie. Den Namen der Vorlesung kann ich nicht lesen, nur den Dozenten: Theunissen. Theunissen war einer der prominenten Philosophen an der FU der achtziger und neunziger Jahre. Hat Theunissen damals in Köln gelehrt? Später war er jedenfalls in Heidelberg. In Heidelberg hat Robert sein Studium beendet. Hat er da noch Vorlesungsmitschriften gemacht? Ist das wichtig? Für wen? Schon ist das Ringbuch entklammert, schon liegen die Seiten auf dem glimmenden Haufen. Die hellen Flammen sind längst unter der Last der Papierstapel erstickt.
Am nächsten Morgen liegen die verbrannten Seiten wie tote Vögel im Gras. Nein, wie vom Baum der Erkenntnis abgestorbene Blätter. Von Paul Verlaine, dem Liebhaber von Rimbaud, stammt das Herbstgedicht, das mit den Zeilen endet: „Et je m’en vais / Au vent mauvais / Qui m’emporte / Deçà, delà, / Pareil à la / Feuille morte.“ (Und ich geh weg, in den schlechten Wind, der mich hier hin und da hin trägt, so wie das tote Blatt)

Diese meine Sätze sind auf kein Papier geschrieben. Sie sind nichts als eine temporäre Konfiguration von elektronischen Impulsen, die in die Tiefen des Informationsäthers davon treiben. Ohne Adresse sind sie vergessen.

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