„Hunderttausende friedliche Demonstranten haben 1989 … die Mauer zu Fall gebracht“ schreibt die Bundesregierung in einem Textkasten, der in einem Bild platziert ist, das sitzende, stehende, jedenfalls gut gelaunte junge Menschen auf der Krone der berühmten Mauer zeigt. Sind das die Menschen, die sie zu Fall gebracht haben? Auf der Mauer steht „freedom“, davor sind drei uniformierte Männer postiert, in entspannter Haltung, die Hände hinter dem Rücken verschränkt. Es sind, der Uniform nach zu urteilen, Grenzsoldaten der DDR; das Bild ist hinter ihrem Rücken aufgenommen worden, also aus dem Ostteil der Stadt, wahrscheinlich mit einem Teleobjektiv aus größerer Entfernung. Das Teleobjektiv rückt die Personen, zwischen denen sich eigentlich politische Zeitalter befinden, in große situative Nähe. Sie könnten miteinander reden.
Ganz offensichtlich sind das weder Demonstranten noch Flüchtende aus der DDR, sondern ZuschauerInnen aus West-Berlin, die auf der westlichen Sperrmauer stehen; wahrscheinlich vor dem Brandenburger Tor, dort wurden viele solcher Bilder gemacht. Hinter der östlichen Sperrmauer stand wahrscheinlich der Fotograf. Die Mauer zu fotografieren, war früher bei Strafe verboten. Das alles war aufgelöst in diesen Tagen. Und diesen Auflösungsprozess gucken sich die Neugierigen aus West-Berlin an und genießen dabei, wie alle anderen in dieser Zeit, was sie plötzlich alles dürfen und vorher nicht gedurft haben, z.B. auf die Mauer klettern, z.B. unter den Augen der Wächter etwas daran sprühen, sogar runterfallen von der Mauer auf den Grenzstreifen, wobei ihnen von den Grenzsoldaten wieder hoch geholfen wird. Auch davon gibt es ein Foto.
Die Bundesregierung gibt die Schaulustigen aus dem Westen durch die Zuordnung von Bild und Text als „friedliche Demonstranten“ aus dem Osten aus. Das ist nicht das erste Mal, dass das berühmte Bild der Menschen auf der Mauer auf diese Weise umgedeutet wird. Aber so flächendeckend per Anzeigen verteilt, und das von der amtlichsten Stelle, die wir überhaupt haben – da kann man sagen, diese Umdeutung, die ja auch eine Lüge ist, eine geschichtliche Lüge, wird vom Bundespresseamt dem deutschen Volkskörper eingebrannt, so dass niemand mehr etwas anderes behaupten, ja, denken kann: Die friedlichen Demonstranten haben die Mauer friedlich überwunden, friedlich erstürmt. Und nicht: die westliche Welt hat die Demonstrationen in der DDR für mehr Selbstbestimmung und Reisefreiheit dazu genutzt, in den Osten vorzudringen. Was man wirklich auf dem Bild sieht: die Mauer wurde von der westlichen Seite gestürmt. Und die DDR-Bürokratie oder vielmehr: die Grenztruppen haben es geduldet. Warum? Weil sie in jeder Weise mit dem Rücken an der Wald standen, mit ihrem bürokratischen Sozialismus am Ende waren.
Die Grenztruppen greifen nicht ein. Inzwischen ist bekannt: viele Truppenteile hatten bereits verabredet, im Ernstfall nicht aus den Kasernen auszurücken, um nicht gegen ihr eigenes Volk eingesetzt zu werden. Sind nicht die auf dem Rücken verschränkten Hände der Grenzsoldaten auch Helden des historischen Momentes? In der Anzeige werden sie von dem Textkasten der Bundesregierung verdeckt. So schiebt sich die große Erzählung der Mächtigen vor die letzten Spuren des tatsächlich Geschehenen.
Ich sags gleich: ich kenne die Wahrheit nicht und ich weiß wenig von dem, was damals wirklich geschah. Von Wien aus gesehen war die Mauer tatsächlich ein Symbol, wie Tobias sagt. Ein unscharfes, mit Bedeutung aufgeladenes Bild. Wo ich mit Tobias nicht übereinstimme ist, wie mit Symbolen und Bildern im allgemeinen umzugehen ist. Mit Verlaub, mir wäre auch nicht recht, wenn unter meinem Konterfei geschrieben stehen würde, geschätzte 16 Millionen Menschen in Deutschland leiden unter Fußschweiß – egal wie wahr diese Behauptung sein mag.
Entscheidend ist doch mit welcher Absicht bestimmte Texte und Bilder in Beziehung gesetzt werden. Wir sehen schließlich nur, was wir sehen wollen, in dem Fall – so will es die deutsche Bundesregierung – die friedlichen Demonstranten, die die Diktatur der DDR zu Fall gebracht haben.
Sorry, aber wenn Imma Recht hat und dieses Bild zumindest nicht das zeigt, was hier suggeriert wird, dann bin ich schon sehr dankbar für den Hinweis!
Zugleich frage ich mich, was mir hier nicht erklärt wird, welche Verbiegungen und Auslassungen zu welchgem Zweck hier vorgenommen werden.
Ich bin also, ihr merkt es schon, für diese Diskussion sehr dankbar. Sie erscheint mir legitim und wichtig. Und wichtiger als das emotionale Gezerre um die „eine Wahrheit“ oder die Herabwürdigung des/der Andersdenkenden erscheint mir, eure Geschichten in all ihren Widersprüchlichkeiten zu erfahren. Denn eines ist auch klar: Wenn Geschichte erst mal total klar, einfach und ohne Widersprüche ist, dann ist sie mit Sicherheit Propaganda.