vonImma Luise Harms 08.05.2017

Land Weg

Das Land ist Ressource und Erweiterungsgebiet für die Stadt, aber auch ihre bestimmte Negation. Grund zum Beobachten, Experimentieren und Nachdenken.

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50 Zentimeter deutsche Literaturgeschichte. Von der erdrückenden Menge an Büchern, die mich umgibt – es sind 75 laufende Meter – habe ich seit langem diesen Abschnitt als einen fixiert, der mir am leichtesten rauszuschmeißen vorkommt.

Deutsche Literaturgeschichte in elf Bänden, vom Mittelalter bis 1933, schwarz eingebunden, golden bedruckt; nicht mal die Nachkriegsliteratur ist mit drin. Was soll ich mir Literatur erklären lassen? Das war was für den Altphilologen Ü., von dem ich einen großen Teil meiner Buchbestände übernommen habe, nicht für mich. Wieso hab ich das nicht damals schon aussortiert?

Das ganze Projekt, die Buchmengen zu reduzieren, wollte ich von dieser Seite angehen. Diese 50 Zentimeter schon mal wegschaffen.  Ich habe mir ausgiebig Gedanken darüber gemacht, wie man Bücher los wird. Mit denen ist es wie mit Brot oder mit warmen Zudecken: man hat eine durch die Kriegserfahrung der Eltern eingebaute Sperre, sie einfach wegzuwerfen.

Meine Überlegungen umkreisen diesen inneren Knoten und suchen Wege.
Die Bücher verkaufen: Scheidet aus, kein Mensch will mehr so ein überaltertes Belehrungswerk haben.
Verschenken: Wahrscheinlich aus dem gleichen Grund nicht möglich. Da müsste ich schon lange suchen und auch noch kostenlos verschicken.
Aussetzen: Die Bücher in eines der öffentlich zugänglichen Bücherregale einstellen, ganz arglos tun, als wenn sich jemand mal so eine Schwarte als Nachtlektüre mitnehmen würde.
Zurück zum Erzeuger: Eine Spielart des Aussetzens. Nachts im Karton vor dem Eingang der Humboldtuni absetzen. Möglicherweise werde ich dabei dann wegen Terrorgefahr festgenommen. Unter den Büchern könnte was Explosives sein.
In den Papiermüll: damit Kartons aus ihnen gemacht werden können. Der Papiermüll wird aber zum größten Teil dem normalen Hausmüll untergemischt, hab mich mal erfahren, damit der Anteil an Brennbarem besser berechenbar ist.
Warum dann nicht zur Papierbank: und noch ein bisschen Geld dafür kriegen? Die Papierbank nimmt nur Papier, keine Pappe, keine Stoff- oder Kunststoffanteile. Das heißt, man muss vorher die Deckel von den Büchern reißen. Die Bücher praktisch skalpieren. Ein barbarischer Akt.
Also in den normalen Hausmüll: Klappe auf, Bücher rein, Klappe zu. Unsere Tonne ist zum Glück groß genug. Der Müll kommt in die Verbrennungsanlage.
Dann kann ich sie aber auch gleich selbst verbrennen: Brennende Bücher, 1933, schauder. Brennen Bücher überhaupt von allein? Wahrscheinlich muss man sie vorher mit Benzin übergießen oder die Seiten auseinanderreißen. Noch barbarischer.

Bücher sind aus Holz gemacht, Holz bindet CO2. Viele Wälder, viel Holz, viel CO2 gebunden: gut gegen Klimaerwärmung. Holz verbauen gut – Holz verheizen schlecht; Bücher verbrennen schlecht, weil das CO2 sinnlos aus dem Papier rausgelassen wird. Besser: Bücher beerdigen. Ich grabe ein Loch im Garten; dort können sie verrotten, das CO2 bleibt im Boden.

Ich stehe nachdenklich vor dem Bücherregal. Soll ich sie wirklich eingraben? Logisch wäre es, aber ist es nicht auch ein bisschen überspannt? Vielleicht fällt mir die Entscheidung leichter, wenn ich mal in eines der Bücher hineinschaue, das habe ich nämlich noch nie gemacht. Ich ziehe den letzten Band: Deutsche Literatur von 1900 bis 1933. 1200 Dünndruck-Seiten, zwei gewebte  Bändchen als Lesezeichen, das ist sinnvoll: eines zum Markieren, wo man ist, eines für Fußnoten und Quellenverzeichnis.

Es stellt sich heraus, 99% des Buches besteht aus Original-Texten. Das sind Anthologien! Das habe ich nicht gewusst: Kurze Texte , Gedichte, Aufsätze von hunderten von Autoren und ein paar Autorinnen. Das Inhaltsverzeichnis teilt sie nach Strömungen auf: Naturalismus, Jahrhundertwende, Traditionalismus, Expressionismus, Zwanziger Jahre, Mythiker und schließlich: der Weg in die Barbarei.

Ich lese das Vorwort von Walther Killy, das aus klugen Überlegungen in wortreichen Sätzen besteht. Göttingen, 1967, das Jahr des Ausbruchs der Kulturrevolte an den deutschen Universitäten. Ich blättere in den Aufsätzen, den Romanauszügen und den Gedichten.

Expressionismus nennt Killy in seiner Einleitung den „sogenannten Expressionismus“ – warum? Weil die Strömung in hochtrabende Programmatik und in die davon unbekümmerte Dichtung zerfällt. Killy zitiert Ludwig Rubiner, einen der Theoretiker, mit dem Satz „Wer ist unser Bruder? Der dies nicht trennt: Schreiben – und: ein Beispiel geben!“ und interpretiert dann etwas lakonisch: „Insofern war auch diese Bewegung sehr deutsch, als sie weder der programmatischen Deklaration noch der Verkündigung entraten wollte.“ („Entraten“ – was für eine feinst gebildete Redewendung!)

Unter den Texten, die der Deklaration und Verkündigung nicht entraten können, finde ich einen Aufsatz von Kasimir Edschmid „Expressionismus in der Dichtung“, verfasst 1917, also vor hundert Jahren. Er schreibt: “Die Welt ist da. Er wäre sinnlos sie zu wiederholen. Sie im letzten Zucken, im eigentlichsten Kern aufzusuchen und neu zu schaffen, das ist die größte Aufgabe der Kunst. (…) Nun ist der Mensch wieder großer, unmittelbarer Gefühle mächtig. (…) Er klügelt sich nicht durch das Leben, er geht hindurch. Er denkt nicht über sich, er erlebt sich. Er schleicht nicht um die Dinge, er fasst sie im Mittelpunkt an.”

Diese Superlative! Dass Edschmid vom “eigentlichsten Kern” redet, zeigt schon, dass er der Sache selbst nicht traut, sonst könnte er das Wort nicht steigern. Als er das schrieb, war er 27 Jahre alt, und Europa brach um und um. Vieleicht ist es das Entsetzen über den Krieg und die Verzweiflung an der Gesellschaft, die ihn hervorgebracht hat, die ehrgeizige Leute zum Glauben an das große, herrliche Eigentliche verführte, das allein schon durch die Kraft des ungebändigten Willen verfügbar gemacht werden könne. (Ich glaube ja das genaue Gegenteil, nämlich dass sich das Innere, der Kern von etwas, wenn es denn überhaupt Sinn macht, davon zu sprechen, gerade durch seine Verstellung, durch seine Verpackung enthüllt.)

Wie weit Edschmids eigener Ausdruck ungebändigt und unmittelbar ist, kann ich nicht herausfinden, ein Gedicht von ihm ist nicht abgedruckt. Aber der Name Edschmid sagt mir was; ein Nachbar heißt so. Es stellt sich heraus, dass er tatsächlich der Enkel dieses Kasimir ist. Nebenbei gesagt hat mich die Tatsache, dass Edschmids Existenz bis in meine Nachbarschaft ragt, auch dazu gebracht, mich mit den gedanklichen Ergüssen und dann auch mit der Geschichte dieses einen Vertreters aus dem ganzen Band zu befassen. In gewisser Weise ist es dann so, als wenn ich selbst in dem Buch vorkommen würde. Es lassen sich sicher noch andere Fäden spinnen, die aus den ausgewählten Texten und den behandelten Themen bis in meine eigene Erfahrungswelt führen. Dem muss man nicht nachgehen, aber man kann es.

Ich hol mir die Leiter und schiebe das Buch in die Lücke zurück.

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