vonImma Luise Harms 29.04.2018

Land Weg

Das Land ist Ressource und Erweiterungsgebiet für die Stadt, aber auch ihre bestimmte Negation. Grund zum Beobachten, Experimentieren und Nachdenken.

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Jedes Jahr im Frühling reite ich mich in das gleiche Dilemma hinein. Es ist ein moralisches Dilemma.

Die Tomatenaufzucht ist das Herzstück unserer gärtnerischen Aktivitäten. Die Galerie von Gläsern mit der selbstgemachten Tomatensoße helfen uns über den Winter, wenn wir keine andere Idee zum Kochen haben.

Tomatenpflanzen werden vorgezogen, und zwar rechtzeitig, damit sie Anfang Mai, wenn die Frostgefahr vorbei ist, gut entwickelt ins überdachte Freie gesetzt werden können.

Im Februar packe ich die Heftchen mit den getrockneten Samen aus dem letzten Jahr aus: Lucchese, unsere beliebte Soßentomate, die Salattomate, die wir unter der Bezeichnung „Große Rote“ weiterkultivieren, dann noch eine Gemüsetomate; ich weiß nicht, woher sie kommt, und außerdem die Cherrytomaten-Pflanze, die wuchert und Rispen bildet und kein Dach braucht.

Die Samen weiche ich ein; sie kommen mir nicht sehr viel vor. Ich finde noch ein Lucchese-Samenheftchen aus dem vorletzten Jahr: besser die auch noch mit dazu nehmen, falls welche nicht aufgehen. Dazu die Großen Roten, die Gemüsetomaten, und, na klar, die Cherry. Als ich die über Nacht gequollenen Samen Reihe für Reihe in die Anzuchterde der Topfpaletten drücke, sind es doch reichlich viele. Eine Palette für jede Sorte. Na, es werden sicher nicht alle aufgehen.

Tun sie aber doch. Im März hat sich aus jedem der kleinen Fächer ein Pflänzchen erhoben. Ich freue mich, denke nicht an die Folgen. Ich wässere vorsichtig und beobachte gerührt, wie sich zwischen den Keimblättern die ersten gezackten Tomatenblätter herausschieben. Das will wachsen, das will leben. Ich gebe Wasser, ich baue in der Wohnung für die Paletten Plätze an der Sonne.

Anfang April wird der Durst der Pflanzen zu groß für die kleinen Anzuchtnäpfchen. Sie brauchen mehr Erde. Und auch andere Erde. Denn die Anzuchterde ist bewusst nährstoffarm. Das ist schwarze Pflanzenpädagogik: Es soll dem Pflanzenkind nicht leicht gemacht werden, es soll sich richtig anstrengen, im Untergrund die wenigen Nährstoffe aufzuspüren und dabei kräftige lange Wurzeln kriegen.

Diese Würzelchen werden jetzt vorsichtig freigelegt und in einzelnen Töpfchen mit humusreicher Erde neu eingepflanzt. Eine Stiege voll Tomatentöpfchen. Noch eine Stiege. Neue Töpfe werden aus dem Keller geholt. Noch eine Tuppe mit Erde aus Kompost und von Maulwurfshügeln wird gebraucht. Der Platzbedarf wächst. Soll ich wirklich alle diese zweihundert Tomatenpflänzchen umtopfen?

Strategische Triage ist das Konzept, wonach von den Hilfebedürftigen vorrangig diejenigen versorgt werden, die die besten Aussichten aufs Durchkommen haben. Das heißt, die besten Aussichten, das einzulösen, was die Hilfegebenden sich von ihrer Hilfe versprechen. Ich gebe Wasser, Licht und Nährstoff und will Tomaten. Aber wenn man nicht bereit ist zu selektieren, gefährdet man das Ergebnis insgesamt. Rettungsboot-Ethik nennt man das. Der Platz im Boot ist begrenzt.

Tomatenpflanzen müssen vor Regen geschützt werden, sonst werden sie von der Phytophthora befallen und siechen dahin. Deswegen müssen sie in ein Tomatenhaus oder wenigstens unters Dach. Gleich, als wir mit dem großen Garten angefangen haben, haben wir ein Toamtenhaus gebaut, dann drei Jahre später unter dem Druck des wachsenden Pflanzenangebotes noch eins. Zusätzlich im letzten Jahr noch einen einfachen Unterstand. Tomatenpflanzen werden, wenn sie gut gedüngt werden und genug Platz haben, groß und stark. Das sollen sie auch; es hat keinen Zweck, sie eng nebeneinander zu quetschen. Wir wollen viele Tomaten ernten und nicht viele Pflanzen unterbringen. 12 Stück passen in jedes Haus, alles andere ist sentimental und kontraproduktiv. Strategische Triage.

Nachdenklich gucke ich auf die etwas zurückgebliebene kleine Pflanze vor mir. Soll ich sie nicht lieber gleich aussortieren? Man sieht doch jetzt schon, dass es viel zu viele sind. Der Überfluss ist ein Überschuss, von vorn herein, Selektion war vorgesehen. Aber wie? Die besten, kräftigsten kommen weiter, wie im richtigen Leben. Ich sehe die schmächtigen Blättchen und die zarten Wurzeln, die sich aber zukunftsfroh bis an die Wände ihrer Anzuchtzellen herangearbeitet haben. Ich bringe es nicht übers Herz, diesem Lebenswillen ein Ende zu setzen. Das einzelne Lebewesen ist von einem unvergleichbaren eigenen Wert. Auch die Schmächtige kommt in einen neuen Topf, in der vagen Vorstellung, dass gerade daraus mal die Kräftigste und Größte wird.

So geht es weiter. Eine unübersehbare Menge an Tomatentöpfe, die die Plätze vor sämtlichen Fenstern einnehmen. Nächste Phase: sie müssen angebunden werden. Alle natürlich, denn die Stiegen mit den Töpfen kommen bei Sonnenschein ins Freie und die Pflanzen sollen vom Wind nicht geknickt werden. Ich verbringe Stunden mit Anpflocken und Beschriften. Die Frage, wie ich den Überschuss loswerde, ohne für das Sterben der Pflanzen verantwortlich zu sein, schiebe ich nach hinten.

Die Stiegen mit den Töpfen müssen gewässert werden, müssen raus und dann wieder rein. Das jeden Tag. Die Pflanzen sind dankbar, entwickeln sich, schießen in die Höhe. Um nicht dauernd gießen zu müssen, muss ich in größere Töpfe umsetzen. Jetzt aber wirklich nur noch die, die auch in die Häuser reinpassen. Drei Häuser, also 36 Stück; na, sagen wir 40; oder gut: 45, ein paar als Reserve! Und 10, na gut: 15 fürs Freiland. Den Rest an kleinen Töpfen wässere und transportiere ich zwar weiter, gleichzeitig wird die Suche nach AbnehmerInnen intensiver.  Wem könnte ich noch Tomatenpflanzen schenken? Ich frage rum und biete an. Aber alle GärtnerInnen meiner Umgebung haben ein ähnliches Problem. Ein Stiege nehme ich mit auf den Pflanzen-Verschenkemarkt ins Oderbruch. Dort finden die Töpfchen sofort AbnehmerInnen; ich hätte mehr mitnehmen sollen.

Die nächste Gelegenheit wäre der Reichenower Verschenkemarkt, der ist aber erst in anderthalb Wochen; bis dahin muss ich die Pflanzenmenge mit durchfüttern. Allen BesucherInnen nötige ich jetzt Tomatenpflanzen auf. Vor dem Schloss stelle ich eine Stiege mit der Aufschrift „zum Verschenken“ auf. Das wird aber wenig genützt; die SchlossbesucherInnen wollen Spazierengehen und Kaffeetrinken.

Jetzt kommt die Phase, wo ich die Pflanzen auch unerfahrenen oder leichtfertigen GartenfreundInnen unterjubele, von denen ich annehmen muss, dass sie nicht regelmäßig gießen werden; oder ich verschweige, dass die Pflanzen vor Regen geschützt werden müssen, oder rede ihren Platzbedarf klein. Noch immer sind dreißig Töpfchen übrig. C. nimmt alle Freilandtomaten mit. Noch zwanzig. Ich werden nachlässig darin, sie feucht zu halten. Ich stelle sie etwas abseits neben das Haus, ich vergesse am Abend, sie hereinzuholen. Ich hoffe auf einen Nachtfrost…

Triage heißt nicht: töten, sondern nur: nicht helfen. „Tut mir leid“, sage ich schuldbewusst zu den eingetrockneten Pflanzen, wenn ich Ende Mai die Aufzucht-Töpfe ausleere und wegräume. „Ihr kommt auf den Kompost, da werdet ihr zu Biomasse und helft den nächsten Pflanzen zu wachsen!“

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https://blogs.taz.de/jottwehdeh/2018/04/29/tomaten-triage/

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