vonImma Luise Harms 30.05.2022

Land Weg

Das Land ist Ressource und Erweiterungsgebiet für die Stadt, aber auch ihre bestimmte Negation. Grund zum Beobachten, Experimentieren und Nachdenken.

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Heute wieder keine taz gekommen. Auch keine MOZ, die Märkische Oderzeitung mit dem Lokalteil für unsere Region. Der Zeitungsbote bringt beides zusammen. Wenn er kommt. Mein Mitbewohner und ich greifen seufzend zu den Laptops und machen die digitalen taz-Ausgaben auf, was nicht dasselbe ist. Vor zwölf Jahren habe ich darüber geschrieben, wie mein Nachbar und ich an der Zeitungsröhre vor meiner Tür zusammentreffen und nach ein und derselben Zeitung greifen. Die stets verfügbare pdf-Zeitung war kein guter Ersatz, was ich ausgiebig analysiert habe.

Inzwischen ist erstens mein Nachbar mein Mitbewohner geworden, und zweitens gibt es eine digi-taz, die ihre Inhalte übersichtlich auf das kleinste Smartphone-Format runterbrechen kann. Wer mir was und warum erzählen will, wird dabei noch undurchsichtiger, aber das soll hier nicht mein Thema sein.

Der MOZ-Austräger oder die Austrägerin bringt also die taz mit. Und am Freitag und Samstag auch noch die Süddeutsche. Aber das ist falsch. Die Süddeutsche Wochenendausgabe haben nicht wir abonniert, sondern zwei Nachbarinnen, mit denen ich inzwischen verfeindet bin. Ich will sie nicht mehr sehen, auch ihre Zeitung nicht. Ich will auch nicht Zeitungs-Zustellungs-Probleme mit ihnen besprechen. Und nun sind wir bei den Vertriebsproblemen.

Mein Mitbewohner hat den Bezug der MOZ initiiert, weil wir Interessen in der Region verfolgen und die natürlich in der taz nicht vorkommen. Er ist es auch, der mit dem Vertrieb kommuniziert, wenn etwas nicht funktioniert. Es macht ihm nichts, wenn die Zeitung nicht kommt. Dann ruft er bei der MOZ an und freut sich jedes Mal wieder über die erschrockene, Anteil nehmende Reaktion der Mitarbeiterin. Per Email kommt anschließend sofort das pdf der aktuellen Ausgabe (wieder das schwer lesbare pdf!) und es wird um Verständnis für Urlaubs-, Krankheits-, oder allgemein Personal-Probleme gebeten. Ja sicher haben wir Verständnis für die Menschen in den schlecht bezahlten, prekären Arbeitsverhältnissen! Aber unsere Zeitungen hätten wir doch gern, und wenns geht, auch zum Frühstück.

Mal kommt die taz, aber die MOZ nicht, mal umgekehrt. Dann bin ich zuständig, weil das mein Freiabo ist. Dieser Fall ist noch schwieriger, weil die taz keinen direkten Zugang zum MOZ-Vertrieb hat. Ich habe schon Zeichnungen hingeschickt, wo genau sich unsere Haustür und unsere Zeitungsröhre befindet, damit sich der mal wieder ausgewechselte Bote oder die gerade aktive Vertretung orientieren kann. Die Zeichnung schickt die taz an die MOZ und diese instruiert den jeweiligen Zusteller. Bis das angekommen ist, ist der Bote oder die Botin schon wieder eine andere.

Noch schwieriger ist es mit der Falschauslieferung der Süddeutschen. Sie gehört ins Büro des Gutshofes. Dort holen sich C. und B. ihre Wochenend-Ausgabe ab. Dort gibt es aber keine Zeitungsröhre; die BotInnen müssten beherzt die Tür aufmachen und die Zeitung ablegen. J., unser Nachbar zur Rechten, hätte eine Zeitungsröhre, auf der sogar „Süddeutsche Zeitung“ steht, die er allerdings schon längst nicht mehr bezieht. Warum landet die unbestellte Ausgabe nicht dort? Dann bliebe die Weiterverteilungs-Aufgabe an ihm hängen!

Der Vertrieb der MOZ erklärt sich für dieses Problem als nicht zuständig; das müsse über den Vertrieb der Süddeutschen geklärt werden. Und das können nur C. und B. selbst tun. Mit denen rede ich aber nicht! Eine fette Aufschrift auf unserer Zeitungsröhre „Hier KEINE Süddeutsche“ hat nichts bewirkt. Mein Mitbewohner meint, dass die das nicht sehen, weil es ja beim Zeitungs-Ausfahren noch dunkel ist. Das kann aber nicht stimmen. Erstens kommt sie, je nach Austräger oft auch erst bei helllichtem Tage, zweitens fängt der helllichte Tag in den Frühlings- und Sommermonaten bereits zu nachtschlafender Zeit an. Will es sich der Bote einfach bequem machen und denkt: Hauptsache, ausgetragen?

Auf diese Erklärung deutet die Tatsache, dass phasenweise unsere MOZ bei einem befreundeten Nachbarn zwei Straßen weiter abgeworfen wird, in dem Fall mit der „Jungen Welt“ zusammen.

Ich ärgere mich und finde, man sollte der MOZ mit Abbestellung drohen und die blöde Süddeutsche von C. und B. würde ich einfach vor der Tür liegen lassen. Mein Mitbewohner sieht das anders. Warum? Er ist katholisch!

Als 12-Jährige sitze ich auf dem Ast einer hohen Fichte. Neben mir ein Junge mit blondem Haar und Ferien-brauner Haut. Eigentlich sitzt er nicht neben mir, sondern auf einem Ast auf der anderen Seite des Stammes. Beim Festhalten berühren sich unsere Hände. Ein Schauer erfasst mich; ich sitze ganz still. Wir reden da oben ein bisschen über dies und das, über unsere Familien, die als kinderreiche eine Reise zum österreichischen Dachsteingebirge finanziert gekriegt haben, darüber, wie wir das alles hier finden, wer doof ist und wer eigentlich ganz nett. Beklommen und doch ganz nah ist das Gefühl. Geschützt durch das Hindernis zwischen uns, sind wir zueinander hingezogen.

Als wir irgendwann wieder herunterklettern, fühle ich mich mit dem blonden Jungen verbunden, ihm versprochen, schon fast verlobt. Die Stationen, die in den Hafen der Ehe führen, waren mir aus meiner Mädchenbücher-Lektüre bekannt, die Bedeutung des Wortes „verliebt“ allerdings noch nicht so ganz klar. Später erfuhr ich, dass die Familie des Jungen, und also auch er selbst, katholisch war. Das stürzte mich in Verzweiflung. Eine Verbindung würde es nicht geben. Wenn eine Evangelische einen Katholiken heiratet, gibt das Unglück, das kann nicht gut gehen, hatte ich von meiner zutiefst gläubigen Verwandtschaft gelernt und übernommen.

Ich war im evangelischen Glauben erzogen, fühlte mich aber als Kind, also noch ein paar Jahre vor dem Fichten-Abenteuer, mächtig zu den dunkel-duftenden katholischen Gotteshäusern hingezogen. Heimlich schlich ich mit meiner Freundin Donata hinein. Wir spielten „katholisch“, knieten uns hin, bekreuzigten uns und legten die Hände nach Art der Katholiken zusammen. Ein wohlig-sündiges Gefühl. Zuhause spielten wir hinter einem Vorhang „Beichtstuhl“, ohne recht zu wissen, was man denn überhaupt beichtet. Auf jeden Fall musste es etwas Verbotenes sein und man musste dabei Reue empfinden. Die Rolle des  Priesters spielten wir nicht. Die Bedeutung des Lossprechens war uns nicht klar. Wir wollten immer nur beichten. Knien, Beichten, Bekreuzigen – das gab es im evangelischen Kindergottesdienst nicht. In der kirchlichen Unterweisung wurden die zehn Gebote und ihre Umsetzung in unseren Alltag eingebimst, und allenfalls gesungen.

Die Prinzipien, die mir eingeimpft wurden – Aufrichtigkeit, Verantwortung, Gerechtigkeitsempfinden, Bekenntnisbereitschaft – wendeten sich dann bald gegen die Institution, die sie mir verabreicht hatte. Ich verließ die kirchliche Gemeinschaft, und der Glaube an einen omnipräsenten Gott verließ mich. So ging es den meisten meiner Generation. Nachdem sie eine Phase der Jugendtümelei, mit der die Kirchen sich zu modernisieren und attraktiver zu machen versuchten, durchlebt und abgestreift hatten, wurde ihnen, also uns, die ehemalige Konfession herzlich gleichgültig. Man verlor kaum noch ein Wort darüber.

Als ich vor dreißig Jahren meinen jetzigen Mitbewohner kennenlernte, fand ich seine katholische Vorgeschichte – Messdiener und andere kirchliche und elterliche Zwangsmaßnahmen – halb exotisch, halb bemitleidenswert. Natürlich spielte das nur noch biografisch eine Rolle.

Da hatte ich mich aber getäuscht! Es gibt sowas wie eine deformation confessionelle – bei ihm und bei mir. Das hat sich im Laufe der langen Jahre unseres Zusammenseins immer wieder gezeigt. Ich habe den Hang zum Bekenntnis und werde durch meinen Hunger nach Gerechtigkeit und durch die Unfähigkeit zu lügen in die schlimmsten Konflikte hineingetrieben. T., also mein Mitbewohner,  bevorzugt den Weg der Demut und des Nachgebens. Kleine Retuschen in dargestellten Fakten  gelingen ihm ohne Probleme, aber an etwas Schuld zu sein, ist ihm das größte Gräuel. Ungerechtigkeiten anderer kann er gut ertragen; dazu die Demut.  Mir scheint es manchmal – aber das ist natürlich meine protestantisch verkürzte Katholikenkritik! – dass er durch seine an Unterwürfigkeit grenzende Demut andere gern ins Unrecht setzt, also die Rolle des Opfers ihm ein gewisses Behagen beschert. Nun ja, Beziehungsprobleme halt. Ich will auch nicht in die Rolle der Täterin gedrängt werden, möchte nicht als egoistisch, rechthaberisch, kleinkariert dastehen!

Dastehen, vor wem denn eigentlich? Wer ist die Instanz, vor deren Richterstuhl wir uns gegenseitig zerren? Gottes donnerndes Wort hallt ein Leben lang in uns nach; wir nennen es Gewissen. Es zwingt uns, so zu handeln, wie wir es tun, oder zu leiden, wenn wir es nicht tun.

Nun zurück zur Zeitung. Ich finde es ein Unding, C. und B., so schäbig, wie sie sich mir gegenüber verhalten haben, auch noch die Zeitung zu bringen. Das ist ja fast so, als wäre ich die Schuldige und nicht sie! T., der sich weniger direkt betroffen fühlt, trägt ihnen die Zeitung nach, zum Zeichen, dass er ihnen nichts nachträgt! Vergebet euern Schuldigern! Ob ich sie, die Süddeutsche, wirklich im Regen liegen lassen würde, wenn er diesen Gang nicht auf sich nähme, kann ich nicht sagen; da bin ich mir, ehrlich gesagt, nicht sicher. Das käme wohl darauf an, wie ich die daraus erwachsenden Konflikte einschätzen würde.

T. jedenfalls ist der Gute Zeitungshirte. Die einen – Süddeutsche – sortiert er aus und bringt sind nach Hause, die anderen – die MOZ beim Nachbarn F. – holt er heim. Auf die dritten – die taz an schlechten Tagen – wartet er geduldig. Es ist ein Rollenspiel, das ihm offensichtlich Freude macht. Und jeder Gang birgt die Möglichkeit einer Begegnung und Kommunikation in sich; davon leben wir doch. Wer auf seinem Recht besteht, bockt und blockt, isoliert sich leicht. Vielleicht gibt es auch sowas wie kluge Demut, die sich nicht zu schämen braucht?

Ab übermorgen gibt es übrigens keine gedruckte taz mehr für uns. Der Verlag spart und fängt mit den Freiabo-BezieherInnen an. Na, sei‘s drum. Ich lese sie eh nicht mehr gern. Zu wenig Nachrichten, zu viel Meinungsberatung. Und ein Vertriebsproblem weniger

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