Ich halte ständig Ausschau nach skurrilen Themen von Dorf und Provinz, um die metropolitanen LeserInnen dieser Rubrik zu unterhalten. Dabei stolpere ich über die einzelnen Anlässe und falle bei der Suche nach den inneren Zusammenhängen doch oft ins Allgemeine. So wird auch dies wieder eine eher grundsätzliche Betrachtung.
Nora musste ihren Wohnzusammenhang verlassen. Sie hat mit dem Teufel getanzt, zu einer Demonstration aufgerufen, ohne zu bedenken, dass rechte Gruppierungen das auch tun, und sie hat ihre Umgebung mit abenteuerlichen Theorien über politische und ökonomische Zusammenhänge, sogenannte Verschwörungstheorien, herausgefordert. Daraufhin bildete sich ein anti-Nora-Komitee; es wurden Unterschriftenlisten herumgereicht, offene Briefe verfasst, persönliche Mails voller Abscheu verschickt, bis sich Nora von sich aus nach einer anderen Bleibe umgesehen hat.
Auch das Nora eher freundlich gesinnte Umfeld bekam etwas ab. Manche, die nicht öffentlich Stellung bezogen hatten, gerieten ins Visier oder jedenfalls in Verdacht, sich durch Verharmlosung mitschuldig zu machen. Die Verdächtigten, so unterschiedlich sie auch waren, zogen sich unter dem Druck stärker zusammen, und es entstand auch hier eine Homogenisierung der Meinungen, zumindest der Meinungen über “die andere Seite“. So bildeten sich zwei Lager, die sich nur noch eisig begegnen und intern ihr Feindbild pflegen. Nora hat einen neuen Lebenszusammenhang gefunden, wo sie unter ähnlich Denkenden besser gebettet ist.
Die starke Polarisierung in dem kleinen Soziotop ist symptomatisch für das, was seit zwei Jahren im Gefolge der Corona-Pandemie und den gegen sie gerichteten Maßnahmen in allen Ecken und Enden der Gesellschaft passiert. Wir haben alle solche Geschichten gehört oder waren selbst verwickelt − in Nachbarschaften, Freundschaften, sogar Familien. Man ist sich plötzlich spinnefeind und rätselt, wie die oder der Andere so eine bescheuerte, ja gefährliche Haltung einnehmen kann.
Ganz besonders krass hat die Polarisierung linke, aufgeklärte, kritische Zusammenhänge getroffen. Hier scheint eine ambivalente oder auch gleichgültige Haltung absolut unmöglich. Das Gefühl der gewaltigen Bedrohung richtet sich entweder gegen die Pharmakonzerne und alles, was daran hängt, inklusive Politik, Wissenschaft und Finanziers, oder gegen die Rechts-Entwicklung in der deutschen Gesellschaft, die im Schlagschatten der Corona-Maßnahmen-Kritik in alle gesellschaftlichen Poren dringt. Und in beiden Perspektiven steht man mit Entsetzen vor den Vertreterinnen der anderen Fraktion und versteht nicht, wie die sich so unkritisch vor den Karren der feindlichen Kräfte haben spannen lassen. Oder sind sie selbst gar zu FeindInnen geworden und müssen bekämpft werden? Denn es geht aus beiden Perspektiven ums Ganze: um die Verhinderung der Zerstörung unseres gesellschaftlichen Zusammenhalts.
Das Verblüffende ist, dass – zumindest aus meiner Sicht – kaum vorhersehbar war, wer sich welcher Richtung zuwendet. Das Ganze gleicht einem Sandstrahl, der auf eine Messerschneide trifft, und es scheint reiner Zufall, we lches Korn zu welcher Seite geschlagen wird. Jetzt, nach zwei, fast drei Jahren an Zerwürfnissen, gibt es Aufarbeitungsversuche, runde Tische zum offenen Austausch und Ermahnungen, zum gesitteten Ton zurückzukehren. Ich lese diese Versuche aber meist als einen kaum verhohlenen Versuch, die jeweils andere Seite zum Einlenken, zur Einsicht zu bewegen, jedenfalls die krasse Konfrontation aufzugeben. Bisher habe ich noch kaum gehört, dass jemand Zweifel an seiner damals bezogenen eigenen Position zugegeben hätte.
Ich habe mich, so gut ich konnte, gegen eine Vereindeutigung meiner Mutmaßungen und Zweifel gesträubt, mit dem Ergebnis, dass ich von beiden Seiten misstrauisch betrachtet werde. Und ich war auch selbst nicht von meinem Seiltanz zwischen den Meinungen überzeugt, konnte ihn nur um den Preis innerer Widersprüchlichkeiten oder der Selbstzensur aufrecht erhalten. Aber das geht auf die Dauer natürlich nicht – nicht für mich. Ich brauche eine Erklärung für diese Überzeugungsdichotomie. Hier ist ein Versuch.
Es ist wohl kaum zu bezweifeln, dass es in der nationalen und internationalen Wirtschaft so etwas wie strategische Absprachen zur Erzielung von ökonomischen Vorteilen gibt. Wenn sie auf der systematischen Täuschung oder zumindest Benachteiligung anderer beruhen bzw. illegal sind, sind sie im allgemeinen auch geheim, sonst ließe sich der Vorteil schwer realisieren. Der Begriff „Verschwörung“ beschreibt diese fast normalen Vorgänge in den ökonomischen Beziehungen vielleicht etwas hochtrabend. Aber nichts anderes sind sie.
Es ist ebenso kaum zu bezweifeln, dass immer wieder MandatsträgerInnen in solche Machenschaften verwickelt sind und durch geheime strategische Absprachen ihre eigenen Vorteile zu sichern oder ihre politischen Absichten durchsetzen. Es gibt sie, die korrupten PolitikerInnen, daran kann kein Zweifel bestehen. Und es gibt sie auch, die politischen Verschwörungen. In seltenen Fällen gibt es hieb- und stichfeste Beweise wie bei Watergate, Irak-Krieg, Dieselskandal, Cum-Ex-Geschäften, Masken-Deals. Dann werden schuldige „schwarze Schafe“ gefunden, abgestraft und aussortiert und das System erscheint als gereinigt.
In den allermeisten Fällen bleibt es beim Verdacht, der sich nicht gerichtsfest erhärten lässt: Welche Wahlen waren von wem manipuliert? Hat Russland Trump nach oben geschoben? Hat Trump den Sturm aufs Kapitol zu verantworten? Was wusste Olaf Scholz wirklich von den Cum-Ex-Geschäften? War das Verschleudern ostdeutscher Betriebe an westliche Unternehmen in den 90er Jahren eine politisch-ökonomische Notwendigkeit oder Ergebnis von korrupten Verschwörungen gigantischen Ausmaßes? Ist es ein bedauerlicher Rechenfehler, wenn der deutsche Gesundheitsminister eine achtfache Menge an Impfstoff einkauft, als es überhaupt BundesbürgerInnen gibt? Haben die USA Nordstream2 sabotiert? Oder hat Russland die Pipeline zerstört, um es den USA in die Schuhe schieben zu können? Oder haben die USA den Sabotageakt begangen, um Russland in die Schuhe zu schieben, dass sie versuchen, die USA dafür verantwortlich zu machen…? Alles ist denkbar.
Sind Verschwörungen und Korruption die Ausnahme in einem sonst sauber funktionierenden System? Oder sind sie die Regel, und die ihrem Amt verpflichteten PolitikerInnen, die fairen Geschäftsleute, die aufrichtigen JournalistInnen und die verantwortungsbewussten WissenschaftlerInnen sind leider die Ausnahme, die im korrupten Gesamtsystem wenig ausrichten können? Wir wissen es nicht, wir können es nicht wissen, wir sind gezwungen, das eine oder andere anzunehmen, einfach zu glauben. Und das ist genau die Messerschneide, die in den letzten Jahren und Monaten (auch durch den Ukraine-Krieg) diese unerhörte Schärfe bekommen hat, dass sie die Gesellschaft spaltet.
Warum ist es so schwer, sich in den nicht entscheidbaren Fragen offen zu halten? Es gibt zwei Gründe, die sich gegenseitig verstärken. Der eine ist: Man kann zwischen Vertrauen und Misstrauen in die maßgeblichen Kräfte unserer Gesellschaft nicht einfach hin und her wechseln, weil sie zwei gänzlich unterschiedliche Welten eröffnen. Wenn ich Korruption und geheime strategische Absprachen für den Normalfall halte, unterstelle ich Verschwörungen auch in anderen Fällen, in denen ich auf nicht erklärbare Ereignisse und widersprüchliche Fakten stoße .
Solche Vorannahmen als Verschwörungstheorien zu bezeichnen übersieht, dass wir Menschen grundsätzlich nach Erklärungen für Phänomene suchen, von denen wir uns bedroht fühlen, in der Hoffnung, dadurch die Bedrohung besser beherrschen zu können. Diesen Annahmen folgen in der Regel Nachforschungen, die sie entweder bestätigen oder widerlegen. Faktencheck wird das gegenwärtig genannt. Was ist aber, wenn ich mit den Möglichkeiten einer einfachen Bürge rin die Fakten nicht checken kann? Ich muss mich mit den Annahmen begnügen, eben glauben bzw. denen vertrauen, denen zu vertrauen ich mich halt entschieden habe.
Umgekehrt, wenn ich Korruption, Machtmissbrauch und hinterhältige strategische Absprachen auf der politisch-ökonomischen Bühne für die Ausnahme halte, werde ich selbst verdächtigen oder widersprüchlichen Fakten mit einer unerschütterlichen Vertrauensbereitschaft begegnen . Ich gehe davon aus, dass sie halt auf Verleumdungen oder einem verzerrten Bild beruhen. Ich werde die Annahme von systematischen Zusammenhängen dabei für Unsinn erklären und die Verbreitung von Verschwörungserzählungen darüber ihrerseits für eine Verschwörung halten, für böswillige Unterstellungen oder mindestens für gefährlichen Blödsinn.
Der zweite Grund liegt im Unterschied zwischen einer Meinung und einer Überzeugung. Die zugehörigen Verben verweisen schon auf den Unterschied: „etwas meinen“ ist aktivisch formuliert; „von etwas überzeugt sein“ setzt die überzeugte Person ins Passiv . Eine Meinung trage ich vor, treffe auf andere Meinungen, ich ändere, modifiziere oder behalte meine Meinung. Eine Überzeugung wächst wie eine zweite Haut um mich; sie verbindet meine einzelnen Meinungen, Beobachtungen und Erfahrungen zu in sich schlüssigen Vorannahmen, die die Grundlage für die Interpretation auch der bisher mir nicht verständlichen Einzelphänomene wird. Die Überzeugung wird zu einer Grundhaltung und dirigiert mein Handeln da, wo ich keine konkreten Anhaltspunkte für dessen Richtigkeit habe . Es ist ihre eigentliche Funktion, mir in unklaren Situationen Orientierung zu geben und dafür zu sorgen, dass ich nicht in Widerspruch zu meinen bisherigen Meinungen und Verhaltensweisen gerate (und zu denen des von mir geteilten sozialen Zusammenhangs!)
Interessant ist der Unterschied im Subjekt der grammatischen Konstruktion der Überzeugung: Wenn ich mich von etwas überzeuge, dann überprüfe ich die Fakten zu einer von mir gefassten Meinung. Die Meinung bekommt so den Charakter von Wissen. Wenn jemand mich überzeugt, dann übernehme ich deren/dessen Interpretationsschema zu Fakten, mit denen ich konfrontiert bin, weil er/sie mir einen schlüssigen Zusammenhang anbietet, den ich nicht selbst überprüfen kann oder will. Hier wird das Überzeugt-sein gleichbedeutend mit glauben . Glauben heißt, nicht wissen, sagt man. Tatsächlich bedeutet Glauben aber, Annahmen so zu behandeln, als seien sie Wissen.
Von außen betrachtet, wird die Überzeugung oft als Gesinnung bezeichnet, was noch ein Stück essentieller klingt, noch stärker an meine Person als Ganzes gebunden ist. Und Menschen mit gleicher oder ähnlicher Überzeugung werden entsprechend Gesinnungsgemeinschaften genannt, was eine distanzierende, leicht abwertende Bezeichnung ist.
Die Überzeugung ist nicht so leicht zu wechseln wie die Meinung. Je länger ich von ihr bestimmt bin, desto mehr wird sie ein Teil meiner Identität. Ich bin für sie eingetreten auch in Situationen, in denen ich keine Chance hatte, mich der Wahrheit meiner eigenen Argumente zu vergewissern. Ich werde von anderen mit ihr identifiziert und springe meinerseits anderen bei, die wegen dieser uns gemeinsamen Überzeugung angegriffen werd en.
Deswegen wird ein Angriff auf die Überzeugung einer Person zu einem Angriff gegen sie selbst, den sie nicht stehenlassen kann. Selbst ein einfacher Widerspruch gegen ein geäußertes Argument wird auf dieser Folie zu einer Herausforderung, die zurückgewiesen werden muss. Das Recht-haben bekommt den Charakter von Selbst-richtig-sein.
In den großen Fragen, die das beschriebene Spaltungspotential entfaltet haben, der Corona-Pandemie und dem Ukraine-Krieg, ist aber an überprüfbare Fakten nicht heranzukommen. Ich kann in Berichten den angegebenen Quellen nachgehen, aber auch diese Quellen kann ich nicht bis zu ihrem Ursprung zurückverfolgen und überprüfen; ich halte sie entweder für glaubwürdig oder nicht. Meine schon fest mit mir verwachsene Überzeugung weist mir den Weg, wem ich zu glauben bereit bin. In den Corona-Fragen marschieren WissenschaftlerInnen gegen WissenschaftlerInnen auf. Was den Ukraine-Krieg betrifft, ist ja klar, dass Desinformation ein Teil der Kriegsführung ist – auf beiden Seiten natürlich.
Aus dem Ganzen folgt, dass ich ohne Vorannahmen, also ohne Überzeugungen , mit denen ich das Gehörte bewerte und einordne, in diesen Fragen orientierungslos in der Gegend rumstehe. Weil die Fragen aber nicht irgendwo im politischen Raum herumwabern, sondern sich ganz konkret in meinem Alltag niederschlagen, in dem mir eine Haltung abverlangt wird, ist Neutralität aus Verwirrung nicht möglich. Wenn ich nicht „ja“ sage, bin ich halt eine Nein-Sagerin. Wenn ich nicht „nein“ sage, bin ich folglich eine Ja-Sagerin.
Ich – und jetzt spreche ich von mir nicht mehr als hypothetischer Person – kann mich aber für keine der beiden Seiten entscheiden, weil beide Perspektiven mit schweren inneren Widersprüchen behaftet sind, die systematisch ausgeblendet werden.
Zum Beispiel die Haltung zur Corona-Politik. Die BefürworterInnen der staatlichen Maßnahmen, die ja auch die Zusammenarbeit zwischen Politik, Pharma-Industrie und Wissenschaft vertrauenswürdig finden, können nicht erklären, warum gerade dieser Komplex von Korruption und hinterhältigen strategischen Absprachen frei sein sollte, wo es doch genügend erwiesene Fälle für solche Machenschaften gibt. Warum sollte ausgerechnet hier von weißen Westen ausgegangen werden?
Die GegnerInnen, die nicht ohne Grund solche Machenschaften für möglich halten und finden, dass alles darauf hindeutet, berufen sich in ihrer Kritik auf Erkenntnisse und Aussagen der wissenschaftlichen Gegenöffentlichkeit, wobei sie gleichzeitig die Aussagen von WissenschaftlerInnen, die die Maßnahmen befürworten, unter Generalverdacht stellen. Die GegnerInnen können nicht sagen, warum sie den einen WissenschaftlerInnen vertrauen, den anderen nicht.
Mit der Positionierung zum Ukraine-Krieg verhält es sich ähnlich. Es gibt genügend, wirklich übermäßig viele Gründe, allen Beteiligten zu misstrauen, ihnen geheime strategische Pläne zu unterstellen: Der USA und Großbritannien, der NATO, der scheinheiligen Bundesregierung, der korrupten Machtelite und den nationalistischen Kräften in der Ukraine. Aber nicht weniger dem expansiven, imperialen, machthungrigen, autoritären bis totalitären Putin-Regime. Im Grunde stehen sich zwei Regierungsweisen gegenüber, die zukünftig die Regierungen in der Welt bestimmen werden: Die autoritäre, offen disziplinierende, auf Nationalstolz und Führerkult setzende moderne Diktatur. Und die geführte Demokratie, die, wo es geht, mit sanfter Hand und unter Zuhilfenahme von Meinungsforschung und Medien die öffentliche Meinung in die gewünschte Richtung drängt. In beiden Fällen bedeutet es: die Herrschenden setzen ihre Interessen durch, das Volk hat nichts zu sagen.
Ich habe weit ausgeholt, um die Feindseligkeiten in dem am Anfang beschriebenen kleinen Soziotop besser zu verstehen. Was ist dabei herausgekommen?
Die Zufälligkeit der Aufspaltung: für eine linke Haltung ist sowohl das Vordringen rechter Positionen als auch die strategische Indienstnahme von Politik, Medien und Wissenschaft durch das Kapital ein Alarmsignal, das dazu nötigt, sich zu verhalten .
Die Unversöhnlichkeit der Lager: Weil es hier nicht mehr um Meinungen , sondern um Überzeugungen geht, wird jeder Einwand zum Angriff auf die ganze Person und wird durch Diskreditierung der Kritisierenden beantwortet.
Die Unmöglichkeit, sich reflektiert für eines der Überzeugungs-Lager zu entscheiden: Die Positionen sind nicht konsistent; sie sind nur um den Preis der Verdrängung ihrer inneren Widersprüchlichkeit aufrecht zu erhalten. Diese notwendige Verdrängung der eigenen Zweifel führt zu verschärfter Aggression gegen Kritik.
Nun habe ich mich wieder in eine regelrechte Aporie reingeschrieben. War es das wert? Hilft mir (oder sonst jemandem) das irgendwie weiter? Ich weiß es nicht.
Änderungen, um von Überzeugungs-basierten feindseligen Wortgefechten zu Meinungs-basierten produktiven Auseinandersetzungen zurückzukommen, fangen vielleicht im Kleinen an. Das Eingeständnis der Widersprüche in der eigenen Position könnte dabei hilfreich sein.
Im Zweifel für den Zweifel − ein Kommentar
Ich habe das Gefühl, dass du die zwei Komponenten und ihr Zusammenspiel noch nicht so 100pro auf den Punkt gebracht hast – ob das nun der Punkt oder nur mein Punkt ist, lasse ich mal dahingestellt:
- den Zweifel und die immer geringer werdende Fähigkeit, ihn auszuhalten → geringe Frustrationstoleranz
- und den sozialen Druck, der sich im Inneren des Einzelnen als Suche nach Identität darstellt (ich hasse diesen Begriff und würde ihn nie verwenden!) und der in der Lage ist, (fast) jede Überzeugung zu zerstören.
Der soziale Druck entsteht dadurch, dass jeder seine eigenen Zweifel dadurch im Griff halten will, dass er sie anderen zuschreibt. Diese anderen bringen ihn dadurch in Gefahr, dass sie dieselben Zweifel wie er haben, sie dadurch verstärken könnten oder wiederum ihm die Schuld an ihrer eigenen Unsicherheit geben wollen. (So ähnlich klingt es bei dir, wenn du sagst, dass du von anderen mit deiner Überzeugung identifiziert wirst.) So stabilisieren sich die Zweifel gegenseitig, nur durch Ausgrenzung der wirklich schweren Abweichler sind sie zu bändigen. Hat man diese erfolgreich ausgeschlossen, kann man sich den feineren Unterschieden zuwenden und die weniger gefährlichen weiter stigmatisieren. So kommt es im Endeffekt zu immer kleinräumigeren „Identitäten“, in und an denen kein Zweifel mehr erlaubt und auch kaum möglich ist, weil sich alle in der ihnen eigenen Welt befinden, in der es keine Zweifler mehr gibt. Das Problem dabei ist, dass dadurch die Zweifel natürlich nicht beseitigt sind, sondern nur ausgelagert – externalisiert. Die eine Seite des Zweifels wird den/dem Fremden zugeordnet, die andere Seite wird zur „Identität“.
Die Zweifel können jederzeit wieder virulent werden und führen dann zu Gewaltausbrüchen, da es keine direkten Opfer mehr gibt, die ausgegrenzt werden können. Dann wendet sich die Gewalt gegen alles Mögliche, was gerade zur Hand ist und überhaupt nichts mehr mit den eigenen Unsicherheiten und Zweifeln zu tun haben muss, oder lässt sich von Populisten und Demagogen für sie selbst instrumentalisieren.
Du siehst schon, dass ich diese beiden Komponenten – Zweifel und sozialer Druck – als so innig miteinander verknüpft sehe, dass mir ein Ausstieg aus diesen mit Überdruck gefüllten Identitätenkesseln nur mit extrem großem Zwang oder mit ebenso extrem großer Einsicht möglich erscheint – das erstere scheint sich gerade durchzusetzen. Ist in deinen Augen die Meinung ein Mittel dazu, wieder zweifeln zu lernen?
Ich denke in diesem Zusammenhang auch, dass im Wissenschaftsbetrieb die Kunst des Zweifelns viel zu wenig gepflegt wird und statt dessen der Konformitätsdruck wächst. Schließlich liegt es im Wesen der Wissenschaft, unvollkommen zu sein und immer den Weg, auf dem man zu Erkenntnissen kommt, mitzudenken, so dass die Erkenntnis selbst sowohl durch die Realität als auch durch neue Wege immer in Frage gestellt werden kann, wird und muss. Auf lange Sicht zerstört die Wissenschaft ihre eigenen Grundlagen, wenn sie es nicht schafft, den Zweifel zu kultivieren – ebenso wie die Demokratie.
In den Wirtschaftswissenschaften hat Daniel Kahneman einen Nobelpreis dafür bekommen, dass er den homo ökonomikus in Frage stellt („Schnelles Denken, langsames Denken“ heißt das Buch, in dem er das erklärt). Die traditionelle Wissenschaft nimmt damit die Voraussetzungen der Marktwirtschaft selbst aufs Korn. (Ich glaube allerdings nicht, dass Kahnemann damit genauer erklären kann, wie das Wirtschaftssystem funktioniert, weil er Machtverhältnisse damit unterschlägt.) Im DLF war auch gerade ein Beitrag über die Verbindung von rationalem Denken und den Vorstellungen der Neuropsychologie bei Entscheidungen, weiß nicht mehr wo. Es gibt, will ich damit sagen, Leute, die das Zweifeln als Antrieb anerkennen und nicht verdammen, aber ich fürchte, sie sind in der Minderheit. Ich denke, du gehörst ja auch zu ihnen.
Ralph Ostermann