In meinem letzten Eintrag habe ich beschrieben, wie fern mir die taz, auf deren Internet-Seiten ich diese, meine blogs publizieren darf, inzwischen gerückt ist. Ich fühle mich als kleine Laus in ihrem Fell, versuche manchmal ein bisschen zu sticheln, aber nur zur Selbstvergewisserung, denn von ihr, der Pelzträgerin, der mondänen Dame taz, wird das natürlich überhaupt nicht bemerkt.
Ich habe auch die Lektüre der taz aufgegeben, beziehe stattdessen inzwischen die Berliner Zeitung (BlZ), von der ich mich einigermaßen informiert fühle, ohne dass mir immerfort die Regierungsmeinung schmackhaft gemacht wird. Mal abgesehen von Artikeln zum Geschlechterverhältnis oder zur Migration, die ich schnell wegblättern muss, um mich nicht zu ärgern, werden aufregende Themen wie der Krieg in der Ukraine, Israel/Palästina oder Trump und Konsorten durchaus von verschiedenen Seiten beleuchtet. Und in den Open Source- Beiträgen gibt es immer mal wieder abseitig Interessantes.
Die wichtigste Mission der Zeitung ist aber unübersehbar ihre Parteinahme für den Osten Deutschlands. Da benimmt sie sich als Sprachrohr und legitime mediale Nachlassverwalterin sowohl des DDR-Staates als auch der verschiedenen daraus erwachsenen Bewegungen. Weil ich ja im Osten, also dem ehemaligen beziehungsweise immer noch Osten, wohne, ist mir das nur recht. Denn nach 25 Jahren Leben in Märkisch Oderland ist mir gewissermaßen eine Ost-Biografie gewachsen. Aber nur teilweise, und davon soll hier die Rede sein.
In ihrer Eigenschaft als Ost-Organ hat die Zeitung im vergangenen November eine Sonderausgabe zum 35. Jahrestag des Mauerfalls herausgegeben. Voller Standpunkte, Betroffenen-Berichte, einer Chronologie des 9. Novembers, die großes Insiderwissen verrät, und vielen Abbildungen aus den aufregenden Tagen. Mit dabei natürlich eines der überall und immer wieder publizierten Fotos von Menschen, die in der Nacht vom 9. auf den 10. November auf die Mauer klettern und in dichter Reihe oben stehen. Und wieder – ich trau meinen Augen nicht – steht über dieser Mauerabbildung: „Der 9. November und die mutigen Ostdeutschen“! Dabei war schon immer klar, dass es sich bei den MauerstürmerInnen um Schaulustige von der West-Seite handelt. Auf der Ostseite in der Region ums Brandenburger Tor standen Grenzsoldaten mit auf dem Rücken verschränkten Händen.
Ich habe diese falsche Zuordnung in einem blog-Beitrag vom November 2014 kritisiert. Ich hielt und halte sie immer noch für eine bewusst falsche Behauptung, die die Schaulust aus dem Westen in Freiheitsdurst aus dem Osten ummünzt. Mit meinem damaligen Aufklärungsversuch habe ich mir einen regelrechten Shitstorm an Kommentaren eingehandelt, aber auch Schulterklopfen, dass ich diese Geschichtsfälschung sichtbar gemacht habe.
Nun, zehn Jahre später sehe ich genau diese ikonografische Falschaussage ausgerechnet in der Zeitung, die sich der westlichen Aneignung entgegenzustellen auf ihre Druckfahne geschrieben hat!
Ich schreibe einen Leserinnenbrief, in dem ich darauf hinweise, dass die Illustration wohl nicht zur Überschrift passt, weil sie ja eindeutig die West-Perspektive darstellt. Den Brief schicke ich auch an die open-source-Redaktion mit der Frage, ob sie dazu einen Beitrag wollen, und an eine mir bekannte BlZ-Mitarbeiterin in leitender Position. Von ihr, der leitenden Mitarbeiterin erhalte ich ein paar Tage später eine Mail. Darin schreibt sie: „Hab vielen Dank! Super, dass du aufgepasst und uns geschrieben hast. Und unglaublich, dass das bei uns niemand gemerkt hat, inklusive mir. Wenn man genau hinsieht, merkt man ja, dass das Westdeutsche sind. Unsere Herausgeberin Margit Mayer ist dir auch sehr dankbar.“ Ich freue mich, dass meine Kritik angekommen ist.
Am nächsten Wochenende steht mein Brief auf der Leserbriefseite. Von der Open-Source-Redaktion höre ich nichts weiter.
Einen Monat später hängt an der Fassade des Bundesbildungsministeriums ein Transparent, das wieder das weltbekannte Motiv zeigt: Menschen, die die Mauer erklimmen, hier als Illustration zum Motto des Wissenschaftsjahrs 2024 „Was wären wir ohne Freiheit?“ Und diesmal hat die BlZ selbst aufgepasst. Maritta Tkalec, Redakteurin der Zeitung seit 1984, schreibt einen Artikel mit der Überschrift „Wessis als Maueröffner gefeiert“. In dem vierspaltigen Text beißt die Autorin ordentlich zu und präsentiert alle die Interpretationen und Bewertungen, die ich zehn Jahr zuvor vergeblich in die Öffentlichkeit zu bringen versucht habe. Eine „Spaßmeute West“ sei es gewesen, die auf der Mauer herumgetanzt habe: „Am Brandenburger Tor wurde die besungene Freiheit nicht erkämpft. Zu keinem Zeitpunkt und schon gar nicht von den Wessis, die das freiheitsbeflissene Geschichtsfälschungsplakat zeigt“, schreibt Tkalec.
Recht hat sie! Endlich!
„…es handelt sich um Geschichtsklitterung pur. Um die Usurpation einer historischen Tat durch westliche Gaffer.“
Meine Rede! Ich danke Ihnen, Frau Tkalec!
Aber dann lese ich, wer die eigentlichen Entdecker der Geschichtsfälschung sind und auch nur sein können: „Wir allerdings – mit etwas mehr Ahnung und mit einem durch viele beobachtete Geschichtsfälschungen geschärften Ossi-Blick – sehen: die mit Grafittis bedeckte Westseite der Mauer“ werde hier erstiegen.
Oha, der geschärfte Ossi-Blick hat das entdeckt? Da staune ich. Wurde mir nicht kürzlich noch vom Flagschiff der Ostdeutschen Presse dafür gedankt, dass meine West-Augen, die Augen, die jahrzehntelang die Mauer von der Kreuzberger Seite aus angeschaut haben, den Schwindel erkannt hat? Ich denke mir, das sollte doch richtiggestellt werden: die Ossi-Augen sehen nicht mehr und die Ossi-Nasen lassen sich genauso leicht betrügen! Ich schreibe also noch einen Leserinnenbrief, in dem ich freundlich darauf hinweise.
Die Leserbrief-Redaktion antwortet mir, dass mein Brief eine Doublette zu dem von November sei. Ich schreibe nochmal zurück und mache darauf aufmerksam, dass sich mein jetziger Brief auf eine neue Tatsache, nämlich die falsche Aneignung der Mauerseiten-Erkenntnis durch Frau Tkalec bezieht. Ich weise auch auf die Dankbarkeit der Herausgeberin und das Eingeständnis der mir bekannten Redakteurin hin. Die Leserbrief-Redaktion schickt mir trotzdem eine Veröffentlichungs-Absage: Man habe darüber konferiert und bleibe bei der Entscheidung; andere Leserbriefschreiber müssten auch mal drankommen!
Seufz. Na gut, dann eben hier:
„Liebe Frau Tkalec, es freut mich sehr, dass jetzt auch Sie den Versuch machen, der ewig wiederkehrenden, aber grundfalschen Interpretation der Bilder von den Menschen auf der Mauer entgegenzutreten. Ja, es sind die Menschen aus dem Westen, die Schaulustigen, die hier die Mauer erklettern. Allerdings ist es nicht der Ossi-Blick, der das enthüllt hat, wie Sie behaupten, sondern der Wessi-Blick – nämlich meiner! Schon vor zehn Jahren, am 5.11.2014, habe ich den Versuch gemacht, in meinen taz-blog „Land weg“ diese Geschichtsfälschung zu enthüllen – unter dem resignativen Titel „Ach, es will ja doch niemand wissen, was wirklich geschah“. Ich wurde damals ausgerechnet von Menschen mit DDR-Biografie, also solchen mit „etwas mehr Ahnung und mit einem durch viele beobachtete Geschichtsfälschungen geschulten Ossi-Blick“ dafür gescholten, wie in den Kommentaren zu meinem blog von damals nachzulesen ist. Und auch mein Wessi-Blick war es, der den gleichen Fehler, also die falsche Verwendung einer Abbildung, in Ihrer Zeitung am 9. November dieses Jahres entdeckt und per Leserinnenbrief mitgeteilt hat.
Vielleicht ist es nicht der West- oder Ost-Blick, der den ikonografischen Schwindel enthüllt, sondern unvoreingenommenes, kritisches und aufmerksames Hinschauen – aus jeder Himmelsrichtung.“
Das schrieb ich also. Aber es steht nicht da, wo es stehen sollte. Warum dann hier? Bin ich beleidigt? Will ich nachtreten? Will ich mein kleines Plätzchen auf den Seiten der ungeliebten taz gegen die nicht weniger argwöhnisch betrachtete Berichterstattung in der Berliner Zeitung in Stellung bringen?
Ja, irgendwie schon. Ein bisschen sticheln, diesmal in die andere Richtung.
Ätschibätschi! – Hallo!!? – Ätschibätschi!!
Nichts zu machen. Ich sitze in einem dicken Fell.