vonImma Luise Harms 27.02.2025

Land Weg

Das Land ist Ressource und Erweiterungsgebiet für die Stadt, aber auch ihre bestimmte Negation. Grund zum Beobachten, Experimentieren und Nachdenken.

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Anscheinend bin ich wach. Hinter den geschlossenen Augenlidern flattern die Gedanken auf, formieren sich zu Linien, streben irgendwelchen Zielen zu – „random“, wie meine Enkeltochter neuerdings sagt. Wie spät mag es sein? Ich habe seit einer Phase deprimierender Schlaflosigkeit keine Uhr mehr in meinem Schlafzimmer. Das war ein Ratschlag von der Einschlafberaterin, und er hat mir geholfen, die Zeit im Bett als zeitlos zu akzeptieren und nicht automatisch durchzurechnen, ob das Schlafpensum wohl für den nächsten Tag reicht.

Trotzdem: wie spät mag es sein? Ob ich wohl nochmal einschlafen kann? Ich hebe die Augenlider ein kleines bisschen und schaue durch den Spalt in das nächtlich Reale, das nicht schwarz ist wie die Welt hinter den geschlossenen Augen, sondern grau, ein ganz dunkles Grau. Mit „Zeichnung“, würde mein Mitbewohner, der Fotograf, es ausdrücken. Das Grau mit Zeichnung enthüllt nach und nach die Konturen dessen, was auf meinem Nachttisch liegt: Mein Handy – ah, da könnte ich doch nachsehen, wieviel Uhr es ist, mach ich aber nicht! Es liegt da, weil ich mir neuerdings zum Einschlafen was vorlesen lassen. Gerd Westphal liest Thomas Mann, der Zauberberg – wunderbar. 40 Episoden in einzelnen Häppchen zum Nachhören. Gert Westphal sowieso wunderbar, aber eben auch zum Einschlafen; die knappe halbe Stunde reicht genau, um mich zum Wegduseln zu bringen. Den Schluss kriege ich schon meistens nicht mehr mit und habe am nächsten Tag Schwierigkeiten mit dem Anschluss.

Aber gestern war Samstag, da gab‘s gar keine neue Folge. Das Buch zum Podcast liegt auch da. Ich habe es gestern noch aus dem Regal geholt, weil ich dachte, dann lese ich eben ein bisschen weiter, hab’s dann aber doch nicht gemacht, weil ich es mir am Montag lieber anhöre. Stattdessen habe ich in einem Buch mit Aufsatzsammlungen zum Thema Gerechtigkeit gelesen, philosophische Ansichten dazu aus zweieinhalb Jahrtausenden. Das war aber nicht besonders einschläfernd, weil es meine eigenen theoretischen Überlegungen dazu mobilisiert hat und ich mit den gerade abgehandelten Utilitaristen innerlich sofort in Chinch gegangen bin.

Also hab ich es weggelegt und den Vaporizer mit einer Portion Gras in Gang gesetzt. Das hilft auch fast immer, die Kurve zu kriegen. Oft habe ich am nächsten Tag vergessen, ob ich ihn noch benutzt habe oder nicht; ich gebe mir selbst ein Zeichen und lege ihn flach, wenn ich geraucht habe. Im Dunklen sehe ich, dass er neben den beiden Büchern liegt. Aha, ok. Aber die Dosis reicht eben manchmal nur bis in die frühen Morgenstunden, ich müsste nachlegen. Dazu müsste ich aber das Licht anmachen, und dann bin ich erst recht wach.

Das dunkle Grau des nächtlich Realen weicht langsam wieder dem räumlich Unbestimmten hinter den geschlossenen Augen. Die Gedanken sind Assoziationen, die ihren eigenen Weg suchen, von mir, also meinem entschiedenen Willen, kaum zu beeinflussen oder zu bremsen. Das ist ja genau das, was das THC kann: die Gedanken verwirren und in rätselhafte Bilder auflösen, die Denkordnung durcheinanderbringen und so mein tätiges Ich in die Willenlosigkeit absenken.

Die Konturen der Gegenstände auf meinem Nachttisch liegen noch auf der Netzhaut. Arno Widmann, in den 80er Jahren Kulturredakteur bei der taz, hat in der Zeitung eine Rubrik unterhalten, die hieß: „Vom Nachttisch geräumt“. (Ein Epigone oder ein witziger Säzzer hat daraus mal „vom Nachtisch geträumt“ gemacht.) Das waren kurze Rezensionen zu Büchern, die ihm alle zu diesem Zweck aufgedrängelt worden waren und die sich anscheinend neben seinem Bett stapelten, damit er mal ein Auge reinwirft und sie freundlich bespricht. Von Zeit zu Zeit musste er wohl diese Stapel und das damit verbundene Verpflichtungsgefühl abbauen.

Ein bisschen angeberisch fand ich das, aber das war auch Neid und das Gefühl eigener Unzulänglichkeit: Ich hätte auch gern so einen leichten Zugang zu Büchern gehabt, hätte gern so eine souveräne Meinung dazu, dass ich sie nach ein paar kurzen, treffenden Sätzen zur Seite legen und vergessen kann.

Wo die Bücher wohl alle geblieben sind? Hat er sie ins Regal geräumt, schon in der zweiten Reihe, weil’s ja immer mehr wurden? Oder hat er sie verschenkt? Ich habe mal einen zaghaften Versuch gemacht, welche abzukriegen, bin aber abgeprallt. So gut standen wir auch nicht miteinander. Arno Widmann galt in der taz, besonders in der weiblichen Belegschaft, als Chauvi. Hat sich auch immer wieder flotte Sprüche geleistet, um das zu bleiben. So eine Art männlicher Ehrenkodex: auf keinen Fall versuchen, kein Chauvi zu sein!

Von der Filmbiennale in Venedig hat er berichtet – auch was, worauf ich neidisch war: Wo wurde ich denn mal hingeschickt?  Zwischen den spöttisch-eloquenten, immer gut informierten Besprechungen zu den Filmen kam ab und zu eine Glosse über die Stimmung auf den verschiedenen Premierenfeiern und anderen Anlässen, wo man sich zeigte und wo man was aufschnappen konnte. Da hat Arno sich einmal verstiegen, als er schrieb, er habe den Anblick der vielen jungen Ragazze satt, die mit schwarzen Stirnlocken über der niedrigen Stirn und feuchtem Blick aus dunklen Augen überall auf den Empfängen herumstünden. Der weibliche Teil der Redaktionskonferenz in Berlin war sich einig: Arschloch, chauvinistisches! – rassistisches!, würde man heute wohl ergänzen. Der männliche Teil der Redaktion duckte sich weg. Einer sagte später zu mir: Ist ja klar, das war eine verdeckte Mitteilung an Arnos Freundin. Wenn du sie siehst, verstehst du das: die hat ne riesig-hohe Stirn und blonde glatte Haare, ne richtige Schönheit!

So so, dachte ich. Bedeutende Männer haben schöne Frauen. Schöne Frauen haben bedeutende Männer. Die müssen dann nicht schön sein. Arno mit seinem veritablen Eierkopf, spärlich behaart, und seinen Hasenzähnen muss schon sehr bedeutend sein. Was der wohl heute macht? Ob er überhaupt noch lebt? Manche aus der Generation der inzwischen 80-jährigen sind ja dann doch manchmal schon tot. Aber bei Arno hätte man das vielleicht mitgekriegt. Eierköpfe, feuchte Augen, der taz-Redaktionstisch, die empörten Frauen, die grinsenden Männer, Bücherstapel, meine beiden Bücher, mein ausgerauchter Vaporizer – die Bilder schieben sich ineinander, die Gedankenfäden verknäueln sich zu vagen, grobkörnigen Gebilden, die sich langsam auflösen…

Nun ist es wirklich hell und ich bin wirklich wach und es ist wirklich 9 Uhr. Da hab ich ja nochmal gut geschlafen! Schön, so ausgeruht in den Tag zu gehen. Dunkle Erinnerung an Arno Widmann, ob der überhaupt noch lebt. Ich befrage Wikipedia: Ja. Und 80 ist er auch noch nicht, sondern 77, zwei Jahre älter als ich. Hat in Frankfurt studiert, noch bei Adorno damals. Ich erinnere mich, dass davon die Rede war, vielleicht auch von ihm selbst. Adorno, das war auch so ein Eierkopf. Irgendwie sehen sie sich ähnlich.

P.S.: Ich suche ein Bild von Widmann, finde eines, will ihm schreiben, um nach dem Copyright zu fragen, hab keine gültige Email-Adresse, suche nochmal, finde einen Artikel von ihm, der im letzten Jahr in der FR erschienen ist. Wie schön: Arno befasst sich ebenso wie ich mit der Rekonstruktion seiner Vergangenheit, in die er die Residuen der Gegenwart (vor allem Bücher) einsortieren kann – oder umgekehrt.

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https://blogs.taz.de/jottwehdeh/2025/02/27/vom-nachttisch-getraeumt/

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