vonHeiko Werning 27.11.2010

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Der Jubiläums-TATORT zum Vierzigsten ist ein gelungener – und ein ungewöhnlicher. Da heißt es, die Rekorder scharf stellen, wenn man die gleichzeitig stattfindende Reformbühne Heim & Welt im Kaffee Burger in Berlin-Mitte besucht, wo Jakob Hein, Ahne, Falko Hennig, Uli Hannemann, Jürgen Witte und ich unsere Gäste Kersten Flenter und Andreas Albrecht begrüßen. Für den Tatort-Fundus, in dem es noch reichlich weiteres Material rund um das Jubiläum gibt, habe ich “Wie einst Lilly” vorab besprochen:

Der Edersee in „Hessisch-Sibirien“ liegt so weit ab vom hektischen Weltgeschehen, wie das in Deutschland überhaupt nur möglich ist. Eingebettet in herbstlich gefärbte Hügel ziehen die Frühnebelschwaden über die Wasseroberfläche, während die Örtchen der Umgebung mit ihren pittoresken Altstädten glauben machen, hier sei die Vergangenheit noch lebendig.
Und das wird sie ganz unversehens auch, allerdings weit weniger idyllisch, als das Angler- und Spaziergängerparadies es erahnen ließe: Auf dem See dümpelt ein Paddelboot mit der Leiche eines Mannes herum, erschossen mit einer Waffe, die vor Jahrzehnten bei einem Überfall der RAF erbeutet wurde. Für die Polizisten vor Ort deutet zwar alles auf Selbstmord hin, doch die brisante Herkunft der Tatwaffe sorgt dafür, dass sicherheitshalber das LKA eingeschaltet wird.
Dessen Ermittler Felix Murot hat eigentlich gerade ganz andere Sorgen. Seit geraumer Zeit schon kämpft er mit Kopfschmerzen und Sehstörungen, und als er sich nun endlich zum Arzt aufrafft, lässt die niederschmetternde Diagnose nicht lange auf sich warten: ein Hirntumor. Ob der bösartig ist oder nicht, soll eine Biopsie klären. Murot aber läuft vor dem medizinischen Horror davon, nur um sich plötzlich in seiner eigenen Vergangenheit wiederzufinden. Denn der Ermittler ist am Edersee aufgewachsen, hier näherte er sich, letztlich vergeblich, seiner ersten großen und bis heute unvergessenen Liebe Lilly an. Und auch der Fall selbst konfrontiert ihn direkt mit seiner eigenen Geschichte. Einst arbeitete Murot beim BKA und war mit den Ermittlungen zu einem RAF-Attentat befasst, bis er von oben abgezogen wurde. Weil er sich verrannt hatte, so seine Vorgesetzten. Weil er die falschen Fragen gestellt hat, so Murot. Im Zorn darüber wechselte er nach Wiesbaden zum LKA, und einiges deutet darauf hin, dass er plötzlich wieder an seinem alten Fall ermittelt.

Zum 40-jährigen Jubiläum bietet die ARD eine in vielerlei Hinsicht außergewöhnliche TATORT-Folge auf: Sie riskiert zu dem sicherlich stark beachteten Termin die Einführung eines neuen Ermittlers, der eher ruhig und in sich gekehrt daherkommt. Dass dieser neue Mann am TATORT von Ulrich Tukur verkörpert wird, ist allerdings sicherlich ein wichtiger Teil der Erklärung dafür, denn der Stolz darüber, einen der angesehensten Schauspieler des Landes für die Reihe gewonnen zu haben, quillt dem produzierenden HR aus jeder Pore.
Dem „big name“ entsprechend, sollte es wohl auch inhaltlich um die großen Fragen gehen. Und so ist „Wie einst Lilly“ ein lupenreiner Politthriller – ein äußerst ruhiger und melancholischer allerdings, die nordhessische Version eben. Es ist schon bemerkenswert, wie Regisseur Achim von Borries süße Melancholie, Unaufgeregtheit und herbstlich gedämpfte Töne in scharfen Kontrast zur nicht nur brisanten, sondern – wie sich letztlich zeigt – geradezu ungeheuerlichen Geschichte setzt. Man könnte diese Inszenierung in ihrer langsamen Erzählweise fast altmodisch nennen, wenn sie auch sehr kompakt daherkommt. Wesentliche Dinge werden meist eher beiläufig erwähnt, oft nur gestreift, der Zuschauer, der zwischendurch mal ein Bier holt, darf nicht unbedingt darauf hoffen, dass ihm alles hinterher noch einmal in Gesprächen schön rekapituliert wird. Was insofern allerdings wiederum keine allzu große Herausforderung darstellt, da die Handlung bei allem Bemühen um die maximal brisante Wendung doch recht vorhersehbar ist. Das wohl wissend, versucht der Film auch erst gar nicht, seine Enthüllungen als große Knalleffekte zu inszenieren, die Erzählweise ist semi-offen. Wer ein gutes Gedächtnis für Stimmen und Personen hat und sich nicht erst während des Vorspanns den Sonntagabendtisch gemütlich herrichtet, der weiß in wesentlichen Teilen recht schnell, wie die groben Zusammenhänge aussehen und welch dramatisches Ende droht.
Wenn der Verschwörungsplot angesichts zahlreicher Vorgänger auch nur mäßig originell wirkt, ist der Film dennoch durchaus explizit politisch, sozusagen en passant. Dafür sorgen einige Dialogfragmente, die ganz sicher dem ein oder anderen Verfechter eines starken Staats übel aufstoßen werden, ebenso wie die zwar auch nur angedeutete, aber dafür recht differenzierte Sichtweise auf die RAF, die sozusagen diametral entgegengesetzt zur Linie der Bild-Zeitung steht, die entsprechend – auch eine schöne TATORT-Tradition – ordentlich abgewatscht wird. Angedeutet wird überhaupt vieles, ausgesprochen nur weniges. Dabei werden die jüngsten Diskussionen um die Begnadigung von RAF-Terroristen ebenso aufgegriffen wie die Suche der Angehörigen der Opfer nach Antworten. Und auch die Finanzkrise und die Machenschaften der Banken spielen eine kleine Nebenrolle, eine durchaus pikante Verknüpfung im Bereich Ursachenforschung für Terrorismus. Sie tauchen im Verbund auf mit Murots Assistentin Magda Wächter. Eine Personenkonstellation übrigens, die auch für die Zukunft hoffen lässt, denn die mit ruppigem Charme gesegnete, aber in erfreulich unkomplizierter Verbundenheit zu ihrem Chef stehende Dame ist die perfekte Ergänzung des unnahbaren Ermittlers.
Murot wird uns als jemand gezeigt, der äußerlich betont souverän und über den Dingen stehend auftritt, aber in Wirklichkeit auf der Flucht ist – und dabei scheitert. Denn weder kann er vor der „Nuss“ in seinem Kopf davonlaufen, noch einen vernünftigen Kompromiss mit ihr aushandeln, auch wenn er es vor dem Spiegel tatsächlich versucht – eine ziemlich riskante Szene übrigens, weil sie doch am Rand der Lächerlichkeit changiert, aber Tukur gelingt es, die Balance zu halten. Auch seiner Vergangenheit entkommt Murot nicht. Seiner Herkunft aus einem strengen Pfarrershaus nicht, seiner eigenen jugendlichen Unzulänglichkeit nicht, den beruflichen Leichen im Keller erst recht nicht.

So feiert der TATORT sein Jubiläum also mit einer eigenwilligen Folge, die sicher nicht jedermanns Sache sein wird, die aber Akzente setzt und von der unerreichten Vitalität dieses TV-Phänomens zeugt, indem sie einmal mehr die deutschen Befindlichkeiten auslotet, diesmal an einem besonders wunden Punkt.
Oder kurz zusammengefasst: ein würdiger TATORT zum 40-jährigen. Herzlichen Glückwunsch.

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