Tahrir-Platz . Photo: n24.de
In Kairo sah es meiner Einschätzung nach so aus, dass die jungen Aufständischen auf dem Tahrir-Platz langsam mürbe wurden, einige wagten einen Ausfall – und zogen zum Regierungspalast, aber das Heft des Handelns drohte wieder in die Regierung überzugehen. Zum Glück veröffentlichte der neue Vizepräsident eine derartig unverschämt
drohende Rede, in der er die Stabilität des Mubarak-Regimes, die auch diese „Krise“ meistern werde, hervorhob. Sie war an die Adresse der auf dem Platz versammelten Revoltierenden gerichtet. Zu den dort sozusagen permanent Versammelten zählte u.a. eine Koalition von 300 Jugendorganisationen, die zuvor einen Forderungskatalog verabschiedet hatte, der weit über die Demission Mubaraks hinausging und einen gründlichen demokratischen Umbau des Regierungssystems verlangte. Dann sprach auch noch der Verteidigungsminister auf dem Tahrirplatz. Er sagte: die Regierung werde auf die Forderungen des Volkes eingehen, die Demonstranten könnten beruhigt nach Hause gehen – was natürlich keiner tat.
In dieser von außen fast schon fatalen Situation weiteten andere soziale Gruppen den Aufstand aus: Bauern, Beduinen, Arbeiter und Exil-Ägypter, es reisten Leute vom Land in die Stadt – und pilgerten zu den Demonstranten auf dem Tahrir-Platz. Die Medienleute wurden wieder etwas mutiger.
Die Journalisten beeilten sich, exemplarisch so viele wie möglich über die „Befindlichkeit“ der Neuhinzugekommenen herauszubekommen. Der FAZ-Korrespondent vor Ort , Rainer Hermann, hatte seltsamerweise gestern die selbe Einschätzung der Situation – der Kräfteverhältnisse dort – wie die obige, die hier am Ticker bzw. am
Bildschirm quasi Gestalt annahm. Hermanns Text findet sich in der heutigen FAZ.
Die Agentur Reuters lieferte gestern um etwa 19 Uhr eine erste (optimistische) Zusammenfassung:
Die Proteste in Ägypten weiten sich aus, der Ruf nach Wandel wird lauter: Weit entfernt vom Tahrir-Platz in Kairo und jenseits der Stadtgrenzen der Millionen-Metropole fordert auch die Landbevölkerung das Ende des Herrschaftssystems von Husni Mubarak. Dabei tragen Internet und Satellitenfernsehen die Bilder des Protestes in die entlegensten Gegenden des Landes und stärken damit die Oppositionsbewegung auch in der Provinz.
“Die Revolution ist gut”, sagt etwa Landwirt Fausi Abdel Wahab, der zusammen mit seiner Frau auf einem Feld im Nildelta nahe der Stadt Tanta steht.
Dieses ganze korrupte System muss weg”, sagt der 25-jährige Arbeitslose Mohamed Sabaie vor den Toren von Tanta. Zwei Drittel der ägyptischen Bevölkerung sind unter 30 Jahre alt. Viele von ihnen suchen verzweifelt nach Arbeit.
Etwa 40 Prozent der rund 80 Millionen Ägypter müssen mit weniger als zwei Dollar am Tag auskommen. Es ist diese Perspektivlosigkeit, die als eine der treibenden Kräfte hinter den Protesten gilt – und das nicht nur in Kairo. So zogen in den vergangenen Tagen auch in der vergleichweise kleinen Stadt Tanta tausende Menschen auf die Straßen und protestierten vor Regierungsgebäuden gegen Mubarak und seine Stellvertreter.
“Die von der Jugend vorgebrachten Forderungen drücken die Wünsche alle Ägypter aus, auch der Bauern und der Menschen in den ländlichen Regionen, die unter denselben Problemen leiden wie die Menschen in den Städten”, sagt Ägypten-Experte Nabil Abdel Fattah vom Al-Ahram-Zentrum für Politische Wissenschaft.
Für Unmut in der Bevölkerung sorgt dabei auch zunehmend der Eindruck, dass es immer mehr Ägyptern schlecht geht, während sich die politische Klasse immer mehr bereichert. “Dieses System besteht doch nur aus Dieben und korrupten Leuten”, sagt der etwa 50-jährige Rafeat Suweilam. “Sie sollen alle verschwinden.” 30 Jahre Unterdrückung und Ungerechtigkeit seien genug, findet auch Ahmed Mahmud, der im Norden Ägyptens für eine staatliche Ölgesellschaft arbeitet. Das System müsse sich ändern. “Ich habe gesehen, wie Polizisten Demonstranten verprügeln. Ich habe gesehen, wie sie auf Menschen schießen. Was für eine Regierung ist das, die so etwas macht? Und warum sollten wir eine solche Regierung weiter hinnehmen?”
Dpa schickte daraufhin diese Meldung:
Zur politischen Bewegung gegen den ägyptischen Präsidenten Husni Mubarak sind seit gestern auch noch Kundgebungen Tausender von Arbeitnehmer hinzugekommen, die für höheren Lohn, bessere Sozialleistungen und bessere Arbeitsbedingungen auf die Straßen gingen. In der Hafenstadt Suez traten mehr als 5.000 Arbeiter mehrere Firmen in den Streik. Tausende andere demonstrierten in den Städten Mahalla, Port Said und Kairo.
Dazu wurde später noch erwähnt, dass die Gewerkschaften langsam aktiver werden. Und dass „auch zahlreiche Busfahrer und weitere Angestellte im öffentlichen Nahverkehr die Arbeit niederlegten. Die Organisatoren hätten alle 62.000 Beschäftigten im Transportgewerbe zum Streik aufgerufen, sagte der Busfahrer Ali Fatuh aus Kairo. Wie viele dem Aufruf folgten, war unklar.“
AFP ergänzte heute:
„Neben anhaltenden Protesten der Opposition haben in Ägypten landesweite Streiks den Druck auf die Regierung von Staatschef Husni Mubarak verstärkt. Zehntausende Beschäftigte in Kairo und weiteren Städten legten am Donnerstag ihre Arbeit nieder und versammelten sich zu Kundgebungen – unter anderem vor dem Parlament. Außenminister Ahmed Abul Gheit hatte zuvor angedroht, die Armee werde einschreiten, wenn im Land Chaos ausbreche.
Die Streiks richten sich primär gegen steigende Lebenshaltungskosten. Die Gewerkschaften fordern deshalb Lohnerhöhungen, wollten aber mit den Arbeitsniederlegungen auch der Opposition den Rücken stärken. In Kairo versammelten sich etwa 3000 Beschäftigte des Gesundheitssektors sowie zahlreiche Anwälte zu Protestmärschen. In Alexandria beteiligten sich tausende Verwaltungsangestellte an dem Streik, wie ein Sicherheitsvertreter bestätigte. Auch in Suez sowie in Städten am Roten Meer und im Norden des Landes wurde gestreikt. In Port Said verwüsteten hunderte Demonstranten die Polizeizentrale und zündeten sie an.
In Kairo verlagern sich die Demonstrationen zunehmend auf das Parlament. Die Teilnehmer einer Kundgebung vor der Volksvertretung riefen in Sprechchören „Nieder mit Mubarak“. Eine Gruppe von Frauen trug Transparente mit der Aufschrift: „Unterdrückte Frauen, ohne Geld und Vergünstigungen, haben genug von den Beleidigungen.“ Zunehmend kommt es auch zu Streiks. Die Arbeiter verknüpfen ihre Forderungen nach höheren Löhnen und besseren Arbeitsbedingungen mit der nach einem Rücktritt Mubaraks.
Spiegel online verbreitete ebenfalls eine revolutionsoptimistische Sicht auf die Dinge:
“Die Protestbewegung scheint immer stärker zu werden, aus dem ganzen Land reisen Menschen zu den Demonstrationen nach Kairo. Am Freitag droht eine neue Gewalteskalation. “Hau ab, Mubarak!” – “Es reicht!” – “Seid nicht müde, seid nicht müde! Die Freiheit ist noch nicht befreit!” Die Parolen auf Kairos Tahrir-Platz sind eindeutig: Diktator Husni Mubarak soll endlich abtreten. In der Nacht zu diesem Mittwoch haben wieder Tausende Menschen auf dem Platz ausgeharrt. Die Proteste drohen abzuebben, wie hier und dort zu lesen ist? Keineswegs. Hunderttausende Demonstranten waren es am Dienstag – und jetzt bereitet sich Ägyptens Opposition auf den Freitag vor. Nach dem Mittagsgebet wollen die Regimegegner wieder die Massen mobilisieren: Der Ruf nach Freiheit soll noch lauter werden.”
Bei den Gefängnisöffnungen nach Beginn der Unruhen in Ägypten sind offenbar auch islamistische Terroristen entkommen. “Ägypten ist nun von Kriminellen und Dschihad-Organisationen bedroht”, sagte Vizepräsident Omar Suleiman in einem Interview, das von mehreren großen ägyptischen Tageszeitungen abgedruckt wurde. “Diese Extremisten sind nun in Freiheit, während die Polizei unter einem Motivationsdefizit leidet”, fügte er hinzu. Unter den Geflohenen könnten auch Männer mit Verbindungen zum Terrornetzwerk Al-Kaida sein, deutete er an.
Nachdem dieser Verbrecher das “angedeutet ” hatte, fiel den Amis prompt ein, dass es ihnen ja statt um “Freedom and Democracy” vor allem um die Jagd auf Terroristen geht. Ein US-Regierungssprecher deutete an, dass sie demnächst eventuell alleine, ohne Kooperationspartner vor Ort, im Jemen und in Ägypten “Terrornetzwerke” zerschlagen müßten. Überhaupt bombardieren die Amis „die Ägypter“, die ägyptische Regierung und Mubarak geradezu – mit mehr oder weniger höchstoffiziellen US-Faxen, dass nun aber subito dieses oder jenes zu geschehen habe. In der Mongolei mischte sich auch ständig die bescheuerte neoliberale US-Botschafterin per Zeitungsartikel in die inneren Angelegenheit des Landes ein, es zeigte sich dadurch, wer dort wirklich das Sagen hat. In Ägypten hat heute der Außenminister den USA vorgeworfen, zu viel Druck auf sein Land auszuüben. Ägypten hat aber auch jährlich 6 Milliarden Dollar aus Amerika bekommen. U.a. mußten die Regierungsbeamte dafür nicht nur von den USA markierte Islam-Terroristen foltern, sondern sie auch töten und spurlos verschwinden lassen.
Die Juden in Israel sind mehrheitlich noch immer tief verstört über die Ereignisse in Ägypten, während die Palästinenser sie hoch erfreut im Fernsehen verfolgen. Die israelische Autorin Hadara Lazar schreibt in der FAZ: „Den meisten Isrelis wäre es lieber, wenn am Status quo festgehalten würde und die Diktatoren an der Macht blieben. Überall ist diese Angst vor der Revolution, selbst unter jenen, die die Demokratiebewegung in Ägypten mit Sympathie beobachten.“
Weil die Amis dahin tendieren, Mubarak fallen zu lassen, ist Saudi-Arabien schwer verstimmt und Washington deswegen besorgt. Dpa erklärt uns, warum: „Wegen der Tumulte in Ägypten und in anderen arabischen Ländern gilt Saudi-Arabien als letzter enger Verbündeter der USA in der Region.“
Dpa erinnert daran: „Der neue ägyptische Vizepräsident Suleiman war bis zu seiner Ernennung zum Vizepräsidenten am 29. Januar der oberste Leiter der ägyptischen Geheimdienste. Beobachter gehen davon aus, dass das Regime die Gefängnisse auf dem Höhepunkt der Unruhen am 28. Januar bewusst geöffnet hat, um Chaos zu stiften und damit seine eigene Unentbehrlichkeit zu demonstrieren. Tausende Gefangene und Untersuchungshäftlinge waren dadurch freigekommen. In der Folge kam es zu Plünderungen in Kairo und anderen Städten des Landes.“
Aus Regierungskreisen ist zu hören, man wolle die Demonstrationen nur noch bis Donnerstag dulden. Ein Offizier, der neben einem Panzer auf dem Tahrir-Platz steht, bestätigt: Ja, die Armee denke darüber nach, “wie man diese Situation zu einem vernünftigen Ende bringen kann”.
Die Amis warnen daraufhin sofort die ägyptische Führung vor einer Wiederholung der Ereignisse auf dem „Tienamen-Platz“. Sie regieren schon fast in Echtzeit nach Ägypten rein.
Dem dortigen Regime und seinen verbrecherischen Organen scheint so etwas wie eine Pakistanisierung Ägyptens vorzuschweben. Während sich das chinesische Regime mehr und mehr amerikanisch kommerzialisiert:
So haben die chinesischen Behörden Menschenrechtsaktivisten an der Verteilung von Informationsblättern über die regierungskritischen Proteste in Tunesien und Ägypten gehindert. Die Bürgerrechtler hätten versucht, die Flugblätter in Guiyang in der südwestlichen Provinz Guizhou zu verteilen, sagte der Dissident Chen Xi heute der Nachrichtenagentur AFP. Polizisten hätten sie jedoch mit der Begründung aufgehalten, der Zeitpunkt für die Aktion sei “unangemessen”. Zur Entschädigung für den Druck der Flugblätter habe die Polizei ihnen 3000 Yuan (334 Euro) angeboten. Die chinesischen Behörden wollten nicht, “dass die chinesische Bevölkerung erfährt, was in Afrika vor sich geht”, sagte Chen.
Das hat es noch nie und nirgendwo gegeben, dass ein Regime seinen „Gegnern“ die Flugblätter abkauft!
Wie die Nachrichtenagentur AFP aus Sicherheitskreisen erfuhr, „lieferten sich Polizei und Demonstranten in der Oasenstadt El Chargo 400 Kilometer südlich von der Hauptstadt Kairo am Mittwoch gewaltsame Auseinandersetzungen. Nach den Informationen aus Sicherheitskreisen schoss die Polizei mit scharfer Munition auf die Menge. Dabei wurden dutzende Demonstranten verletzt, drei Menschen erlagen später ihren Verletzungen. Die Demonstranten setzten daraufhin sieben staatliche Einrichtungen in Brand, darunter zwei Polizeiwachen, eine Polizeikaserne, ein Gerichtsgebäude und die örtliche Zentrale der Regierungspartei von Präsident Husni Mubarak.”
Für Morgen – Freitag – wird zu einer Großdemonstration auf dem Tahrirplatz aufgerufen. Der Korrespondent des Guardian, Jack Shenker, berichtet heute im „Freitag“, wie es am letzten Freitag auf dem Platz war: „ein Festival mit Gesang und Solidarität. Man konnte Rednern zuhören, Essen und Getränke wurden freigiebig unter den Anwesenden herumgereicht.“ Ein Arzt erzählte ihm, während der Kämpfe mit Mubarak-Schlägern und -Polizisten wären 99% der von ihm Behandelten anschließend sofort „an die Front zurückgekehrt, sie sagten: ‚Nähen Sie mich einfach und lassen Sie mich zurückgehen‘.“ Die ägyptische Schauspielerin Mohsena Tawfik freute sich für den englischen Journalisten: „Sie sind Zeuge des Beginns der ersten populären ägyptischen Revolution.“
Ebenfalls im „Freitag“ berichtet Sabine Kebir über Tunesien, wo gerade über eine neue Verfassung diskutiert wird: Sie könnte zum Vorbild für Nordafrika wie für Europa werden“, meint sie blauäugig. Eine Verfassung ist nur so gut wie das Volk revolutionär und in Bewegung ist – und nur so lange. Sobald wieder Ruhe und Ordnung – „Stabilität“ – einkehrt, ist sie das Papier nicht mehr wert. Statt so einen Vertrags-Quatsch zu diskutieren, sollte man sich Gedanken darüber machen, wie das Zusammenleben von unten neu organisiert werden kann.
Auf Seite 1 des „Freitag“ macht sich Robert Misik Gedanken um den Revolutions-Begriff. Er zitiert Camus, der in „L’homme révolté“ 1951 die Revolutionstheoretiker abtat, weil sie auf die „historische Notwendigkeit“ bzw. „Gesetzmäßigkeit“ setzen und Revolten ablehnen würden. Für ihn war dagegen die Revolte sozusagen die Essenz des Existentialismus. Robert Misik kommt jedoch zu dem Schluß: „Es sieht aus wie eine Revolution, es riecht wie eine Revolution. Es wird wohl eine Revolution sein.“
In der taz berichtet Karim El-Gawhary heute über die Frauen in der Revolution. Daran haben vor ihm auch schon andere gedacht. Einer besuchte eine Familie, die ihre Tochter nicht auf den nahen Tahrir-Platz gehen läßt, weil das zu gefährlich sei – da wären zu viele Jungs. Sie verfolgt die Ereignisse zu Hause via Facebook. Der Kairo-Korrespondent der taz hat vor allem „westlich gekleidete Fauen“ gesprochen, die sehr engagiert sind, im Lazarett der Aufständischen helfen, in einer Organisation für feministische Studien arbeiten oder die von den Aufständischen gemalten Plakate photographieren. Letztere erklärt ihm dazu: „Das ist eine spontane Kreativität, wie ich sie erlebt habe.“ Sie gibt die Photos weiter – via Facebook. Anfangs hatte sie Angst, auf den Platz zu gehen – vor allem wegen der Mubarak-Schläger, aber jetzt „ist sie einfach stolz, Ägypterin zu sein.“ Die Feministin berichtet: „Die üblichen Anmachen haben vollkommen aufgehört. und nicht nur auf dem Platz.“ Wenn sie in der Gruppe offen, mit Transparenten etc., auftreten, rufen die Leute ihnen zu: „Seid stark, ihr Töchter der Revolution.“ Selbst einer der Muslimbrüder ist darüber laut Karim El-Gawhary vom Glauben abgefallen. Seitdem er auf dem Platz ist, ist er davon
überzeugt, „dass Frauen alles können“.
Die zweite taz-Kairo-Korrespondentin, Nora Mbagathi, schreibt heute in ihrer Kolumne, dass sie in einer Wohnung mit Blick auf den Tahrir-Platz untergekommen ist, „die ideal für diese Revolution ist“. Immer wieder gehen Leute aus der Wohnung nach unten auf den Platz, „um den Leuten dort Essen, Früchte oder Tee zu bringen. Der Wohnungs-Besitzer hat sein Internet „frei zugänglich gemacht, so dass sich außer Facebook-Jugendliche und deren Elterngeneration auch einige Journalisten dort ausruhen oder versuchen zu arbeiten, in einem der Zimmer läuft Tag und Nacht ein Fernseher.“ Neben den vielen Menschen befinden sich dort auch noch zwei kleine Hunde, mehrere Katzen und ein etwas trauriger Fisch, „die hier einen Blick hinter die Kulissen der Revolution erhaschen“. Ein Joint wird herumgereicht, „man diskutiert über die Zukunft Ägyptens“. Aber auch über den „ungewöhnlich hohen Anteil an ungewöhnlich gut aussehenden Soldaten um den Tahrir-Plaz. So laufen also Revolutionen.“
Das Siemens-Organ „Süddeutsche Zeitung“ hat sich vorübergehend aus der Kairo-Berichterstattung ausgeklingt, vielleicht um seine Kräfte auf Morgen zu konzentrieren? – und bringt heute nur einen kleinen mit bürgerlicher Politik durchtränkten Einschätzungsartikel: „Die halbe Revolution. Das ägyptische Regime trinkt Tee mit der Opposition und
sichert sich gleichzeitig das Überleben.“ Im SZ-Feuilleton kommt dafür ein Biologe ausführlich zu Wort, der glasklar (experimentell) bewiesen hat, dass der „Freie Wille“ doch existiert – wenn auch erst mal nur bei den Fruchtfliegen.
In der „Jungen Welt“ äußert sich der Pariser Politologe und „Arabien-Experte“ Jean-Paul Chagnollaud über den Konservativismus Israelis, die wollen, dass alles so bleibt, wie es ist: „Am Ende wird unvermeidlich der Machtverlust stehen. Zukunft gestaltet man so nicht.“
(Hoffentlich ist der Mossad nicht schon dabei, aus „Status Quo“-Erhaltungsgründen die übelsten Schweinereien in Ägypten zu begehen.)
An deren Adresse scheint sich die „Meinung“ der konservativen englischen “Times” zu richten: “Demokratie bedeutet die größte Chance für Frieden in der Region und für die Zukunftschancen der Bevölkerung, auch wenn eine demokratische Regierung in Ägypten der Hamas näher stünde als Mubarak.”
Aus Berlin meldet epd: „Zum weltweiten Aktionstag für einen demokratischen Wandel in Ägypten am Sonnabend haben Menschenrechtsorganisationen und Gewerkschaften zu einer Kundgebung nach Berlin aufgerufen. Damit solle Solidarität mit den seit etwa zwei Wochen demonstrierenden Ägyptern gezeigt sowie für Menschenrechte, Reformen und ein Ende der Unterdrückung demonstriert werden, teilte Amnesty International als Mitveranstalter am Donnerstag in Berlin mit. Die Kundgebung soll um 13 Uhr am Brandenburger Tor beginnen. Neben Amnesty haben auch Human Rights Watch, die Gesellschaft für bedrohte Völker, Reporter ohne Grenzen und der Deutsche Gewerkschaftsbund dazu aufgerufen.“
In Leipzig hat die Stiftung friedliche Revolution zu einer Mahnwache vor der Leipziger Nikolaikirche als „Zeichen der Solidarität“ mit den friedlichen Demonstranten in Ägypten für Sonnabend (14.30 Uhr) aufgerufen. „Trotz vielfältiger Unterschiede erinnern uns die aktuellen Ereignisse in Tunesien, im Jemen und vor allem in Ägypten sehr an die
Tage der Friedlichen Revolution im Herbst des Jahres 1989 in der DDR“, heißt es in ihrem Aufruf.
Da kann man dann mal kucken, wie weit der Kairo-Virus sich schon im hiesigen Völkchen ausgebreitet hat.
In Berlin fanden und finden gleich mehrere Veranstaltungen über den arabischen Aufstand statt – zumeist von den Stiftungen der politischen Parteien, die per definitionem nicht in der Lage sind, eine Revolte reinen Herzens auf sich wirken zu lassen. Da können sie noch so viele Experten und Halbpromis einladen. Sie haben einfach kein reines Herz – nur Charakterschweine gehen in die Politik. Das zeigt sich schon daran, dass sie zwar über Ägypten diskutieren wollen, aber nicht mit Ägyptern. Abgesehen davon tun diese Arschlöcher alles, um Mehrheiten für sich zu gewinnen – es geht aber um das genaue Gegenteil: um ein Minderheits-Werden, denn nur Minderheiten sind produktiv.
Im Gegensatz zu den Stiftungen der Parteien läßt „Die Zeit“ in ihrer heutigen Ausgabe nur Ägypter zu Wort kommen: „Zukunftsvisionen aus der Mitte der Revolution“ heißt eine Seite.
„Ich glaube, die Stärke unserer Bewegung ist, dass sie eben nicht aus der Not geboren wurde. Viele haben sich aus innerer Überzeugung entschieden,“ sagt da die 26jährige Mitarbeiterin einer Kairoer Entwicklungsorganisation May Zeini.
„Ich habe alles auf Facebook verfolgt, aber meine Mutter hat mich nicht gehen lassen. Heute ist es ruhig und ich habe sie endlich rumgekriegt. Im neuen Ägypten, der Gesellschaft, die jetzt entstehen soll, werden Mütter ihren Töchtern so etwas nicht mehr verbieten können,“ sagt die 27jährige Redakteurin einer regierungsnahen Zeitung Rawda Fuad.
„Ich habe mich aus vollem Herzen auf die Seite der Revolution gestellt, und das bedeutet, dass ich nicht gut weiter der Sprecher des von der Regierung eingesetzten Scheichs al-Azhar sein kann,“ sagt der 62jährige Botschafter Mohammed Rifaa al-Tahtawi.
„Ich glaube an die Revolution. Die Ägypter haben ein gutes Herz und Humor,“ sagt die 46jährige Lehrerin Abeer Safwat Brewer.
„Ich habe bisher immer Karikaturen auf meine Facebook-Seite gestellt und darin die Grausamkeit der Regierung dargestellt. Als es dann auf die Straße ging, war ich natürlich dabei. Wir haben es geschafft, unseren Facebook-Widerstand in die Wirklichkeit zu verlegen. Hier auf dem Tahrikr entsteht ein neues Ägypten. Alles ist anders. Zum Beispiel gibt es nicht diese lästige Anmache, die sonst eine Pest ist. Das liegt daran, dass die jungen Männer ein Ziel haben und nicht genervt durch die Straßen stratzen und nichts anderes zu tun haben, als ihren Frust an Mädchen auszulassen…Wir haben hier schon zusammen gebetet und Messen gefeiert, Geburtstage und Hochzeiten. Und am Valentinstag machen wir ein großes Fest der Liebe. Diese Liebe für unser Land, das ist es, woran ich glaube,“ sagt die 30jährige Karikaturistin Samah Farouk.
Der Journalist Khaled Al-Khamissi (49) hat einen Zeit-Artikel geschrieben, der mit einigen Witzen beginnt, die man sich noch während der Auseinandersetzungen mit den Mubarak-Schlägern erzählt hat auf dem Platz. Er meint, „die jetzige Revolution wurde von Jugendlichen aus der unteren und oberen Mittelschicht begonnen, die für die Freiheit auf die Straße gingen,“ aber schon bald schlossen sich ihnen alle möglichen anderen Menschen an – bis hin „zu den Ärmsten der Armen. Mit Ausnahme der Profiteure des Regimes, die etwa 15% der Gesellschaft ausmachen würden. Das Militär und das Kapitel stehen noch an Mubaraks Seite. Sodann zählt der Autor auf, wen seiner Getreuen das Regime dennoch den Aufständischen zuliebe geopfert hat. Zu den wichtigsten Errungenschaften der Revolution gehört, „dass die patriotische Seele entfacht und der großartige Charakter dieses Volkes deutlich geworden ist. Der Weg hin zu einem zivilen, freien, menschlichen, schönen Staat ist lang, doch dieser Weg wird mit Steinen aus Licht gepflastert sein. Und niemand kann uns mehr davon abbringen.“
(Ich erinnere in diesem Zusammenhang daran, dass es im Koran von Licht-Metaphern nur so wimmelt, dass am Nil die Sonne ohn Unterlaß scheint und dass die alten Ägypter die Glühbirne erfunden haben – vor einigen tausend Jahren bereits, weswegen der amerikanische Emporkömmling Edison dort auch sämtliche Patentrechtsprozesse verloren hat.)
Der Schriftsteller Gamal al-Ghitani (65) wurde von der „Zeit“ interviewt:
„Ich bin meinem Schöpfer unendlich dankbar, dass ich diese Tage erleben darf,“ sagte er der Zeit-Redakteurin. (Ich habe fast genau das selbe gedacht 1967f in Bremen und Westberlin, 1974 in Lissabon, 1987 auf dem Tunix-Kongreß und 1989 in Ostberlin)
Weiter sagte Gamal al-Ghitani: „Es ist eine typisch ägyptische Revolution. Schauen Sie sich die Menschen auf dem Tahrir-Platz an: dieses Gefühl der Wärme und Zusammengehörigkeit, der Humor im Angesicht der Gefahr. Diese Jugendlichen zeigen, was wir in den letzten Jahren vermisst haben: ein sehr zivilisiertes Bild unseres Landes. Die Mädchen auf dem Platz werden nicht belästigt und der Müll wird in Abfalleimer geschmissen. Besonders berührt haben mich die Bewohner des Armenviertels Boulak. In der Nacht der Plünderungen hatten sie ein Geschäft ausgeräumt. Am nächsten Tag aber brachten sie die Waren zurück. Denn trotz ihrer Not möchten sie keine Diebe sein.“
Worin besteht das Wunder vom 23. Januar?
„Ich weiß es ehrlich gesagt nicht, aber es hat mit dem Tahrir-Platz zu tun. Wären die Jugendlichen woanders hingezogen, wäre es nicht so gekommen. Der Tahrir ist das politische Herz Kairos. Wichtig ist dort aber auch die Nähe zum Nil. Ohne Nil geht nichts. “
Wieso haben die Ägypter so lange geschwiegen und das Regime hingenommen?
„Es gehört zu ihrem Wesen, dass sie ewig stillhalten und es dann plötzlich zur Explosion kommt. …In unserem ‚Buch der Toten‘, in dem es eigentlich darum geht, wie die Menschen aus dieser Welt in die nächste gelangen, findet man bereits dieses lange Warten auf den richtigen Moment, sich zu bewegen.“
Hat sich Ägypten durch die Revolte schon unwiderruflich verändert?
„Nein. Wenn es uns nicht gelingt, schnell die angekündigten Reformen umzuszetzen, kann es dem Regime noch gelingen, die Uhr zurückzudrehen. dann droht das Chaos.“
Wie sehen Sie die Jugendbewegung?
„Ihr großes Verdienst ist, dass sie sich noch nicht hat vereinahmen lassen. Jetzt kommen lauter Politiker, die nichts mit der Revolution zu tun haben, und wollen für sie sprechen.“
Vielleicht sind die Menschen nach 30 Jahren Mubarak noch nicht in der Lage, von einem Tag auf den anderen Demokratie zu leben…
„Hören Sie mal! Wir hatten schon 1863 das erste Parlament. Wir sind nicht Saudi-Arabien. Wir sind ein Sonderfall. Und wenn Ihnen der Blick in die Geschichte nicht reicht: Schauen Sie auf den Tahrir. Da haben sie Ihre mündigen Bürger.“
Aber es gibt doch eine große Gruppe, die gegen die Revolution ist…
„Das liegt an der Gehirnwäsche der staatlichen Medien…Mich ärgert dieses Gerede, dass wir nicht reif genug seien…Viele mögen in den letzten Jahren auf die Ägypter herbageschaut haben, aber das hat sich schlagartig geändert. Wir sind wieder der Leuchtturm in der Region. Wir müssen jetzt nur aufpassen, dass der Tahrir-Platz nicht zur Folklore-Veranstaltung wird. Es gab ja schon Stimmen, die abfällig sagten: Lasst uns einen Hyde-Park daraus machen, dann können die Jugendlichen dort vor sich hin revoluzzen und wir können zur Tagesordnung zurückkehren. Das wäre eine Katastrophe. Ich wünsche mir doch so sehr, zumindest noch einen Tag in einem Ägypten ohne Mubarak erleben zu dürfen!“
(Wenn gesagt wurde, das, was jetzt in Kairo passiert, ist ein nachgeholtesn „68“, dann ist die Gefahr dort auf dem Tahrir-Platz real, denn wir haben „68“ vergeigt – mit Musik, Spaß, Drogen, Tanz und Endlosparties, eben mit juveniler Blödigkeit.)
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