Paris. Photo: afreakstream.com
Es bedarf übermässiger Kräfte, um krank zu bleiben, damit die Gesundheit auch weiterhin der Lüge überführbar bleibt!
„Alle Lebewesen verfügen über Schutzfunktionen – gegen eindringende Viren, Bakterien, Pilze und Parasiten. Denn praktisch alle Organismen sind ständig den Einflüssen der belebten Umwelt ausgesetzt; manche dieser Einflüsse stellen eine Bedrohung dar: Wenn schädliche Mikroorganismen in den Körper eindringen, kann dies zu Funktionsstörungen und Krankheiten führen. Schon einfache Organismen besitzen einen solchen Abwehrmechanismus, die so genannte angeborene Immunabwehr. Die Wirbeltiere entwickelten zusätzlich eine komplexe so genannte adaptive Immunabwehr, die sie noch effektiver vor Krankheitserregern schützt.“ (Wikipedia)
Aber sie schützt sie auch vor Einflüssen und Einflüsterungen zu ihrem Guten. Oder wenn sie sich dagegen entimmunisieren – und z.B. den „Kairo-Virus“ auf sich wirken lassen, ihm nachgeben, also ihn sich ausbreiten lassen, dann kann es früher oder später dennoch passieren, dass die Immunisierung gegen ihn wieder greift. Entweder breitet sich der Virus dann nicht mehr auf andere Individuen (und Völker) aus oder er wird in den einzelnen Individuen langsam abgetötet. In beiden Fällen stirbt die Revolte langsam, der Aufstand ebbt ab, wie die norddeutschen „Küstendenker“ sagen. Die Pariser Denker sprechen – mit Spinoza – von Affizieren und Affiziert-werden (einwirken, anregen): die Anregung breitet sich aus, die Erregung flaut ab.
Paris. Photo: beatsterchi.ch
Die vom „Kairo-Virus“ Betroffenen, Angeregten (wie z.B. eine ägyptische Ärztin aus London, die sofort nach Kairo flog, um auf dem Tahrirplatz Erste Hilfe zu leisten) gehen wieder zurück nach Hause, wo sie den ihnen Nahestehenden von ihren Eindrücken berichten – oft wehmütig und mit Tränen der Freude in den Augen. Manche sind nach diesem Virenbefall nicht mehr die selben Menschen. Und das ist schön!
Vielleicht gibt es keine andere wahrere Schönheit als dieses Rausgerissen-Werden aus einer zuvor als gesund begriffenen „Chreode“ (Lebenslauf-Bahn) – als sich einem Aufstand hinzugeben. Nicht zufällig wird in allen Revolten – seit der Französischen Revolution – eine junge schöne Beteiligte vorgeschickt oder neuerdings auf einen Mitkämpfer geschultert, damit alle sie vor Augen haben – heute vor allem die Pressephotographen. Sie ist Symbol und Ziel der Revolte. Sie verkörpert den „Kairo-Virus“: Ihre Lebendigkeit, Attraktivität soll andere dazu verlocken, ihre Immunabwehrmechanismen zu überwinden, d.h. sich ein Herz zu fassen – und den Aufständischen anzuschließen. Also mitzumachen. Und das hat auch noch jedesmal funktioniert (in den arabischen Männergesellschaften tut es natürlich zur Not auch ein schöner Jüngling mit Begeisterung in den Augen).
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„Es war einer jener Momente, in dem die Geschichte den Atem anhält,“ schreibt die Welt heute an diesem grauen Sonntag. „Der Sturz Mubaraks setzt ungeahnte Potenziale frei,“ heißt es weiter, aber das muß sich erst noch herausstellen.
Die taz-Redakteurin Doris Akrap schrieb in der Wochenendausgabe: „Alles, was man an einem normalen Tag in Berlin so unternimmt, um Party zu feiern, kam dieses Mal nicht infrage. Der place to be war an diesem Abend definitiv der Gazastreifen“. Gemeint war damit ein Abschnitt in der Neuköllner Sonnenallee, der von Arabern und ihren Läden dominiert wird. „Voller Überschwang radelte ich also nach Neukölln. Auf dem Weg aus der taz-Redaktion, in der schon Champagner, Rotwein und sonstige vorhandene Alkoholvorräte geleert wurden, sah ich einen jungen Mann, der gerade vom Fahrrad abgestiegen war und telefonierte. Bestimmt hatte er gerade einen Anruf aus Kairo bekommen, der ihn darüber informierte, dass der Pharao endlich zurückgetreten sei. Egal, ich konnte ihn nicht fragen, musste schnell weiterfahren, denn es war schon kurz vor 21 Uhr und bis zum Gazastreifen war es noch ein Stückchen und ich wollte in diesem historischen Moment unbedingt einem Ägypter um den Hals fallen.“
Überall auf der Welt fielen zur gleichen Zeit die Leute dem erstbesten Ägypter um den Hals, beglückwünschten ihn, fragten, wie es nun in Kairo weitergehe, diskutierten die Chancen des Aufstands: Breitet sich der „Kairo-Virus“ aus – oder wird er nach dem Rücktritt Mubaraks langsam eingedämmt und das „business as usual“ greift wieder? Dieser „Virus“ ist wie alle Viren kein eigenständiges Lebewesen – er braucht „das Leben“ anderer, um zu existieren und sich zu vermehren. Denn er hat keinen eigenen Stoffwechsel.
Die „Zeit“ will festgestellt haben: „Nach der Revolution – Kairo kehrt zurück zur Normalität. Nach 18 Tagen Ausnahmezustand braust wieder der Verkehr um den Tahrir-Platz. Junge Mubarak-Bezwinger räumen auf.“
Die Berliner Zeitung von morgen schreibt jedoch: Die „Jugendlichen der Revolte“ machen den Platz frei, „doch es kommen immer neue Menschen, die auch feiern wollen, manche sind extra aus der Provinz angereist.“ Und die Flugzeuge nach Kairo sind auch wieder voll. Außerdem streiken die Polizisten – und hier und da müssen deswegen wieder die „Jugendlichen der Revolte“ einspringen, um z.B. den Verkehr zu regeln.
Die Bundesregierung verspricht erneut Hilfe und „Geld für den Aufbau eines Rechtsstaats“. In Tunis überreichte die Westernwelle schon mal dem Blogger und Staatssekretär für Jugend und Sport Slim Amamou, der soeben eine „Internetgewerkschaft“ gründete, ein Dutzend „Schreibstifte mit dem Bundesadler“.Und Tunesiens Premierminister warnt: „Die Zeit arbeitet gegen die Revolution“.
Die „Junge Welt“ schreibt in ihrer Montagsausgabe: auf dem Tahrir-Platz ist „die Diskussion über die Zukunft voll im Gange“. Dann kommt die Militärpolizei und will den Platz räumen, das lassen die Demonstranten nicht zu, es kommt zu Rangeleien und Festnahmen. Veretreter der „Leute auf dem Platz“ beraten, was zu tun ist. Schließlich wird beschlossen, den Plätz zu räumen, aber jeden Freitag will man dort nun wieder demonstrieren – „bis alle Forderungen der Revolution vom 25. Januar erfüllt sind.“
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Die Nachrichtenagentur dpa meldet heute um 19 Uhr 11: „Nach dem Umsturz in Ägypten drückt die Militärführung aufs Tempo. Binnen sechs Monaten soll es Neuwahlen geben und das Parlament aufgelöst werden. Die Protestbewegung bleibt wachsam. „Wir können jederzeit zurück“, sagen die, die den Tahrir-Platz verlassen. Etwa 2000 Demonstranten harrten weiter aus und verlangten den Rücktritt der noch von Mubarak eingesetzten Regierung von Ministerpräsident Ahmed Schafik.
Schafik erklärte die Sicherheit im Land zur wichtigsten Aufgabe. Seine Regierung wolle Normalität herstellen – „von der Tasse Tee bis zur medizinischen Behandlung“, sagte der Ministerpräsident bei einer Pressekonferenz in Kairo. „Es sind nicht alle Forderungen erfüllt, aber die wichtigsten“, sagte der Demonstrant Mussab Schahrur, ein Anhänger der ägyptischen Jugendbewegung 6. April. „Aber das Volk kennt jetzt das Spiel. Es kann jederzeit wieder mobilisiert werden“, sagte er. Am kommenden Freitag wolle die Opposition auf dem Tahrir-Platz feiern.“
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AFP meldet: „Der Sturz des ägyptischen Präsidenten Husni Mubarak hat die regierungskritischen Proteste in der arabischen Region am Wochenende befeuert. Tausende Menschen forderten in Algerien den Rücktritt von Präsident Abdelaziz Bouteflika, im Jemen gingen ebenfalls Tausende gegen Staatschef Ali Abdallah Saleh auf die Straße.
In der Hauptstadt Algier kam es zu gewaltsamen Zusammenstößen mit der Polizei, die mit einem Großaufgebot von 30.000 Beamten einen Protestmarsch verhinderte. Aufgerufen zu den Protesten hatte ein kürzlich gegründetes Bündnis von Oppositionsparteien, Gewerkschaften und Menschenrechtsgruppen. Nach Angaben von Menschenrechtsaktivsten wurden landesweit mehr als 300 Menschen festgenommen. Die algerische Journalisten-Gewerkschaft SNJ warf den Sicherheitskräften vor, Reporter durch Angriffe mit Schlagstöcken und Festnahmen an der Beichterstattung gehindert zu haben.
Auch im Jemen demonstrierten erneut Tausende gegen den seit 32 Jahren regierenden Präsidenten Ali Abdallah Saleh. „Nach Mubarak ist Ali dran“, skandierten am Samstag rund 4000 meist junge Demonstranten, als sie in der Hauptstadt Sanaa von der Universität zum zentralen Tahrir-Platz zogen. Der Platz war jedoch seit Freitag von rund 10.000 mit Knüppeln und Messern bewaffneten Anhängern Salehs besetzt, die die Demonstranten zur Auflösung ihres Protestmarschs zwangen. Bei erneuten Protesten am Sonntag kam es zu Zusammenstößen mit der Polizei.“
In Italien sind binnen vier Tagen 5000 Bootsflüchtlinge aus Tunesien angekommen. „Für uns ist es unmöglich geworden, in Tunesien zu leben“, zitierten italienische Medien geflohene Frauen. Raubüberfälle und Gewalt seien an der Tagesordnung, niemand wisse, wer das Sagen habe. „Ich habe keine Arbeit und keine Möglichkeit zu überleben“, sagte ein junger Tunesier. Experten erläutern: Die Probleme Tunesiens sind mit der Flucht des Diktators Ben Ali nach 24 Jahren Herrschaft bei weitem nicht gelöst. Vielerorts herrscht Chaos, Arbeitslosigkeit und Armut. Polizei und Militär, die zuvor die nordafrikanischen Häfen überwachten, kümmerten sich in der aktuellen Situation nicht mehr um strenge Kontrollen.
Paris. Photo: drinkinanddronin.wordpress.com
In Italien demonstrierten heute in vielen Städten Frauen gegen „Sultan“ Berlusconi und für die „Würde der Frauen“. Reuters spricht von „Hunderttausenden“, die auf die Straße gingen. Hier hält jedoch der weibliche Teil der „Facebook-Generation“ in Größenordnungen dagegen und vertritt reaktionäre Positionen: „Viele seiner Anhängerinnen in dem überwiegend katholischen Land scheinen ihm auch den jüngsten Skandal nachzusehen: Sie organisierten schon in der vergangenen Woche Kundgebungen, um ihre Unterstützung für Berlusconi zu demonstrieren.“ Es handelt sich dabei wohl zumeist um junge Frauen, die später „irgendwas mit Medien“ machen wollen – und die gehören überwiegend Berlusconi.
In Strasbourg demonstrierten Zehntausende von Kurden für ein Autonomes Kurdistan und forderten die Freilassung des mit amerikanischer und israelischer Hilfe aus Kenia verschleppten PKK-Führers Abdullah Öcalan. Währenddessen trafen sich Vertreter der linken Kurden, Nordiren und Basken in Venedig zu einer internationalen Konferenz über Lösungsmöglichkeiten für nationale Konflikte.
Auf der Abschlußkonferenz des 10. Weltsozialforums in Dakar meinte der Sprecher des globalisierungskritischen Netzwerks Attac, das Forum sei „von den Revolten in Nordafrika“ geprägt gewesen. Man werde sich bemühen, das nächste Sozialforum gemeinsam mit Gruppen aus dem Maghreb und dem Nahen Osten zu organisieren. Schon am 19. und 20. März soll eins in Ägypten stattfinden.
Im Spiegel von morgen wird über sechs Seiten ein Streit zwischen einem afghanischen Buchhändler und einer norwegischen Journalistin geschildert: Sie wohnte vier Monate bei ihm in seiner Familie – und schrieb hernach ein Buch darüber, das den Buchhändler entsetzte: „Nun entscheiden Gerichte im Streit zweier Kulturen“. Der tolerante und weltoffene Kabuler Buchhändler war nach Meinung der Osloerin ein autoritärer alter Sack, der seine zwei Frauen schlecht behandelte und seine weiblichen Verwandten bevormundete. In der Sippe geschahen darüberhinaus auch noch furchtbare Verbrechen an den Frauen. „Noch nie habe ich so große Lust gehabt, auf jemanden einzuschlagen,“ schrieb die Journalistin, „immer provoziert mich dasselbe: die Art, wie die Männer die Frauen behandelten.“ Der Buchhändler sagt, abgesehen von einigen Lügen in ihrem Buch, gegen die er erfolgreich klagte, billige er auch einige darin geschilderte Dinge, die wirklich passiert sind, nicht – wie den Ehrenmord an seine Schwägerin und die Vergewaltigung einer Bettlerin in seiner Nähe, „aber bei uns spricht man unter keinen Umständen über so etwas.“ Seit einiger Zeit existiert auch eine Version des Buches in der afghanischen Amtssprache Dari. Der Spiegel scheint in dem Streit auf Seiten der Journalistin und ihrer Wahrheit zu stehen, während z.B. die Osloer Dichterin Tone Avenstroup sie als zu ideologisch verbrettert mit ihrem abstrakten Menschenrechtlertum ablehnt.
Berlin. Photo: modernhistorian.blogspot.com
Unterdes ließen sich heute die Taliban auf ihrer Internetseite über Ägypten und die Folgen aus. Sie sind davon überzeugt, dass die Regierung Afghanistans als nächstes gestürzt wird. Der Abgang Mubaraks zeige, dass „viele Waffen, Soldaten und ausländische Hilfe keine Regierung an der Macht halten können und sie nicht immer die Karawane der ‚Hoffnungen und Forderungen‘ einer Nation aufhalten können“.
In der Mitteilung hieß es laut AFP weiter, dass sich das afghanische Volk gegen die Regierung in Kabul auflehnen und diese wegen deren Korruption und der „Gräueltaten“ der USA während der knapp zehn Jahre andauernden Militärkampagne in dem Land stürzen werde. Zudem würden sich die USA am Ende gegen den afghanischen Präsidenten Hamid Karsai wenden, wie sie es bei Mubarak in Ägypten getan hätten. Darüber hinaus riefen die Taliban die Ägypter auf, eine islamische Regierung zu bilden und „die Verschwörung der ausländischen Feinde“ zu verhindern.
Malediven. Photo: fotosearch.com
In der FAS schreibt der ägyptische Schriftsteller Chalid al-Chamissi: „Werden Sie mir glauben, wenn ich Ihnen sage, dass die Oberfläche des Nils tanzt? Dass der Nil tanzt von den Freudenschreien seines Volkes, da sie den Sturz ihres Diktators feiern? Ja, so ist es. Millionen von Menschen rufen aus vollem Hals: ‚Erhebe dein Haupt, du bist Ägypter!'“
In einem Kommentar der FAS heißt es: „Anders als etwa in Ägypten hat der Umsturzeifer in Stuttgart nachgelassen.“
AP meldet: „Der Oberste Militärrat in Ägypten hat am Sonntag das Parlament aufgelöst und die Verfassung außer Kraft gesetzt. Das teilte das Gremium in seinem jüngsten Kommuniqué mit.
„Sie haben definitiv damit begonnen, uns das anzubieten, was wir wollten“, sagte die Aktivistin Sally Tuma. Damit fasste sie jene Mischung aus Vorsicht und Optimismus in Worte, die derzeit die Demonstranten bewegen. Ihnen geht der Wandel noch nicht weit genug, schließlich warten sie noch immer auf eine Aufhebung der repressiven Notstandsgesetze.
Durch die Aufhebung der Verfassung gilt in Ägypten effektiv das Kriegsrecht. Demnach machen die Streitkräfte die Gesetze, die von Militärgerichten durchgesetzt werden.“
Eine Korrespondentin der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung (FAS) berichtet aus Gaza: „Die Revolution ist in aller Munde, man fiebert mit mit den Menschen auf dem Platz der Befreiung in Kairo, als ob es um die eigene Befreiung gehen würde. Die Jugendlichen tauschen im Minutentakt Neuigkeiten auf Facebook und Twitter aus…Es ist neue Hoffnung entfacht in Gaza, durch die Symbolkraft der Bilder eines Volkes, das vereint im Kampf um Freiheit seinen verhassten Diktator bekämpft, durch die Möglichkeit einer Veränderung nach der Revolution, wer weiß, vielleicht könnte das neue Ägypten endlich zu Hilfe kommen. Und wer weiß, ob der Funke des Feuers der Revolution nicht auch nach Gaza überschlägt. Das ist die Hoffnung der Jugend, das ist die Hoffnung derer, die vor ein paar Wochen das sensationelle ‚Gaza Youth Breaks Out‘-Manifest verfaßt haben.“ Die Korrespondentin befragte einen der Mitverfassser dieses „Facebook“-Pamphlets, was hat sich seit seiner Veröffentlichung verändert? „Die Jugend hat jetzt revolutionäre Herzen,“ sagte er.
Der Feuilletonchef der FAZ, Patrick Bahner, hat sich heute in der FAS die „Islamkritiker“ – in den USA, Frankreich und Deutschland vorgenommen, die nichts anderes als „Panik schüren – aus Angst vor der Angst“. Statt des Islam geraten seine Kritiker und Warner jetzt also langsam ins Visier der Medien. Die Pariser Medienphilosophen haben bereits Selbstkritik geleistet.
In der „Welt“ hetzt der so genannte Historiker „Stürmer“ jedoch noch weiter – diesmal gegen den islamischen Sender Al Dschasira, der während des Kairoer Aufstands sein Bestes gegeben hat. Die taz ist dagegen in einem Artikel von morgen voll des Lobes über diesen Sender: Sein Erfolgsrezept, schreibt sie: „eine enge Symbiose zwischen Publikum und Sender“. In der Süddeutschen Zeitung von morgen wird der Nahost-Experte und Al Dschasira-Kenner Hugh Miles zitiert: „Seit Jahren prophezeien viele Araber, dass der Sender helfen wird, eine Revolution in Nahost herbeizuführen. 15 Jahre nach seiner Gründung wird diese Ankündigung nun offenbar wahr.“
Die Kairoer taz-Kolumnistin Nora Mbagathi hat heute ihr Studium „Nahostwissenschaften“ wieder aufgenommen, sie muß jetzt ein ganzes Semester lang „Revolutionen analysieren“ – das stimmt sie „nicht gerade fröhlich“. Sie hat noch „Tahrir-Entzugserscheinungen“, wie sie vermutet. Für den Kommentator der FAZ von morgen waren die Tahrir-Ereignisse dagegen bloß eine „Inspiration: „Mubaraks Sturz ist ein Rückschlag für jene im Westen und in Israel, die der Auffassung sind, nur autoritäre Regime könnten Stabilität im Nahen Osten garantieren, nicht aber demokratische Ordnungen.“ Da haben wir sie wieder – die magischen Wörter der Spießbürger: Stabilität, Ruhe und Ordnung – nur dass sie nun von den Aufständischen „garantiert“ werden sollen. Im übrigen weiß man in dieser FAZ-Ausgabe bereits: „Schon wachsen die Zweifel, ob es die neue Führung des Landes ernst meint mit dem Versprechen, die Grundlagen für eine demokratische Ordnung zu schaffen.“
In mehreren deutschen Zeitungen wird den Aufständischen im Nahen Osten die Türkei als Vorbild hingestellt, zum Glück liest dort niemand diesen Scheiß: in der Türkei sind die Gefängnisse voll mit jungen kurdischen Aufständischen und täglich gehen Polizei, Militär und Geheimdienst gegen Kurden vor. Die reichen Türken werden immer dreister und unverschämter, die Armen immer verzweifelter.
In China hoffen die Regierungsmedien ebenfalls auf eine schnelle Rückkehr zu Stabilität und Ordnung im Nahen Osten, während es im chinesischen Internet heißt: „Seit heute sind wir alle Ägypter“, schreibt Mark Siemons in der FAZ von Morgen. „Ich bin überzeugt, dass unsere Welt eine neue historische Entwicklungsstufe erreicht hat,“ schreibt der Blogger Xing Hong. Und der Blogger mit dem Pseudonym „Jeden Tag das Meer anschauen“ meint: „Das Gute ist ja gerade, dass die Ägypter die Stabilität nicht bewahrt, sondern einen Wandel erreicht haben.“
In der FAS hat sich Philipp Spalek die Berichterstattung des fürchterlichen ägyptischen Staatsfernsehens vorgenommen: Dort „wurde die Revolution zur surrealen Erfahrung: Erst fand sie nicht statt, dann kam sie von außen, jetzt ist sie eine historische Leistung.“
London. Photo: royarden.com
Auch in dem von fremden Teufeln besetzten Irak wirkt sich das „Feuer der ägyptischen Revolution“ aus, ähnlich wie in Afghanistan jedoch vorerst nur durch vermehrte Attentate und Selbstverbrennungen. dpa meldet heute: „Bei einem Selbstmordanschlag auf einen Bus mit schiitischen Pilgern sind im Irak mindestens 33 Menschen getötet worden. Weitere 28 wurden nach Angaben von Sicherheitskräften verletzt, als der Attentäter am Samstag in dem Bus seinen Sprengstoffgürtel zündete. In der nordirakischen Stadt Mossul zündete sich am Sonntag ein Arbeitsloser selbst an und kam in den Flammen ums Leben.
Die getöteten Pilger waren auf dem Weg nach Samarra,wo sie zwei Moscheen besuchen wollten. Die rund 110 Kilometer nördlich von Bagdad gelegene Stadt wird wegen ihrer schiitischen Heiligtümer derzeit von vielen Pilgern aufgesucht. Erst am Donnerstag waren sechs Schiiten auf dem Weg nach Samarra bei einem Autobombenanschlag getötet worden. 40 weitere erlitten Verletzungen.
Der 31-jährige Mann in Mossul verbrannte sich selbst, weil er keine Arbeit finden konnte, teilte die Polizei mit. Am 17. Dezember des Vorjahres hatte sich der Tunesier Mohammed Bouazizi aus Verzweiflung über die Lebensumstände in seinem Land auf einem Marktplatz angezündet. Dies bildete den Auftakt zu wochenlangen Unruhen, die zum Sturz des tunesischen Präsidenten Zine el Abidine Ben Ali führten. Seitdem fand Bouazizi Nachahmer im Jemen, in Algerien, Ägypten und Mauretanien.
In Bagdad wurde am Sonntag ein Polizist erschossen. Wie die Nachrichtenagentur Aswat al-Irak berichtete, hatten Unbekannte im Stadtteil Tarmija das Feuer auf eine Patrouille eröffnet. Zwei weitere Polizisten seien verletzt worden.“
Kairo. Photo: news.de.msn.com
Aus dem Iran meldet AFP: „Der Sturz von Ägyptens Präsident Husni Mubarak ist für den Iran der Anfang vom Ende der Vollendung der islamischen Revolution. Dass der Abgang des von den verhassten USA unterstützten Mubaraks ausgerechnet am 32. Jahrestag der islamischen Revolution im Iran erfolgte, sieht die Führung in Teheran als gutes Omen. Für die iranische Opposition und Washington ist diese Interpretation dagegen eine bewusste Umdeutung, mit der Teheran von den Spannungen im eigenen Land ablenken will. Schon Anfang Februar hatte das geistliche Oberhaupt des Iran, Ayatollah Ali Chamenei, die Aufstände in Tunesien und Ägypten als „Zeichen des islamischen Erwachens“ in der Welt bezeichnet und zur Gründung islamischer Regierungen in den betroffenen Staaten aufgerufen.
Die iranische Regierung scheint zunehmend nervös. Gerade leitete Teheran eine neue Verhaftungswelle ein, eine für Montag von der Opposition beantragte Solidaritätskundgebung mit dem ägyptischen und tunesischen Volk wurde verboten – eine Genehmigung für „Aufruhr“ gebe es nicht, sagte ein Vertreter des Innenministeriums dazu am Sonntag. Und der Führer der Bassidsch-Miliz, Mohammed Resa Naghdi, warf „westlichen Geheimdiensten“ vor, einen Aufstand schüren zu wollen. Dazu suchten sie eine „geistig zurückgebliebene Person, die sich selbst anzündet, um die Ereignisse in Tunesien und Ägypten zu kopieren“.
Dies ist jetzt die Stunde der Interpreten des arabischen Aufstands. Möge Allah ihrer verdammten Seele gnädig sein. Es gibt immer zu viel Deutung und nie genug Fakten. Die Akte durch Deutung sind am gefährlichsten für die Freiheit.
Kairo. Photo: dasgelbeforum.de.org
An dieser Stelle sollte man vielleicht über die Selbstverbrennung aus Protest gegen Unfreiheit und Ausweglosigkeit in der Geschichte berichten:
Beinahe täglich überschüttet sich heute irgendwo auf der Welt – vor einem Gericht, auf einem Marktplatz, in einem Rathaus oder Finanzamt – ein Mensch in äußerster Bedrängnis mit Benzin und zündet sich an. Nur die wenigsten tauchen hernach kurz in einer Nachricht namentlich auf. Alle zusammen bilden sie jedoch bereits eine große Protestbewegung, die mit dem eigenen Tod für ein menschenwürdigeres Leben einsteht. Manchmal hinterlassen die Täter-Opfer einen Brief, in dem sie versichern, dass sie nicht verrückt sind. Das Phänomen begann spätestens mit dem „ersten Medienkrieg“ der Geschichte:
Am 11.Juni 1963 verbrannte sich in Hué der buddhistische Mönch Thich Quang Duc – aus Protest gegen den „Vietnamkrieg“ der Amerikaner und die Politik ihrer Marionettenregierung in Saigon. Seine Selbstverbrennung wurde von einem Fernsehteam gefilmt, dessen Aufnahmen hernach überall auf der Welt ausgestrahlt wurden. Thich Quang Duc folgten in den darauffolgenden Jahren einige weitere vietnamesische Mönche. Zu den Augenzeugen der Selbstverbrennung von Thich Quang Duc gehörte der US-Reporter David Halberstam, er berichtete: „Flammen schlugen aus einem Menschen empor; sein Körper verdorrte und schrumpfte langsam, sein Kopf schwärzte sich und verkohlte. Der Geruch brennenden Menschenfleisches lag in der Luft; Menschen brennen verblüffend schnell. Hinter mir konnte ich das Schluchzen der Vietnamesen vernehmen, die sich nun zusammenfanden. Ich war zu erschüttert, um zu weinen, zu durcheinander, um mir Notizen zu machen oder Fragen zu stellen, sogar zu bestürzt, um überhaupt zu denken … Während er brannte, bewegte er keinen einzigen Muskel, gab keinen Laut von sich und bildete damit durch seine sichtliche Gefasstheit einen scharfen Gegensatz zu den klagenden Leuten um ihn herum.“
In Warschau verbrannte sich am 8. September 1968 der ehemalige Partisan der Heimatarmee (AK) Ryszard Siwiec während des nationalen „Erntedankfestesfestes“ auf einer Tribüne im vollbesetzten Stadion von Praga, dem heutigen „Jarmark Europa“. Ryszard Siwiec wollte damit gegen die antisemitische Kampagne der Regierung und den Einmarsch der Truppen des Warschauer Pakts in die Tschechoslowakei protestieren. Seine Selbstverbrennung wurde vom staatlichen Fernsehen aufgenommen, jedoch nie gesendet.
Erst 1991 fand sich ein Regisseur, Maciej Drygas, der das Material aufstöberte und daraus einen Film machte: „Uslyszcie moj Krzyk“ (Höre meinen Schrei). Drygas suchte darin nach den Gründen für diese außergewöhnliche und extreme Tat, wobei die Dramatik seines Films dem Ereignis seine maximale Aufmerksamkeit zurück zu geben versuchte. In den Archiven war der Vorfall als „Unfall“ abgelegt worden – Siewiec galt als „Verrückter“ und „Psychopath aus Przemysl“, über seine Tat durfte nicht berichtet werden. Den Feuerwehrleuten, die man für ihren Einsatz belohnte, sagte man, es handelte sich um die Tat eines „Unzufriedenen, eines „Systemfeindes“. Eine im Stadion passiv gebliebene Zuschauerin entschuldigt sich fast: „Ich habe erst später von all diesen Ungerechtigkeiten – Katyn und so – erfahren“. Im Film kommen außer Augenzeugen vor allem Leute zu Wort, die ihn näher kannten, u.a. seine Frau und seine fünf Kinder. Sie bezeichnen ihn als schweigsam und bibliophil. „Als die Studenten 1968 von den so genannten Arbeitern verprügelt wurden, fühlte er sich selbst angegriffen. Er hasste das Regime und wollte für die polnische Sache kämpfen“. Einem seiner Söhne hinterließ er „Gegenstände aus dem Warschauer Aufstand“, die Selbstverbrennung seines Vaters nennt dieser „eine große Heldentat“.
Der 1909 geborene Siewiec hatte Philosophie studiert und arbeitete zuletzt als Buchhalter, nebenbei züchtete er Hühner und besaß einen Garten. Am Tag der Tat bat er seine Frau, seinen Anzug zu bügeln, er müsse auf eine Dienstreise. Sie sagt, er war ein Unbedingter, „so aufrecht, dass man es kaum ertragen konnte. Beim letzten gemeinsamen Weihnachtsfest saß er schon wie ein Fremdkörper in der Familie.“ Im Zug nach Warschau schrieb er ihr einen Abschiedsbrief, u.a. hieß es darin: „Ich fühle mich stark“. In seiner Tasche hatte Siwiec Flugblätter dabei, in denen er erklärte, seine Selbstverbrennung geschehe aus Protest gegen die Sowjetunion und ihre verbrecherische Diktatur. Den Text hatte er zwei Tage zuvor auch auf ein Tonband gesprochen, das er hinterließ, es endete mit den Worten: „Hört meinen Schrei!“. Zuvor hatte er bereits mehrere andere Flugblätter auf seiner Schreibmaschine verfaßt. Als er brannte, schrie er mehrmals „Weg mit Gomulka!“ Der Priester und Philosoph Jozef Tischner erklärte dazu im Film: „Indem er es den buddhistischen Mönchen nachtat, vollzog er einen Akt der Selbstvernichtung, der gleichzeitig ein schöpferischer Akt war.“ Ein TV-Reporter, der damals das Erntedankfest im Stadion kommentierte und Siwiec brennen sah, meint dagegen im Film: „Das war für mich ein relativ wirkungsloser Protest“ – denn das Fest wurde nicht unterbrochen. Geschmückte Frauen auf den Schultern von ebenfalls folkloristisch gekleideten Männern winkten den Prominenten auf der Ehrentribüne mit Papierblumensträußen zu. Ein Brot wurde von einer Delegation mit Gomulka in der Mitte auf einen Gabentisch gelegt. Hunderte von Jungen und Mädchen tanzten Krakowiak und Mazurka. Sie hörten auch nicht damit auf, als wenige Meter entfernt von ihnen Siewic brannte und die ihm nächst stehenden Zuschauer versuchten, das Feuer mit ihren Jacken zu löschen. „Die Musik war zu laut, um seine Rufe zu verstehen“. Quälend lang werden diese nun von Drygas gezeigt – mit einem gleichsam Edvard Munch nachempfundenen Schrei ohne Ton endet der Film. Siwiec lag noch vier Tage im Krankenhaus, bis er am 12.September starb. Erst im Mai 1969 verbreitete Radio Free Europa die Nachricht von seiner Selbstverbrennung.
Tunis. Photo: stuttgarter-zeitung.de
Nachdem Maciej Drygas 1991 den Film darüber gezeigt hatte, dauerte es noch einmal 12 Jahre, bis der gewendete Kommunist Alexander Kwasniewski als Staatspräsident Riyszard Siwiec posthum einen Orden verlieh. Dieser wurde von der Familie des Toten jedoch zurückgewiesen. Inzwischen hat man im Stadion von Praga eine Gedenktafel angebracht und am 4. September 2006 wurde Siwiec ein Orden von der Slowakei verliehen, den seine Kinder in Empfang nahmen. Sie bedankten sich außerdem bei Drygas für den Film über ihren Vater.
In Polen erschien 2006 ein Roman „Weder Fisch noch Fleisch“ (Ni pies, ni wydra) von Viktoria Korb – über das Jahr 68. Die Autorin war als aufmüpfige Studentin und Jüdin im „März 1968“ ein Opfer der antisemitischen Kampagne der polnischen Arbeiterpartei geworden – und daraufhin nach Westberlin emigriert. An einer Stelle erwähnt die Autorin kurz, dass davon gesprochen wurde, im Stadion von Praga habe sich angeblich jemand aus Protest gegen die Politik der Regierung und der Invasion in der CSSR verbrannt. Dazu erklärte sie mir jetzt: „Damals war dieses Hinausdrängen der Juden, die wir uns zuvor überhaupt keine Gedanken über unser Juden-Sein gemacht hatten, so erschütternd, dass wir diese Selbstverbrennung nur ganz am Rande als Gerücht oder Nachricht wahrnahmen, und deswegen habe ich es im Roman auch nur so kurz erwähnt.“
Ebenfalls aus Protest gegen den Einmarsch der Roten Armeen in der Tschechoslowakei verbrannte sich im Januar 1969 auf dem Wenzelsplatz in Prag der Philosophiestudent Jan Pallach. In seinem Abschiedsbrief schrieb er: „Meine Tat hat ihren Sinn erfüllt. Aber niemand sollte sie wiederholen.“ Die Regierung versuchte danach – stets vergeblich – zu verhindern, dass man seiner alljährlich am 16.1. öffentlich gedachte und bemühte sich im übrigen, die Mär zu verbreiten, dass hinter seiner Tat eine ganze (konterrevolutionäre) Gruppe stecke, deren Opfer Pallach quasi geworden war. Erst nach 1989 wagte es die Ärztin, die ihn bis zu seinem Tod behandelt hatte, über ihre auf Tonband aufgezeichneten Gespräche mit Pallach öffentlich zu berichten: Danach hatte er ihr gesagt, dass er seine Tat bei vollem Bewußtsein ausgeführt habe und dass es keine Hintermänner oder Komplizen gäbe. Inzwischen wurde der Platz vor der philosophischen Fakultät der Prager Universität nach ihm benannt und eine Tafel am Gebäude angebracht, dass an ihn und seine Tat erinnert.
Weniger bekannt als Jan Pallach ist der Student Jan Zajic, der sich – ebenfalls aus Protest gegen die sowjetische Besetzung seines Landes – einen Monat später als „Fackel Nr. 2“ auf dem Wenzelsplatz mit Benzin übergoß und verbrannte. In seinem Abschiedsbrief an seine Eltern und Geschwister schrieb er: „Nehmt es mir nicht übel. Wir sind in der Welt leider nicht alleine! Ich tue es nicht deswegen, weil ich lebensmüde bin! Ich tue es deswegen, weil ich das Leben so hoch schätze! Ich hoffe, ich werde das Leben mit meiner Tat besser machen! Ich kenne den Preis des Lebens! Ich weiß, dass es das teuerste ist!“ Heute erinnert eine Gedenkstätte vor dem Nationalmuseum an ihn. Wieder zwei Monate später, am 4.April 1969, verbrannte sich der Arbeiter Evzen Plocek auf dem Marktplatz von Jihlava – aus den selben Gründen, doch weil diese Tat in der Provinz geschah, blieb Plocek noch unbekannter als Zaciz.
1976 verbrannte sich in Zeitz der Pfarrer Oskar Brüsewitz – gleichfalls aus Protest gegen die kommunistische Staatspolitik. In seinem Abschiedsbrief deutete er an, dass für ihn der „Kampf“ zwischen Christentum und Kommunismus einer zwischen „Licht und Finsternis“ sei. Mit seiner Selbstverbrennung wollte er in dieser Auseinandersetzung Stellung beziehen. 2006 erschien ein Buch von Karsten Krampitz u.a.: „Erinnerungen an Oskar Brüsewitz“. Außerdem tauchte im Internet eine Wikipedia-Eintragung zum Thema „Selbstverbrennung“ auf, wo es etwas dumpf heißt: „Die Selbstverbrennung ist eine extrem schmerzhafte und wenig erfolgversprechende Suizidmethode.“
Im März 1980 verbrannte sich in Krakau, an einen Brunnen des Hauptmarkts, gekettet ein älterer Mann namens Walenty Badylak. Mit seiner Tat wollte er gegen die Demoralisierung der Jugend, gegen die Vernichtung der ehrlichen Handarbeit und gegen das Schweigen über „Katyn“ protestieren.
Dort – in einem Wald bei Smolensk – hatten zu Beginn des Jahres 1940 Einheiten des sowjetischen Geheimdienstes NKWD mehrere Tausend polnische Offiziere und Zivilisten ermordet. Die kommunistische Propaganda machte für das Massaker stets die Deutschen verantwortlich, die 1939 Polen überfielen – und Millionen töteten. Erst 1990 gab Michail Gorbatschow die sowjetische Alleinschuld an „Katyn“ zu. Seitdem gibt es auch einige DDR-Historiker, die Bücher über „Die Wahrheit von Katyn“ veröffentlichen, darüberhinaus erschien im Dietz-Verlag 1991 Czeslaw Madajcyzyks „Drama von Katyn“ auf Deutsch. Die Selbstverbrennung, so sie bekannt und medial verbreitet wird, gilt als eine heldenhafte Form von Protest. Walenty Badylak tötete sich sozusagen für die Wahrheit von „Katyn“.
Aber dann wurde – mit dem Zusammenbruch des Kommunismus – mehr und mehr das Private politisch. Weil seine Familie aus Deutschland abgeschoben werden sollte, verbrannte sich 2003 der Roma-Flüchtling Lata Aradinovic im Foyer des Rathauses der norddeutschen Kreisstadt Syke.
Im selben Jahr verbrannten sich zwei tschechische Studenten, kurz zuvor hatten sich bereits drei andere junge Tschechen mit Benzin übergossen und angezündet. Damit hatten sich in den ersten vier Monaten des Jahres 2003 bereits so viele junge Tschechen verbrannt wie zwischen 1996 und 2002. Die Diskussion in der Öffentlichkeit konzentrierte sich dann vor allem auf den Selbstmord des 19jährigen Zdenek Adamec, der sich im März 2003 auf dem Prager Wenzelsplatz angezündet hatte. Der „Computerfreak aus Ostböhmen“ (taz) hatte als Grund für seinen Selbstmord u.a. „Unzufriedenheit mit den Zuständen“ in Tschechien angegeben: „Bitte macht keinen Verrückten aus mir,“ schloss er seinen Abschiedsbrief. Der tschechische Psychologe Petr Brickcin sprach im Zusammenhang der Selbstmordwelle in seinem Land von einer „gesamtgesellschaftlichen Depression“, die Selbstverbrennung bezeichnet er als das Verlangen, „beachtet zu werden“.
Am 9.März 1995 zündete sich der in die USA emigrierte und dort obdachlos gewordene ehemalige polnische Förster Zbigniew K. aus Augustow in Manhattan – in den Räumen des Roten Kreuzes – an. Viele Mitglieder seiner Gemeinde, die der Arbeit wegen nach Amerika auswanderten, kämen „in Metallsärgen zurück“, meint der Pfarrer in Augustow.
2004 versuchten fünf Falungong-Anhänger aus Kaifeng, sich auf dem Platz des Himmlischen Friedens in Peking zu verbrennen, wobei eine der Beteiligten wenig später im Krankenhaus starb. Während die Falungong-Gesellschaften von einem staatlich inszenierten Attentat sprechen, vermutet die Regierung laut ihrer Botschaft in Berlin, dass der Sektenführer Li Hongzhi sie in den Selbstmord getrieben habe. Dies wird bei Massenselbstmorden von Sekten oder sektenähnlichen Organisationen fast immer vermutet bzw. unterstellt. Beginnend spätestens 1978 mit der Selbsttötung von 921 Anhängern der Jim-Jones-Sekte in der guayanischen Urwaldsiedlung Jonestown. 2005 erschien dazu der Bericht einer Überlebenden – auf Deutsch: „Selbstmord im Paradies“. Zwischen 1994 und 1997 brachten sich ferner 82 Mitglieder der Sonnentempler in der Schweiz, in Frankreich und in Kanada um. 2000 verübten in Uganda sogar über 1000 Anhänger der „Bewegung zur Wiedereinführung der zehn Gebote“ kollektiven Selbstmord. In Indien verbrannten sich kürzlich ebenfalls mehrere Anhänger einer Sekte.
Für die bürgerliche Presse gehören auch noch die Selbstverbrennungen von PKK-Mitgliedern nach der Verhaftung ihres Vorsitzenden Öcalan in diese Reihe, ebenso wie die Selbstverbrennungen von Mitgliedern der iranischen Volksmujaheddin im Exil – aus Protest gegen die Regierungspolitik in Teheran. Neuerdings spielt dabei gelegentlich das Internet mit: In Japan verabreden sich z.B. immer mehr Jugendliche via Internet, um gemeinsam Selbstmord zu begehen. Und in Oregon wollte jüngst ein 26jähriger mithilfe von Webcams einen Massenselbstmord von 32 Personen koordinieren und realisieren. Schon gibt es einen kleinen Bestseller (in der Edition Lübbe) – mit dem Titel „Der wunderbare Massenselbstmord“, wie ebenso auch „Ratgeber“ zur Verhinderung von „spontanen Selbstverbrennungen“ – die „noch immer Rätsel aufgeben“.
In einigen Kulturkreisen sind sie zudem stärker verbreitet als in anderen – In Korea z.B.. Dort verbrannte sich 2002 ein Gewerkschaftsführer, nachdem sein Tarifabschluß mit Unternehmen der Stahlindustrie von den Arbeitern kritisiert worden war. Und jüngst verbrannte sich ein koreanischer Tiermediziner – um die durch die Fälschungen des „Klonforschers“ Hwang Woo Suk diskreditierte Gentechnik wieder zu rehabilitieren. Einer der bekanntesten koreanischen Schriftsteller Ko Un erzählt: Einen Bruch in seinem Leben gab es zur Zeit der Militärdiktatur unter Park Chung Hee. Er bezeichnet die öffentliche Selbstverbrennung des Textilarbeiters Chon Tae Il im November 1970 in Seoul als sein einschneidendstes Erlebnis, das ihn aus seinen damaligen Selbstzweifeln aufgeschreckt habe. Chon hatte sich aus Protest gegen die Verhinderung eines Arbeitsgesetztes durch die Regierung selbst angezündet. „Ich sah auf mich selbst zurück, wer ich bin,“ sagt Ko heute. Danach habe eine Schaffensphase eingesetzt, die vor allem durch ein politisch engagiertes, realistisches Schreiben gekennzeichnet sei.
Der kalifornische Autor Mike Davis kam 2005 in einem Essay über die Geschichte der Autobombe ebenfalls auf das Selbstbrandopfer zu sprechen – insofern die von der IRA quasi erfundenen Autobomben ab 1983 von der palästinensischen Hisbollah mit dem Selbstmord-Attentäter als „Kamikaze-Kämpfer“ bzw. Märtyrer verbunden wurde. Diese Form der Selbstverbrennung in einem explodierenden Auto, wobei es oftmals gerade darum geht, andere, d.h. möglichst viele Menschen, mit in den Tod zu reißen, wird heute im Irak und in einigen anderen islamischen Ländern fast täglich praktiziert. Sie ähnelt eher dem Amokläufer als dem Selbstmörder, der mit seiner öffentlichen Verbrennung gegen unzumutbare gesellschaftliche Zustände protestiert. Letzteren wird man auch kaum als Attentäter oder Terroristen bezeichnen. Dennoch deuten z.B. auch die Taten der amoklaufenden Schüler in Colombine und Erfurt noch direkt auf gesellschaftliches „Unrecht“ hin, wie das der ostdeutsche Schriftsteller Lutz Rathenow nannte – insofern sind sie auch ein Protest dagegen, der etwas bewirken, d.h. ändern will. Dem Westen ist die scheinbar leichte Sterbebereitschaft von jungen Islamisten zunehmend ein Rätsel, so dass immer mehr Psychogramme von Selbstmordattentätern veröffentlicht werden. Der in Deutschland lebende iranische Islamwissenschaftler Navid Kermani kommt in seinem Essay – „Dynamit des Geistes“ – zu dem Schluß: „Durch eine einzige, unbedingt öffentliche Tat gewinnt der Amoktäter ein Surrogat für das, was einer modernen Gesellschaft beinah per definitionem fehlt: ein umfassender Sinnzusammenhang, der dem Individuum seinen Platz zuweist…Aus der Nichtigkeit schwingt der Amoktäter sich auf zu Gott.“ Dies kommt dem nahe, was einer der Söhne von Riyszard Siwiec sagte: „Nur ein vereinsamter Mensch wie mein Vater war zu einer solchen Tat fähig“. Und seine Mutter erinnerte sich: „‚Zuerst kommt Gott, dann Vaterland und Familie‘, hat er immer gesagt.“
Auf der Bonner Hardthöhe erläuterte uns bereits 1998 ein Bundeswehr-Major die neue NATO-Verteidigungsdoktrin – die gegen einen solchen oder ähnlichen „Sinnzusammenhang“ (N. Kermani) gerichtet ist: „Sie ist nicht mehr nach Rußland hin angelegt, die russischen Soldaten haben inzwischen die selbe Einstellung zum Krieg wir wir auch – sie wollen nicht sterben! Außerdem ist die Stationierung von Atomwaffen in Ungarn und Polen z.B. so gut wie gesichert, es geht eigentlich nur noch darum, wie viel wir dafür zahlen müssen. Ganz anders sieht es jedoch bei den Arabern aus, mit dem Islam. Deswegen verläuft die neue Verteidigungslinie jetzt auch“ – Ratsch zog er hinter sich eine neue Landkarte auf – „etwa hier: zwischen Marokko und Afghanistan“.
Abschließend sei noch hinzugefügt, dass es zwar auch in Russland gelegentlich Selbstverbrennungen gab – und wohl auch noch gibt. So verbrannten sich z.B. mehrere Mitglieder einer Sekte im Kaukasus, wo es von Sekten wimmelt. Vor allem kommt die Selbstverbrennung jedoch in der russischen Literatur und Kunst vor. Einige wenige seien hier genannt: In Andrej Platonows Erzählung „Die Frau des Kerosinverkäufers“ geht es um den „Traum“ einer öffentlichen Verbrennung; in einem Roman des in München lebenden Autors Wladimir N. Woinowitsch versucht ein Mann einen Prominenten zu überreden, sich zu verbrennen, alles anders würde er für ihn erledigen; und der Moskauer Performancekünstler Oleg Kulik veranstaltete einmal an und mit sich eine „Verbrennungsaktion“, die wie viele seiner Aktionen schmerzhaft war. Die letzten Selbstverbrennungen – in Kirgistan, in der Ukraine und in Moskau, wo sich zwei Homosexuelle mit Benzin übergossen – wurde vereitelt. In der russischen Presse sind sie ein sozusagen ständiges Thema, wobei man die versuchte oder vereitelte Selbstverbrennung gerne auf den neuen westlichen Einfluß zurückführt. Als genuin russisch wird dagegen das sich zu Tode saufen aus Protest begriffen, d.h. dass die Menschen sich innerlich statt äußerlich anzünden, verbrennen. Der dies thematisierende Roman „Die Reise nach Petuschkin“ von Wenedikt Jerofejew ist geradezu ein Kultbuch geworden – auch in Deutschland. Hier nahmen einige Künstler auch die Aktionskunst eines Kulik in gewisser Weise bereits vorweg.
Tunis. Photo: am.blogspot.de