vonHelmut Höge 09.02.2011

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Demonstration auf dem Tahrir-Platz. Photos: alischirasi.blogsport.de/zdf.d/aljazeera.net


30.Jan. (So)

Anhaltende Unruhen in der Hauptstadt. Es brennen mehrere öffentliche Gebäude, die nicht mehr gelöscht werden. Es gab wieder Tote. Museen und Kaufhäuser wurden geplündert. Die Börse geschlossen. Es kam zu mehreren Gefängnisausbrüchen, Plünderer- und Rauberbanden mehren sich. Ärzte verteidigten ihr Krankenhaus mit Molotowcocktails. „Das Land versinkt im Chaos“. Tausende Weiße belagern die Flughäfen. Amerikaner sollen das Land verlassen. Die Touristenzentren werden von Truppen geschützt.

Tunis:  „Auf den Straßen herrscht Gewalt, Leibgardisten des geflohenen Diktators Ben Ali liefern sich schwere Gefechte mit Spezialkräften. Inzwischen scheint die Protestbewegung auf Jordanien überzugreifen. Auch anderswo kam es in Tunis zu Feuergefechten. Laut Armee- und Polizeikreisen ereigneten sich in der Nähe der Zentralbank Schießereien. Dabei seien zwei Bewaffnete getötet worden. Augenzeugen berichteten immer wieder von Plünderungen und verschärften Kontrollen des Militärs. Im Zentrum der Stadt standen am Sonntagabend weiter Panzer auf den Straßen. Auch der Luftraum war zwischenzeitlich gesperrt.

Caracas: Fast stündlich werden Entführungen und Morde aus Venezuela gemeldet. Man ist nicht einmal mehr in den großen Straßen des Zentrums von Caracas sicher. Die Botschafter sitzen auf gepackten Koffern. Die wenigen guten Nachrichten: unbebautes Land und „unproduktive Höfe“ wurden von Aktivisten und Armen besetzt, darunter auch Golfplätze (wie während des Bürgerkriegs in Indonesien). In Luxushotel wurden 60 Obdachlose einquartiert, sie bekommen dort auch drei Mahlzeiten täglich. „Es ist als wären wir aus einer Wüste in eine Oase gekommen,“ sagte einer.

Stuttgart: In Stuttgart sind am Samstag wieder mehrere tausend Menschen auf die Strasse gegangen, um gegen das umstrittene Bahnprojekt «Stuttgart 21» zu protestieren.

Berlin: Bei Protesten gegen die geplante Räumung eines Hauses ist es am Samstag zu gewalttätigen Auseinandersetzungen mit der Polizei gekommen. Mindestens 40 Beamte wurden verletzt, zahlreiche Demonstranten festgenommen. Die Polizei spricht von einer „plötzlichen Entladung der Gewalt, die nicht vorhersehbar war“. Das Haus in Friedrichshain, in dem etwa 25 Menschen in einer Wohngemeinschaft leben, soll am kommenden Mittwoch geräumt werden. Dagegen war bereits am Freitagabend protestiert worden. Diese Veranstaltung verlief laut Polizei aber weitgehend ohne Zwischenfälle.

Am Tag zuvor hatten 250 Heimkinder in Berlin gegen Mißbrauch durch prügelnde Nonnen, Heimerzieher und Pfarrer demonstriert. Vielen Heimkindern wurde die emotionale Lebensgrundlage geraubt. Sie funktionieren nur noch, anstatt zu leben. Lange wurde das Thema politisch ignoriert, erst mit den Skandalen an Eliteschulen schenkte man auch den Heimkindern Gehör. „Der Staat hat seine Aufsichtspflicht nicht wahrgenommen“, meint Mitorganisator Schmidt-Salomon. Die Demonstration fand zeitgleich mit dem siebten Runden Tisch „Heimerziehung in den fünfziger und sechziger Jahren statt“. Moderiert wird die Runde von der ehemaligen Bundestagsvizepräsidentin Antje Vollmer. Die Opfer sehen sich jedoch nicht durch das Gremium vertreten und befürchten, ihre Misshandlungen würden kleingeredet. Sie wollen daher für die Anerkennung der erlittenen Misshandlungen als Menschenrechtsverletzungen kämpfen. Damit stiegen auch ihre Chancen, für das Leiden doch noch entschädigt zu werden. Nach vielen Jahren. Einige der Demo-Teilnehmer verteilten vorab vor der taz ein Flugblatt: „taz und Ausreisserinnen-Todesmaschinerie – eine Front“. Sie gehören zum Forum für anarchistische Kinder- und Jugendpolitik (fakju.forumo.de): „Stoppt den Erziehungskrieg!“ Der taz werfen sie vor, sich durch die Art und Weise ihrer Berichterstatung über Mißbrauchsfälle in Eliteanstalten an der allgemeinen Pressehetze gegen sie zu beteiligen, wobei sie die taz als „neo-linksfaschistoides Pädagogenblatt“ bezeichnen. Der beste Schutz für Kinder und Jugendliche „vor Ausbeutung aller Art“ sei „die Stärkung ihrer eigenen vollständigen Menschenrechte auf Selbstbestimmung in allen Lebensbereichen, nicht aber ihr vorgegaukelter Schutz durch pädagogische Stellvertreter und Auslegungskünstler ihres ‚Wohls‘ aller Art, der in Wirklichkeit nur die Entziehung aller Grundrechte für Kinder und Jugendliche bedeutet und ihnen damit alle Selbstschutzmöglichkeiten raubt.

Tirana – Weil die Polizei am Freitag drei Demonstranten tötete, demonstrierten gestern wieder 300.000 Menschen in der albanischen Hauptstadt.

Sao Paulo/Rio:  Streik bei Coca Cola führt zu Versorgungsengpässen mit diesem Getränk. Sklavenarbeiter in Tabakverarbeitenden Betrieben Brasiliens von Behörden befreit. Offener Brief der Bewohner von Santa Cruz an ThyssenKrupp-CSA:

„Wir, Bewohnerinnen und Bewohner von Santa Cruz, Fischer, Hausfrauen, Arbeiter, Studenten, Arbeitslose, Jugendliche, Kinder und Rentner, Frauen und Männer aus Santa Cruz im Stadtgebiet von Rio de Janeiro leiden unter den negativen Impakten der Thyssenkrupp Companhia Siderúrgica do Atlântico, dies seit Beginn der Bauarbeiten im Jahre 2006. Seit damals haben verschiedene Gruppen und Organisationen innerhalb und außerhalb Brasiliens die von TKCSA begangenen sozialen, ökologischen und Menschenrechtsverbrechen sowie die Gesundheitsschädigungen der Bevölkerung angeprangert. Die Staatsanwaltschaft hat TKCSA wegen Luftverschmutzung in einer die Gesundheit der Menschen gefährdenden Weise angeklagt, hat festgestellt, dass es Unterschriftsfälschungen vermeintlicher Anwohner auf den öffentlichen Anhörungen zur Installation der TKCSA gegeben hat und hat Klage eingereicht, um die Firma und ihre zwei Direktoren wegen Umweltverbrechen zur Verantwortung zu ziehen. Entgegen der Faktenlage werden unwahre Diskurse geschaffen, aber wir begegnen diesen mit Gegenargumenten.“

„Police in Rio de Janeiro and Sao Paulo have killed more than 11,000 people in the past six years, many execution-style, according to a report today“.

Für das Belo-Monte-Wasserwerk wurde mit der Rodung von 240 Hektar Wald begonnen: „Damit ist Amazonien am Ende,“ meinen Umweltschützer.

Sanaa (Jemen): „Tage der Wut“ – Erneut Demonstrationen im Jemen. Die Zahl der Demonstranten wurde auf mehrere zehntausend geschätzt; sie forderten den Rücktritt des Regimes, demokratische Reformen, ein Ende der Korruption und endlich freie Wahlen. Ihre Kundgebungen fanden vor der Universität und an drei anderen Stellen Sanaas statt.

„Im vernachlässigten Norden des Landes befanden sich die Huthi-Rebellen der schiitischen Zaiditen fünf Jahre im Aufstand, bevor eine unsichere Waffenruhe eintrat. Zugleich festigten sich die Sezessionswünsche im südlichen Landesteil, der vormaligen mit der Sowjetunion verbündeten Volksrepublik Südjemen. Die Räuberromantik, von denen früher die glimpflich endenden Entführungen begleitet waren, ist blutigem Ernst gewichen. Die Touristen kommen nicht mehr. An ihre Stelle sind Elendsflüchtlinge aus Somalia und Eritrea getreten. Kalaschnikow sind überall zu volkstümlichen Preisen zu haben. Ein Drittel des Volkes ist nach Untersuchungen ausländischer Experten ständig unterernährt. Die Amerikaner helfen dem Präsidenten Ali Abdullah Salih mit Raketenangriffen auf angebliche Terroristen, die mit den Separatisten zusammenspielen, ohne sich zu dieser Unterstützung offen zu bekennen.“

Amman: Nach neuerlichen Protesten  und Toten in Jordanien: Israel befürchtet instabile Lage. Inspiriert von den Protesten in Tunesien sind gestern rund 3000 Jordanier in einen Sitzstreik gegangen. Sie fordern den Sturz der Regierung und die Umverteilung der Besitztümer im Land.

Bogota: Zwei Priester in Kolumbien ermordet. Unbekannte haben wahllos fünf Menschen in einem Park der kolumbianischen Großstadt Medellín erschossen. Mindestens neun Menschen sterben bei schwerem Autobombenanschlag. Zehnjähriger nimmt Polizei unter Beschuß. Zwei Babys durch Kaiserschnitt aus dem Bauch der Mutter geraubt. Der am Rande des Lokalderbys zwischen den kolumbianischen Vereinen Millionarios und Santa Fe tot aufgefundene Fußball-Fan soll von der Polizei zu Tode gehetzt worden sein. Wegen der Unwetterkatastrophen wurde der Notstand  im Land ausgerufen. Der Fluss Listará im Nordosten Kolumbiens ist plötzlich verschwunden. Eine Zeltstadt inmitten von Bogota: Mehr als 2000 Kolumbianer haben sind aus ihren von Kämpfen zwischen Rebellen und rechtsgerichteten Milizen aufgeriebenen Landstrichen ins Rampenlicht der Großstadt geflüchtet. „Hier sind wir sichtbar. Nach Morddrohungen hat der Fernsehsender Arte Dreharbeiten in Kolumbien für einen Dokumentarfilm über paramilitärische Gruppen abgebrochen. Die Partei Die Linke unterstützt laut Spiegel kolumbianische Terrorgruppe.“

Mexiko-City: „Der Drogenhandel trägt nur etwa 40 bis 48 Prozent zum Umsatz der mexikanischen Verbrecher-Kartelle bei. Der Rest kommt zustande durch Menschenschmuggel, Piraterie, Geldfälschung, Wagenschmuggel, Erpressung und andere Verbrechen.Momentan können sich Kartelle immer darauf verlassen, dass Beamte und Richter entweder bestochen werden können oder durch Einschüchterung gelähmt werden. Im Norden Mexikos sind erneut leitende Offiziere der Polizei dem organisierten Verbrechen zum Opfer gefallen. Polizisten quittieren aus Angst vor Drogendealern den Dienst. Laut einer Studie verschlimmern sich die Zustände im vom Drogenkrieg gebeutelten Mexiko. Auch in Ciudad Juárez tobt der Drogenkrieg weiter: Bei blutigen Überfällen auf Fußballer und Passanten erschossen Killer jetzt 10 Menschen.

Verschärfung der Repression in Chiapas, Todesdrohungen gegen Menschenrechtsaktivistin. Am 16. Dezember 2010 wurde Marisela Escobedo Ortiz , vor dem Regierungspalast in Chihuahua- Stadt von einem Unbekannten erschossen. Marisela hatte sich seit der Ermordung ihrer Tochter Rubi Frayre im Jahr 2008 zum Kampf gegen Korruption, Straflosigkeit und Gewalt gegen Frauen aufgemacht. Nur 20 Tage später wurde der Leichnam der 36-jährigen Susana Chávez vergewaltigt und erwürgt aufgefunden.  Susana war Dichterin, Lektorin und Aktivistin, und seit Jahren in die lokalen Mobilisierungen zu den Frauenmorden in Ciudad Júarez involviert. Fast genau ein Jahr vor dem Mord an Susana, am 4. Januar 2010, wurde die Menschenrechtsaktivistin Josefina Reyes im Valle de Ciudad Júarez ermordet. Im Vergangenen Jahr 2010 erreichte die Gesamtzahl an offiziell gemeldeten Morden an Frauen in Ciudad Juarez und Umgebung mit 306 Morden ihren bisherigen Höhepunkt. Aus einem Interview mit Yesica Sanchez: „Ihre Organisation hat eine Studie zu den Frauenmorden (Feminiziden) in Oaxaca veröffentlicht. Wie würden Sie dieses Phänomen erklären? Sánchez: Der Feminizid ist ein hochaktuelles Problem in mindestens acht von 32 Bundesstaaten Mexikos, darunter Oaxaca. Er wird als ein Verbrechen des Staates betrachtet und umfasst einen Komplex von Handlungen und Nichthandlungen. Der Staat müsste Programme initiieren und Gesetze ändern, um die Frauen zu schützen. Da der Staat die Verantwortlichen aber nicht bestraft, werden Frauen Opfer von Gewalt und Vergewaltigung bis hin zu Mord. Dadurch wird eine Dynamik der Straflosigkeit geschaffen. Wenn die Aggressoren wissen, dass nicht einmal einem Mörder etwas passiert, fühlen sie sich ermutigt, weitere Gewalt gegen die Frauen auszuüben.“

2010 geht als das blutigste und tödlichste in die jüngere Geschichte Mexikos ein. Die Regierung veröffentlicht erstmals Statistiken zum Drogenkrieg: In den vergangenen vier Jahren starben fast 35 000 Menschen in diesem „Krieg“.

„Als direkte und indirekte Folge des ‚Drogenkrieges‘ stiegen die Zahl von Entführungen und bewaffneten Überfällen sowie das Risiko für unbeteiligte Ausländer, Opfer gewalttätiger Auseinandersetzungen zu werden, stark an. Die Studienveröffentlicher von ‚Control Risks‘ erwartet zudem, dass sich die Sicherheitslage in Mexiko weiter verschlechtert. Daher gilt für 2011 in weiten Teilen des Landes die Risikostufe „hoch“. Diese Risikostufe bedeutet, dass ausländische Unternehmen sich mit Sicherheitsproblemen auseinandersetzen müssen und für Reisende das Risiko besteht, Opfer krimineller Gewalt zu werden. Als Folge der Konflikte mit den  Drogenkartellen verschlechtert sich die Sicherheitssituation aber in ganz Mittelamerika.“ Die deutsche Regierung hat den Verkauf von G36 Sturmgewehren der deutschen Firma Heckler & Koch nach Mexiko ausgesetzt.

Die Entdeckung eines Massakers an 14 Migrantinnen und 58 Migranten Ende August 2010 in San Fernando im Bundesstaat Tamaulipas markierte den vorläufigen Höhepunkt einer Tragödie, die sich von Jahr zu Jahr zuspitzt. Wenngleich nicht immer mit tödlichem Ausgang wie bei diesen 72 Opfern, ereilt zahlreiche mittel- und südamerikanische Migranten auf ihrem Weg durch Mexiko ein ähnliches Schicksal. Einem Bericht der Nationalen Menschenrechtkommission Mexikos (CNDH) vom Juni 2009 zufolge ist allein in den sechs Monaten von September 2008 bis Februar 2009 die Entführung von 9.758 Migranten dokumentiert, über die Hälfte davon in den Bundesstaaten Tabasco und Veracruz.  Ziel der Entführungen ist die Erpressung von Lösegeldern – nach Hochrechnungen der CNDH durchschnittlich 2500 US-Dollar pro Person. Für Drogenkartelle und andere Gruppen organisierter Kriminalität stellt dies eine zunehmend attraktive Quelle von Nebeneinkünften dar. Die CNDH schätzt diese Einnahmen für die erwähnte sechsmonatige Periode auf 25 Millionen Dollar. Entführungsopfer, von denen trotz Folter, bis hin zum Abschneiden von Fingern, kein Lösegeld erpresst werden kann und die nicht willens sind, ersatzweise in den Dienst der Banden zu treten – sei es als künftige Mitglieder oder als Prostituierte – bezahlen gegebenenfalls mit ihrem Leben. In einer Dokumentation von April 2010 zitiert Amnesty International Schätzungen, dass mindestens sechzig Prozent der Frauen während ihres Transits durch Mexiko Opfer einer Vergewaltigung werden.

Haiti: In Haiti sind zwei Polizisten getötet und ein weiterer verletzt worden. Nördlich der Hauptstadt Port-au-Prince starben 15 Menschen nach dem Genuss von Methanol. Nach den jüngsten Zahlen des nationalen haitianischen Gesundheitsministeriums MSPP sind bis jetzt insgesamt 4.030 Menschen an Cholera gestorben. In der benachbarten Dominikanischen Republik sind bereits mehr als 3000 Menschen einem Ausbruch der Cholera zum Opfer gefallen.Die Zahl der Cholera-Fälle in Venezuela stieg am Freitag ebenfalls rapide an.

Pakistan/Afghanistan/Somalia: Laut einer US-Sicherheitsstudie ist die Situation  in diesen drei Ländern so gewalttätig, dass man überhaupt nicht dorthin reisen sollte, wenn einem das Leben lieb ist.

London: Auf einer Konferenz von Staatssekretären der Innenministerien aller EU-Länder sowie hochrangiger Polizei- und Geheimdienstoffiziere wurde am Wochenende beschlossen, trotz der Kritik an ihren Undervocer-Aktionen, in Sonderheit an ihren drei kürzlich aufgeflogenen Spitzeln in Wien, England und Heidelberg an der Politik der Überwachung, Infiltration, Zersetzung und  Provokation militanter Umwelt- und Anarcho- Gruppen festzuhalten, allerdings wollen sie ihre Undercover-Agenten stärker kontrollieren und für diese gilt nun in allen EU-Ländern das Verbot, „taktische Liebesbeziehungen“ zu linken Aktivistinnen bzw. Aktivisten einzugehen. Einer der Konferenzteilnehmer meinte hernach: „Europa ist der einzige Weltteil, der noch halbwegs sicher ist, und das soll auch so bleiben. Wegen der sich ausbreitenden Unruhen in Lateinamerika, im Nahen Osten und in Nordafrika könnten die europäischen Sicherheitskräfte schon bald besonders gefordert sein bei der Aufrechterhaltung der öffentlichen Ordnung. Ein anderer Konferenzteilnehmer, ein hoher Polizeioffizier, der bei den Unruhen in Genua dabei war, korrigierte ihn jedoch:  „Die Polizei ist nicht mehr dazu da, Ordnung zu schaffen, sondern um die neue Unordnung zu beherrschen.“

31.Jan. (Mo)

Die „vierte Gewalt“ propagiert Ordnung und verläßliche Partner in den Aufstandsregionen weltweit. Notfalls auch einen Diktator, besser jedenfalls als die Islamis an der Macht. Und so sehen sie vor allem Plünderer, Vergewaltiger, Mörder, Rauschgiftmafia – den „Mob“ am Werk, wie die SZ-Korrespondentin aus Kairo heute tatsächlich schreibt. Laß das Volk los – und es bricht das blutigste Chaos aus.

Die FAZ hat es sich heute erlaubt, der Sichtweise von unten auf die Unruhen in Kairo den Vorzug zu geben – und ein Interview mit dem in Deutschland Politikwissenschaft lehrenden Ägypter Hamed Abdel-Samed abgedruckt, der sofort nach Kairo geflogen war am Donnerstag und dem auch gleich bei einer Demo ein Finger gebrochen und eine Rauchvergiftung von der Polizei verpaßt wurde. Auszüge aus dem Interview, mit dem Titel „Hier demonstriert das ägyptische Volk und keine islamische Sekte“:

FAZ: Was war da geschehen?

H.A-S.: Manche spekulieren, die Menschen hätten keine Emotionen, keine Energie zum Demonstrieren mehr gehabt. Aber es war ein Befehl von oben: Präsident Mubarak, der den ägyptischen Streitkräften befohlen hat, für Sicherheit und Ordnung im Land zu sorgen, eine Ausgangsperre zu verhängen. Aber gerade als es darum ging, die Sicherheit von Bevölkerung und Einrichtungen zu gewährleisten, war die Polizei plötzlich nicht mehr da. Sie verschwand, als wäre sie nur da gewesen, um die Demonstranten in Schach zu halten. Von dem Moment an, als die Polizei sich zurückzog, traten im ganzen Land schwerbewaffnete Räuberbanden auf den Plan, die Geschäfte überfallen und Banken ausgeraubt haben, das Land in Brand steckten. Offenbar will Mubarak dem Westen auf diese Weise zu verstehen geben, dass die Demonstranten nichts als Räuberbanden waren, mit denen man kurzen Prozess machen muss. Es ist der faule Versuch, die Demonstranten zu diskreditieren. Man muss scharf trennen zwischen den Demonstranten und den organisierten Räuberbanden. Auf diese Weise will die Nationalpartei der Welt suggerieren, dass die Demonstrationen unrechtmäßig sind und dass sie die einzige Kraft ist, die für Sicherheit und Ordnung im Land sorgen kann.

Mubarak will sich also der Unterstützung des Westens versichern und zugleich die Bevölkerung einschüchtern?

Ja. Dieser Präsident nimmt sein Volk als Geisel. Was hier in Ägypten seit Tagen geschieht – die Abschaltung von Internet und Facebook, von Telefonverbindungen, das Kappen der ausländischen Nachrichtensender -, das zeigt, dass Mubarak das, was er tat, tun wollte, ohne dass die Welt davon etwas mitbekommt, und dass nur seine Sicht der Ereignisse nach außen dringen sollte. Umso deutlicher wird: Hier ist eine Regierung, ein System am Werk, das keinerlei Respekt für sein Volk hat. Mubarak raubt sein Volk seit dreißig Jahren aus und verkauft dem Westen die Illusion, er sei ein Garant der Stabilität. Ich sage: Mubarak ist heute kein Garant mehr für Stabilität, sondern er ist eine Gefahr für Ägypten, für die gesamte Region. Wenn der Westen tatsächlich Frieden und Stabilität in der Region will, dann muss man ihm die Unterstützung entziehen. Überall sollte man die ägyptischen Botschafter einberufen und sie fragen, warum jetzt in Ägypten nirgendwo Sicherheit gewährleistet wird, warum überall Räuberbanden unterwegs sind, warum die Gefängnisse geöffnet und Verbrecher freigelassen wurden. Ich kann Ihnen die Antwort geben: Das ist alles systematisch angeordnet worden, um die Bevölkerung Ägyptens mit sich selbst zu beschäftigen, so dass die Menschen nicht mehr auf die Straße gehen und Angst haben, ihre Häuser zu verlassen, weil diese sonst geplündert werden. Und damit der Westen denkt: Ach, unser Mann Mubarak ist der beste Garant für Stabilität, halten wir an ihm fest.

Ist die jetzige Bewegung in Teilen auch fundamentalistisch begründet?

Nein, im Gegenteil. Mubaraks Behauptung, die einzige Alternative sei ein islamistischer Staat, ist eine faule Ausrede. Ich befand mich mitten in der Demonstration, als ein Anhänger der Muslim-Bruderschaft religiöse Parolen zu rufen begann. Die Umstehenden haben ihn zum Schweigen gebracht und zu ihm gesagt: Keine islamischen Rufe! Hier demonstriert das ägyptische Volk und nicht eine islamische Sekte. Auch daran sieht man, dass eine neue Generation herangewachsen ist, die nicht den Islamisten zuzurechnen ist. Es ist eine Generation, die anders leben will, frei. Der Westen sollte das honorieren und seine Stabilität jetzt nicht auf Kosten der Freiheit des ägyptischen Volks durchsetzen wollen.   Man muss deutlich sagen, was hier geschieht. Und darum rufe ich alle Deutschen dazu auf, ihre Solidarität mit dem ägyptischen Volk zu erklären.

Wie sieht es in anderen „Unruhe“-Städten aus?

Athen: Mehr als 200 illegal Eingewanderte aus Nordafrika haben am Dienstag einen Hungerstreik begonnen. „Die jungen Nordafrikaner leben eigentlich auf der Insel Kreta und waren über das Wochenende in die griechische Hauptstadt gereist, wo sie in einer juristischen Hochschule für eine Aufenthaltsgenehmigung demonstrieren. «Ich will die notwendigen Papiere haben, um ins Spital gehen zu können», sagte der 29-jährige Marokkaner Hakim Sebati: «Um wie ein Mensch behandelt zu werden».“ Die Polizei überredete die Hungerstreikenden, in ein leerstehendes viel zu kleines Haus ohne sanitäre Anlagen umzuziehen. Der Umzug durch die Stadt entwickelte sich zu einer großen  Demonstration. Zuvor hatten 95 Afghanen, neun davon seit 27 Tagen im Hungerstreik, über zwei Monate einen  zentralen Platz in der griechischen Hauptstadt Athen besetzt, um für ihr Recht auf Asyl zu demonstrieren. Die griechische Regierung hat ihren Willen bekräftigt, die Mauer an der Grenze zur Türkei bis Anfang Mai fertig zu errichten. Bis jetzt gibt es dort nur ein Minenfeld, in dem schon mehrere illegale Einwanderer zu Tode gekommen sind. Das deutsche Außenministerium hat unterdes den Botschafter Mexikos nach Athen versetzt, weil dort jetzt ein wirklich rechter Deutscher  vonnöten ist, wie auf einem zweitägigen Kongreß im Kreuzberger Mehringhof über die EU-Flüchtlingspolitik und die Neustrukturierung der europäischen Polizei- und Geheimdienstkräfte zu erfahren war.

Beirut: Brennende Autoreifen und Müllcontainer an einer improvisierten Straßensperre in Beirut, abgefackelte Bilder des designierten Regierungschefs Najib Mikati: Die Gegner der libanesischen Schiiten-Miliz Hisbollah machten am Dienstag ernst mit ihrem angekündigten „Tag des Zorns“. Auch ein Übertragungswagen von „Al Jazeera“ wurde ein Raub der Flammen, der arabische Sender galt den Demonstranten offenbar als Hisbollah-lastig.  Die wütende Menge will sich nicht mit dem Machtwechsel abfinden, der sich dieser Tage im Libanon abspielt: Am Dienstag wurde Mikati von Präsident Michel Suleiman mit der Regierungsbildung beauftragt, nachdem er sich im Parlament 68 von 128 Stimmen hatte sichern können. Die Suche nach einer neuen Regierung war nötig gewesen, weil die scheidende unter Saad Hariri am 12. Jänner ihre Mehrheit verloren hatte. Mikati ist zwar – wie von der Proporz-Verfassung vorgeschrieben – Sunnit, und er kommt sogar ursprünglich aus Hariris Bündnis. Dennoch ist er nun der Kandidat der schiitischen Hisbollah, die damit bei ihrer schleichenden Machtübernahme im Libanon einen großen Schritt weiterkommt.

Damaskus: Laut dem öffentlichen Fernsehen zündeten Unbekannte eine Autobombe im Süden der Hauptstadt Syriens. Gemäss Augenzeugen detonierte der Sprengkörper auf der Strasse Richtung Flughafen in der Nähe einer Sicherheitseinrichtung. Die Gegend wurde grossräumig abgesperrt. Einzelheiten waren zunächst nicht erhältlich. Nach Angaben der Nachrichtenagentur Reuters handelt es sich um den ersten Anschlag in Syrien seit Februar. Damals wurde in Damaskus der Militärbefehlshaber der radikal-islamischen Hisbollah, Emad Maghanija, mit einer Autobombe getötet.

Ulaan Bataar: Nachdem die wegen des Ausverkaufs ihrer Bodenschätze an ausländische Investoren aufgebrachten Mongolen auf dem Höhepunkt der Wirtschaftskrise, als mehrere Banken pleite gingen, einige Regierungsgebäude in Brand gesteckt hatten, waren erst einmal Verhandlungen angesagt. Und nun ist Winter. Die Katastrophenschutzbehörde informierte über die sehr schwierigen Winterweideverhältnisse in 101 Sums in 17 Aimags aufgrund ergiebiger Schneefälle in den vergangenen Tagen, Verharschung und Vereisung. 36 000 Stück Vieh seien bereits verendet. Hielten die ungünstigen Witterungsbedingungen noch länger an, müssten die Viehhalter in den betroffenen Gebieten ihre Tiere vorzeitig schlachten. Die Regierung Kasachstans hat 1 500 Tonnen Reis als unentgeltliche Hilfe für die Viehhalterfamilien in die Mongolei gesandt. Besonders prekär ist die Lage im Gobialtai-Aimag mit Temperaturen um minus 40 Grad. Die meisten Aimags hätten im Vergleich zum Vorjahr jedoch für diesen Winter eine bessere Futtervorsorge getroffen, heißt es.

Ferner wurde aus der Mongolei gemeldet: Dass allgemein die Aggressivität zugenommen habe, auch und gerade in Ulan-Bataar und dass „die drei Angehörigen der Grenztruppen, die im November 2009 im Ostgobiaimag ihren Vorgesetzten getötet hatten und daraufhin zum Tode verurteilt worden waren und der wegen Mordes an seiner Schwester und deren Ehemann im Sukhbaatar-Duureg ebenfalls zum Tode Verurteilte den Präsidenten, Ts. Elbegdorj, um Begnadigung bzw. Strafminderung gebeten haben.“ Am 3. Februar beginnt das Jahr des Hasen (Metall, weiß, weiblich, weich, schwach) und löst das Jahr des Tigers (Metall, weiß, männlich, stark) ab. Ob das etwas zu bedeuten hat, läßt sich heute, am 31.1., aber noch nicht sagen.

Algier: Schwere Unruhen zu Beginn des Jahres, mindestens fünf Tote bei Niederschlagung der Jugendrevolten alleine diesen Monat, Demonstrationsverbote und mindestens neun Selbstverbrennungen aus Protest gegen die soziale Lage – und Präsident Abdelaziz Bouteflika ist völlig von der Bildfläche verschwunden. Kein einziges Mal reagierte der algerische Präsident auf die explosive Lage im Land.

Kairo: Der friedliche Protest von Millionen Menschen und ein Zusammenrücken der Opposition könnten in Ägypten ein neues Zeitalter einläuten. Am Dienstag protestierten allein in Kairo bis zu zwei Millionen Menschen gegen den seit 30 Jahren regierenden Staatschef Husni Mubarak. Auch in anderen Städten wie Alexandria oder Ismailija forderten Zehntausende einen Neuanfang. Die Opposition einigte sich auf einen gemeinsamen Forderungskatalog, der neben Mubaraks Rücktritt auch die Bildung einer Regierung der nationalen Einheit beinhaltet. Die Armee, die am Vortag Schüsse auf friedliche Demonstranten ausgeschlossen hatte, hielt sich im Hintergrund. Der Protest ging quer durch die ägyptische Bevölkerung. Auf dem zentralen Tahrir-Platz in Kairo versammelten sich Arbeiter und Ärzte ebenso wie Geistliche, Frauen mit Kindern und junge Männer. Ein dpa-Reporter berichtete von einer ausgelassenen, fast fröhlichen Stimmung.

1.Feb. (Di)

Ägyptische Karikatur. Photo: blogs.taz.de



2. Feb. (Mi)

„Die Liebe der Linken zu Lateinamerika“ (Überschrift):

Lateinamerika war der schon traditionelle Gegenentwurf zum rationalen Westeuropa, das sich aber nun in den Fünfziger- und Sechzigerjahren nicht mehr durchsetzt, das stecken bleibt und eingeholt wird. In Uwe Timms „Schlangenbaum“ treibt die Flucht aus dem Arrivierten, Spießigen, geordnet Langweiligen den deutschen Ingenieur Wagner in den Dschungel Südamerikas.

Als aber die Vertreter der aufkommenden westeuropäischen Neuen Linken, und  auch eine junge idealistische Generation antistalinistischer Sozialisten in Osteuropa, voller Bewunderung auf die Kubanische Revolution und in der Folge auf ganz Lateinamerika blickten, standen sie in der Kontinuität ambivalenter ideengeschichtlicher Traditionen.

Die Revolution kam aber auch in einer exotisch-ansprechenden Verpackung: Aus Kuba kamen Bilder von schönen jungen Rebellen unter Palmen an sonnigen Stränden. Und Allende wurde nicht nur verehrt, weil er der erste demokratisch gewählte sozialistische Präsident war. Sein „Sozialismus mit Rotwein“, unterlegt mit der Musik von Victor Jara, sprach auch ästhetisch an. Lateinamerikanische Folklore war zu dieser Zeit schon längst zur Musik kommunistischer und linker Parteien in Italien und Frankreich geworden.

Der intellektuellere Teil der Neuen Linken verlegte das Subjekt der Revolution vom übersättigten europäischen Proletariat auf die Dritte Welt und glorifizierte die lateinamerikanische revolutionäre Tradition.

Nach dem Ende des Kalten Kriegs und dem Abzug der Besatzungsmächte aus Deutschland flachte die Begeisterung für Lateinamerika merklich ab – auch in Lateinamerika selbst, wie Jorge Volpí kürzlich in einem großen Essay über die dortige Intelligenz und über Selbst- und Fremdwahrnehmungen des Raums „Lateinamerika“ feststellte: Kaum ein Mexikaner, Brasilianer oder Peruaner sehe sich heute noch vorrangig als Lateinamerikaner. Die neuen sozialistischen Experimente in Bolivien und Venezuela sind so antiliberal und antiamerikanisch wie gehabt, aber in Europa finden sie nur noch wenig positive politische Resonanz.“

„Panamax“: „Die kolumbianische Regierung legte nachrichtendienstliche Erkenntnisse und Satellitenfotos vor – die den Medien „aus Gründen der nationalen Sicherheit“ vorenthalten wurden -, mit denen sie belegen wollte, dass auf venezolanischem Territorium 86 Lager der kolumbianischen Guerillaorganisationen Farc und ELN mit 1500 Kämpfern existierten – unter Duldung der Regierung Chávez. Der Vorstoß des kolumbianischen Präsidenten löste eine Kettenreaktion gegenseitiger Anschuldigungen aus, die zum offenen Bruch zwischen beiden Ländern führten. Damit drohte eine die ganze Region gefährdende Eskalation des seit Jahren schwelenden Konflikts, der Venezuela schon 2009 dazu gebracht hatte, den Warenverkehr mit Kolumbien zu unterbinden. Unmittelbarer Anlass war dabei ein Abkommen, mit dem Bogotá den US-Amerikanern die Nutzung von mindestens sieben Militärbasen gestattete. Dieser Vertrag wurde von den Regierungen der Region und den meisten anderen südamerikanischen Ländern als Bedrohung und Provokation betrachtet.

Seine Gegner mögen Hugo Chávez vorwerfen, unnötig heftig reagiert zu haben. Doch die zunehmende militärische Präsenz der USA in Lateinamerika ist eine Realität. Ende Oktober 2009, wenige Tage vor der Unterzeichnung des Militärabkommens zwischen Bogotá und Washington, kündigten die USA ein weiteres Abkommen mit Panama an, in diesem Fall über den Bau von vier Luftwaffen- und Marinestützpunkten, je zwei im Pazifik und im Atlantik.

Unter der Leitung des US-South-Command in Mayport, Florida – für Lateinamerika zuständig, fanden Manöver mit Militärs und Zivilisten aus 18 lateinamerikanischen Ländern statt. Der offizielle Manöverauftrag war, die Bedrohung durch nichtstaatliche bewaffnete Gruppen, wie sie für das 21. Jahrhundert typisch sind, abzuwehren und ein von einer Naturkatastrophe betroffenes Gebiet mithilfe einer multinationalen Truppe zu stabilisieren.

Der Kampf gegen den Drogenhandel muss auch als offizielle Begründung dafür herhalten, dass in der zweiten Jahreshälfte 2010 US-Truppen in Costa Rica im Einsatz sind. Dabei operieren 7 000 Marines und 46 Kriegsschiffe in einem Land, das selbst über keine Armee verfügt. Präsidentin Laura Chinchilla verteidigt das Abkommen damit, dass riesige Mengen von Drogen durch das Land geschleust werden und dass mexikanische und kolumbianische Drogenkartelle in Costa Rica Fuß gefasst haben, denen die einheimische Polizei und Küstenwache nicht gewachsen sind.

Gemeinsam mit der Dominikanischen Republik und Haiti beteiligt sich Costa Rica auch an der „Iniciativa Mérida“ – oder „Plan México“ -, die ebenfalls der Bekämpfung des Drogenhandels dient. Aber Chinchilla drängt auf eine Ausweitung der Initiative, damit die gesamte Region Finanz- und Militärhilfe aus den USA beziehen kann. 2009 erhielten die Mitgliedsländer im Rahmen der „Iniciativa Mérida“ insgesamt 110 Millionen US-Dollar und Mexiko noch einmal 300 Millionen. Für Länder, die solche Hilfe verschmähen oder explizit ablehnen (wie Venezuela), besteht die Gefahr eines mehr oder minder versteckten Staatsstreichs (siehe Honduras) oder gar einer militärischen Aggression. Die erhebliche Verstärkung der bereits massiven Militärpräsenz, die wir in jüngster Zeit beobachten, bedeutet auch, dass solche Interventionen sofort möglich wären. Washington steht allerdings vor dem Problem, dass Länder wie Argentinien, Bolivien, Brasilien, Ecuador, Paraguay und Venezuela – mit ihren verschiedenen politischen, kulturellen und historischen Voraussetzungen – Wege und Ziele verfolgen, die denen der USA zuweilen direkt zuwiderlaufen.

Und trotz all der US-Antidrogen-Initiativen und -Gelder  tobt in Mexiko ein Krieg, der seit Amtsantritt von Präsident Felipe Calderón vor vier Jahren rund 30.000 Todesopfer gefordert hat. Über 3000 Menschen wurden 2010 allein in der Grenzstadt Ciudad Juarez ermordet.

Die US-Initiativen wie auch gemeinsame Manöver in Chile, Brasilien und künftig vielleicht auch in Bolivien kommen meist auf Drängen des Pentagons und der US-amerikanischen Rechten zustande.“

Kolumbien. In der „Le Monde Diplomatique“ schreibt ein kolumbianischer Schiftsteller über  die Zustände in seinem Land und wie sie in der internationalen Presse aufscheinen bzw. untergehen:

„Die zwei Angehörigen der Todesschwadrone wollen mir das zeigen, was die „das Gelände“ nennen. Vor über einem Jahr wurde es im ausländischen Fernsehen erwähnt, als der kolumbianische Präsident del Pito [Pito zu deutsch: Pimmel] die sichtbare Front der Todesschwadronen legalisiert hat. Zwei der demobilisierten Führer haben in Interviews die Existenz dessen bestätigt, was sie in ihrem Kriegsjargon „Gehege“ oder „Metzgereien“ nannten. Die Gehege oder Metzgereien waren, wie ihre Befehlshaber damals gestanden, riesige Schuppen irgendwo auf dem Land oder im Wald, wo hingebracht wurde, wer unter Verdacht stand, mit Kleinbauern, Eingeborenen oder Gewerkschaften zu kollaborieren.

Die Zartbesaiteten unter den Lesern mögen mir verzeihen, aber es lässt sich nicht anders formulieren: In den Gehegen oder Metzgereien wurden die Angehörigen dieser Organisationen mit Macheten und Motorsägen lebendig zerstückelt, und ihre Reste wurden den Schweinen vorgeworfen, damit auch nicht die kleinste Spur von Rebellion übrig blieb (wie einer der Kommandanten im Interview sagte). Die Gehege oder Metzgereien dienten außerdem als Trainingslager für die neuen Rekruten, die sich durch die Ausbildung im Zersägen für den Krieg gegen die unbewaffneten Menschen wappneten, die ihnen in jedem Winkel der Republik auflauerten.

Verflucht sei die verfluchte Manie, ins Internet zu schauen und die verfluchte Presse im Internet zu lesen (unsichtbare Erfindung, deren einziger Nutzen darin besteht, die Welt in ein Taschentuch zu verwandeln, das Milliarden von Menschen stündlich benutzen).

Auf der Titelseite der Digitalversion der spanischen Zeitung El País ist zu lesen, dass es unserer Republik Kolumbien  bestens geht. Eine von El País aus Spanien in unsere Hauptstadt entsandte Journalistin versichert, dass dank der vom hochehrwürdigen Präsidenten del Pito ergriffenen Maßnahmen für Wirtschaft und Sicherheit des Landes das Vertrauen der ausländischen Investoren gestärkt, das Bruttoinlandsprodukt gestiegen und die Währung konsolidiert sei. So steht es in der Zeitung.

Dann wird noch gezeigt, wie sich die makroökonomischen Veränderungen im realen Leben der Menschen auswirken, am Beispiel von drei Archetypen der Republik: dem Taxifahrer, der die Journalistin vom Flughafen ins beste Hotel bringt, dem Vizepräsidenten (zudem Besitzer der größten Tageszeitung und der Hälfte aller Fernsehsender, doch das weiß die Korrespondentin nicht) und, wie sollte es anders sein, dem aufstrebenden Winzling, dem gigantischen del Pito. Alle drei erklären, das Geld habe eine wesentlich größere Kaufkraft als zuvor. Die Korrespondentin erwähnt Schnellimbisse, Turnschuhe, Videospiele und CDs.

Laut den drei Quellen des Artikels (also: Präsident, Vizepräsident, Taxifahrer) gibt es in unserer Republik immer weniger Arme, und wie eine rasende Pest greift die Glückseligkeit unter den Bürgern um sich, die im Wörterbuch der Königlichen Akademie der Spanischen Sprache schon keine Worte mehr finden, um ihr Glück auszudrücken. Deshalb bleiben sie durchweg stumm. Das Leben hat sich verändert, und zum Guten verändert, sagt ein steifer, herausfordernder del Pito in der langen Reportage der spanischen Zeitung El País.

Gesegnet sei dagegen die gesunde und gut katholische Gewohnheit, die neutralen Zeitungen der Republik Kolumbien zu konsultieren. In El Universo, der größten von allen, liest man, dass Quellen der nationalen Sicherheit die engen Verbindungen zwischen den drei in der Republik tätigen Menschenrechtsorganisationen und den unschädlich gemachten stalinistischen Guerilla-Gruppierungen (die zwar unschädlich gemacht wurden, auf dem Land jedoch wie biblische Plagen weiter ihr Unheil treiben) nachgewiesen haben. Die Zeitung versichert, Zugang zu nicht weiter spezifizierten Untersuchungen gehabt zu haben, in deren Verlauf Gespräche zwischen den Leitern der Menschenrechtsorganisationen und den stalinistischen Kommandanten aufgezeichnet worden seien. Nach besagten Untersuchungen gebe es Beweise für ein geheimes Treffen, bei dem die Menschenrechtsorganisationen eingewilligt hätten, den Terroristen als Tarnung, Kontaktstelle und Geldwäscherei für ihre Dollars zu dienen, in der Hauptstadt von Kolumbien wie auch in anderen Hauptstädten ähnlicher, nicht näher benannter Republiken.

Der lange Artikel, Reportage und Todesurteil für die Leiter der genannten Menschenrechtsorganisationen, trägt den unverwechselbaren Stempel des einzigen geistig nicht völlig minderbemittelten Ministers in der Del-Pito-Regierung. Ihm die Titelseite von El Universo inklusive Foto einzuräumen, war sicherlich eine freundliche Aufmerksamkeit des Vizepräsidenten.

Wesentlich gesünder ist doch die Lektüre der englischsprachigen Zeitungen. Darin  existiert die Republik Kolumbien nämlich nicht. Um es mir zu beweisen, gebe ich in die Internetsuchmaschine die Buchstaben NYT ein, The New York Times. Im Internationalen Teil ist nichts über die Republik der Aktion zu lesen. Ich suche in anderen Rubriken. Nichts. Ich schaue in früheren Ausgaben nach. Auch nichts. Nirgends steht etwas über die hunderttausenden von Toten und die sieben oder acht Millionen Mittellosen. Nirgends. Ich klicke mich ins Generalarchiv und tippe den vollständigen Namen von Präsident del Pito ein: Tomás del Pito. Tomás von Schwanz. Nichts. Ich schreibe „Stalinistische Guerilla“, „Todesschwadronen“, „Drogenhändler“. Nichts und wieder nichts.

Ich denke, dass die ehrwürdige spanische Zeitung El País letztlich womöglich recht hat: Vielleicht greift die Glückseligkeit tatsächlich wie eine rasende Pest auf den Straßen und Bürgersteigen Kolumbiens  um sich  – und es ist meiner Wenigkeit einfach nur entgangen.“

Blutige Straßenschlachten in Kairo (zwischen Anhängern und Gegnern Mubaraks):

Die Streitkräfte rücken auf die öffentlichen Plätze vor. „Es hieß, die Armee habe den Mubarak-Anhängern gedroht, Gewalt anzuwenden, falls diese weiterhin versuchen sollten, die Demonstranten in die Flucht zu schlagen.“ Anleger bleiben auf Ägypten-Zertifikaten sitzen, sie spekulieren aber auf Kurssprung in Kairo. Die USA suchen fieberhaft nach neuen Führern im Land. Die Lage in Kairo eskaliert. Die Hauptstadt und Alexandria sind wieder online. Die Teams von ARD-Fernsehen und -Hörfunk räumten am Nachmittag ihre Büros in der Nähe des Gebäudes des ägyptischen Fernsehens, nachdem eine Gruppe von Schlägern des Innenministeriums versucht hatte, das im gleichen Gebäude befindliche Studio des Nachrichtensenders Al-Arabija zu stürmen.

3. Feb. (Do)

„Gewalt im Zentrum eskaliert“, die Armee geht immer wieder zwischen Mubarak-Anhänger und -Gegner. Dennoch weiten sich die Straßenschlachten aus. Die Minister bekamen ein Ausreiseverbot. Es wurde geschossen. „Auch im Jemen gehen die Großdemonstrationen weiter“ (Reuters)

4.Feb. (Fr)

Kairo: Die Leute sind schon gestern abend auf den großen Platz gegangen, damit sie heute dort einen Platz haben. Heute feiern dort Millionen den „Tag des Abgangs“ (von Mubarak).  Die Unruhen im Jemen gehen weiter, sie haben jetzt auch auf Jordanien übergegriffen sowie auf Algerien, ebenso gehen die Auseinandersetzungen in Tunesien weiter.  Auch in Berlin werden immer mehr Leute davon angesteckt. Die Demos vor der ägyptischen Botschaft (auch in Wien) gestern waren nicht ganz klein. Heute wird wieder demonstriert. Außerdem findet eine öffentliche Diskussion über „die Umbrüche in Tunesien und die Unruhen in Algerien“ im Mehringhof statt. Außerdem gibt es schon einen neuen Aufruf: für morgen zu einer Demo – wieder vor der Botschaft: „Solidarität mit der aufständischen ägyptischen Bevölkerung! Für den Fall, dass die ägyptische Regierung mit Polizei- und/oder Militärgewalt gegen die protestierende Bevölkerung losschlägt, müssen wir handlungsfähig sein. Wenn Mubarak aber gehen sollte, dann treffen wir uns zu einer Jubel-Demo vor der Botschaft.“  Die deutschen Medien sind merkwürdig zurückhaltend, was die Berichterstattung über Kairo angeht, die taz macht sich darin jedoch ganz gut. Wegen der zunehmenden Gefährlichkeit, überlegen viele deutsche TV-Sender, ihre kostbarsten Journalisten wieder von dort abzuziehen.

In der Jungle World kommt heute der in Kairo täglich mitdemonstrierende deutsch-ägyptische Politologe Hamed Abdel-Samad zu Wort: Sie sprechen von der »Facebook-Generation«, aber wie viele Ägypter haben überhaupt Zugang zum Internet?

„Nur 21 Prozent, aber 21 Prozent sind nicht wenig. Denn es sind aktive Leute. Man hat gedacht, die spielen nur, aber das stimmte nicht. Die ganzen Proteste wurden via Facebook organisiert.“ Der Politologe ist inzwischen weltweit als Kairo-Aufstands-Experte derart gefragt, dass er langsam durchdreht – und doch tatsächlich mal eben von Kairo nach Berlin geflogen ist, um hier an einer dieser dämlichen Talkshows des verlogenen deutschen Staatsfernsehens teilzunehmen.

5./6. Feb (Sa/So)

Aus dem ägyptischen Tagebuch von Hamed Abdel-Samad (abgedruckt in „Die Welt“):

Ich bin wieder in Ägypten. Ich musste einfach kommen. Hier wurde ich 1972 in einem Dorf im nördlichen Nildelta, etwa 70 Kilometer von Kairo entfernt geboren. Aber ich weiß nicht, ob ich meinen Vater und meine vier Geschwister sehen werde. Ich bin von München über Istanbul nach Kairo geflogen. Seit ein paar Tagen wird gegen das Regime protestiert. Da will ich dabei sein. Denn es ist etwas in Bewegung geraten.

Schlägerbanden verfolgen uns in Zivil und schlagen brutal mit großen Stöcken auf uns ein. Ich rette mich in eine Privatwohnung. Viele Frauen haben in der Umgebung des Platzes kleine private Ambulanzen eingerichtet, in denen Verletzte versorgt werden.

Es gibt andere Demonstranten, die viel schwerer verletzt wurden als ich. Ein junger Kerl wurde dreimal von einem Gummigeschoss am Kopf getroffen. Er blutet. Nachdem er verbunden wird, rennt er wieder los, als wäre er süchtig nach Straßenkampf. So groß ist die Wut auf das Regime. So groß ist der Mut.  Auch ich beiße die Zähne zusammen und kehre mit anderen auf die Straße zurück. Fast eine Stunde blieben wir zwischen zwei Polizeieinheiten eingekesselt. Aber wir geben nicht auf.

Wir ersticken fast wegen des Tränengases, aber wir hören von überall her den Slogan: „Das Volk will das Regime stürzen!“ Das gibt uns neue Kraft. Fast ein mythologisches Erlebnis. Vor allem die Solidarität der Frauen, die in der Umgebung wohnen, ist rührend. Viele stehen auf ihren Balkonen und werfen den Demonstranten Essigflaschen zu. Die Häuser sind offen. Wer Hilfe braucht, kann irgendwo hingehen, und ihm wird geholfen.

Nun laufe ich durch eine Stadt, in der es keine Polizei mehr gibt. Die Stadt ist nicht mehr wiederzuerkennen. Trotz des Chaos vom Vorabend erlebe ich vieles, was mir Hoffnung macht. Überall werden die Straßen sauber gemacht. Vor vielen Banken oder staatlichen Einrichtungen patrouillieren Bürgerwehren, um sie zu schützen. Besonnenheit greift um sich.

Der Tahrir-Platz ist gar nicht wiederzuerkennen. Die Reste der Straßenschlacht sind verschwunden. Er ist blitzblank gefegt, nie habe ich ihn so sauber gesehen. Es ist jetzt der Platz des Volkes.
Heute ist mein Geburtstag, ich werde 39 Jahre alt. Und ich habe das Gefühl, dass mir zwei Millionen Menschen gratulieren. So viele sind heute beim Protest mit dabei.
Die Polizei ist nicht zu sehen, die Armee schaut uns freundlich zu, wie wir die neue Freiheit feiern. Die Stimmung ist großartig. Manche tanzen und singen, andere hören Popmusik aus Kassettenrekordern, andere veranstalten Kabarett-Wettbewerbe, um Mubarak lächerlich zu machen.

Im Moment erleben wir in Kairo eine offene Gesellschaft. Man läuft am Nil entlang und trifft keine Polizisten. Man braucht keine Angst zu haben. Die polizeiliche Willkür war so stark, dass viele sich das gar nicht mehr getraut haben. Es gab nur Ärger.

Jetzt sagen viele junge Männer: Zum ersten Mal fühle ich, dass Ägypten mein Land ist. Früher liefen sie mit hängenden Schultern durch die Stadt. Kein Job, keine Perspektive. Jetzt sind sie stolz, fühlen sich wichtig, werden gebraucht.

Alles dreht sich jetzt um den Tahrir-Platz. Dieser Platz ist Ägypten. Wer ihn in Besitz nimmt, beherrscht die internationalen Bilder. Die Logik des Regimes: Wenn die Demonstranten von dort vertrieben werden, stirbt die Revolte.

Der Platz gehört wieder dem Protest. Die Mubarak-Anhänger werden von der Armee gehindert, weiter auf uns einzuprügeln. Und plötzlich, nach einigen hässlichen Tagen mit vielen Verletzten und Toten, kehrt die Volksfeststimmung zurück. Es wird Musik gemacht, getanzt, auch gebetet. Viele Menschen haben wieder ihre Kinder mitgebracht. Ein schönes Bild, das mir Mut macht.

7. Feb. (Mo)

Auch heute morgen wurde wieder gegen Mubarak in Kairo demonstriert. Jetzt haben auch die Beduinen angefangen, gegen ihrer Diskriminierung und Drangsalierung zu protestieren. Sie drohen, eine Pipeline zu zerstören, am Samstag war bereits eine nach Israel führende Gasleitung von Unbekannten gesprengt worden.  Es gab auch einige Überfälle auf ägyptische Polizeikasernen, einen sogar mit Raketen – am Rande des Gazastreifens.

Apropos: Man hört wenig von den Palästinensern in diesen Tagen. Einer ihrer politischen Führer sprach allerdings heute auf dem Tahrir-Platz – er erzählte zum hunderttausendsten Mal das selbe: über den Konflikt zwischen Palästinensern und Juden in Israel. Via dpa kommt die Nachricht: Auch in der Stadt Al-Arisch im Norden der Sinai-Halbinsel gingen die Proteste am Montag weiter. Dort bildete sich ein „Komitee für den Schutz der Revolution“

Der epd meldet: „Der bolivianische Präsident Evo Morales hat die Massenproteste in Ägypten begrüßt. „Das Volk von Ägypten erhebt sich gegen den amerikanischen Imperialismus“, sagte der sozialistische Politiker am Sonntagabend auf dem Weltsozialforum der Globalisierungskritiker in Dakar (Senegal). Bewegungen wie in Ägypten seien nicht mehr zu stoppen. „Unsere Feinde sind der Neoliberalismus, der Neokolonialismus und der Imperialismus“, sagte er.  Und diese „Feinde“  versuchen schon die ganzen letzten fünf Tage Mubarak gegen einen allen halbwegs genehmen „Herrscher“ auszutauschen, die FAZ zählte heute die versch. Einflußgruppen auf, die es dabei zu berücksichtigen gilt. Die jungen Facebooker haben sich allerdings auch organisiert und verhandeln mit, meinen sie jedenfalls.

Die letzte dpa-meldung lautet:  „US-Präsident Barack Obama erklärte, er messe der Muslimbruderschaft keine große Rolle bei, die islamistische Gruppe habe nicht die Unterstützung der Mehrheit. Er räumte aber ein, dass sie gut organisiert sei. Ihre Ideologie weise anti-amerikanische Strömungen auf.“

8.Feb (Di)

Es gibt in der Esobewegung ein „ägyptisches Totenbuch“ – eine Sammlung von Zaubersprüchen, Beschwörungsformeln und liturgischen Anweisungen. Nun gibt es ein neues – in den US, von einer Menschenrechtlerin: in ihm werden alle in der ägyptischen Revolution, wie man den Aufstand jetzt nennt, zu Tode gekommenen Demonstranten aufgenommen – 300 bisher.

Heute haben sich auf dem Tahrir-Platz in Kairo wieder zigtausende versammelt. Die JW spricht von einer „Demokratiebewegung“. Die Massen dort  fordern immer noch den Rücktritt Mubaraks, dessen Privatvermögen sich übrigens auf 40 Milliarden Euro belaufen soll. Die Jugendorganisationen – von den linken bis zu denen der muslimbrüderschaft – verweigern sich dem „Dialog“, so lange Mubatak noch an der Macht ist.

Die Bundesregierung richtet ihm schon mal eine Suite in einer Luxusklinik in Baden-Baden her. Kein Witz. Die Deutsche Polizeigewerkschaft warnt jedoch davor, den ägyptischen Präsidenten nach Deutschland ausreisen zu lassen: „Das wäre eine echte Hiobsbotschaft für die Polizei, die nicht nur für die Schutzmaßnahmen zu sorgen hätte, sondern mit umfangreichen Protesten rechnen müsste,“ so der Sprecher der DPolG.

Derzeit wird vor allem über die Verfolgung von Journalisten durch Geheimdienst, Polizei etc. berichtet, am stärksten sind die von Al Dschasira betroffen. Die Staatssender verbreiten, dass die demonstrierenden Jugendlichen von der Hamas unterwandert und vom Mossad bezahlt werden. Gestern sprach tatsächlich ein Hamasführer auf dem Tahrirplatz. „Ohne Al Dschasira hätte die Revolte wohl nicht so schnell Fahrt aufgenommen,“ schreibt die Berliner Zeitung heute. Die Staatssender versuchen dagegen den Eindruck zu vermitteln, „dass sich der Platz langsam leere und die Revolte wahrscheinlich vorbei sei“.

„Das Regime scheint sich nach der anfänglichen Schockstarre gefangen zu haben,“ mutmaßt die JW-Korrespondentin, weil der Westen permanent und von allen Seiten die Wiederherstellung von Ruhe und Ordnung dort einklagt, hätten die willkürlichen Verhaftungen und Mißhandlungen durch die Armee zugenommen.

Der Londoner Professor David Cesarini schlug gestern in einer BBC-Radiodiskussion sogar schon vor, den Tahrirplatz in Kairo nach dem Vorbild des Tienamen-Platzes in Peking von der Armee räumen zu lassen. Was der ehemalige Blairberater Matthew Taylor sofort als eine „unglaublich mutige Aussage“ bezeichnete.

Die tägliche Kairo-Kolumnistin der taz, Nora Mbagathi (Tochter von Bettina Gaus), die inzwischen mit ihren Freundinnen auf dem Tahrirplatz zeltet, schreibt heute: „Es ist faszinierend, wie schnell Leute, die sich durch ein gemeinsames Ziel verbunden fühlen, Wege finden, sich selbst und anderen das Leben zu erleichtern.“ Ihre Kolumne besteht im Wesentlichen aus der Schilderung dieser Wege.

Ferner kommt ein algerischer Schriftsteller in der taz ausführlich zu Wort: Er ist pessimistisch, was ein Übergreifen des Aufstands auf sein Land betrifft, das Netz der Generäle, der Clans und großen Familien sowie der Verbände, Organisationen und Regionalfürsten sei zu dicht: „Die einzige unbekannte Größe in diesem Spiel sind die Jugendlichen.“

Wikileaks veröffentlichte Lageberichte der Kairoer US-Botschaft, eine  Einschätzung der Botschafterin lautete: „Präsident Mubarak ist der stolze Führer einer stolzen Nation“.

Tariq Ramadan, Schweizer Islamwissenschaftler, Enkel des Begründers der Muslimbrüder, schreibt in der Berliner Zeitung:

„Von Washington bis Tel Aviv, von Kairo bis Damaskus, Sanaa, Algier, Tripolis und Riad gibt es nur eine Sorge: Wie kann man diese Bewegung unter Kontrolle bringen, wie kann man aus ihr Profit ziehen? Weder Linke, noch Gewerkschaften noch Muslimbrüder dürfen sich das Recht anmaßen, allein eine Massenbewegung zu repräsentieren, die über sie hinausgeht und der sie dienen müssen.“

Dagegen warnt der reichste Mann Ägyptens, der Kopte Naguib Sawiris in der Süddeutschen Zeitung: „Wenn Ägypten fällt, ist der Nahe Osten verloren!“ Das SZ-Feuilleton gefällt sich währenddessen in kulturkritischen Platz-Analysen. Daneben darf der Amihistoriker Eric Selbin ausführlich begründen, dass es die Erinnerungen (Geschichten, Mythen etc.) an die vergangenen Revolutionen sind, die die „aktuelle Revolution befeuert“.

Im Rahmen der „Berliner Lektionen“  diskutierten gerade Friedrich Kittler und Andrej Ujica (der einen Film über Ceausescu gemacht hat) im Renaissancetheater – über eben diesen Film, den Kittler als zu wenig faktisch kritisierte. Interessant an der Veranstaltung war, dass das Publikum die Kontrahenten lauthals aufforderte, die Ereignisse in Tunis und Kairo zu kommentieren. Kittler tat sie ab mit der Bemerkung: Heutige Revolutionen würden sowieso nur für amerikanische Medien gemacht. Die FAZ fand: „Er ließ das Wann, Wo, Wie der Gegenwart am Bildrand eines argumentativen Spezialeffekts verschwinden.“ Formulieren können se. Auf der Titelseite der FAZ ist heute groß das arabischen Schriftzeichen Al Hurrija – Freiheit – abgedruckt.

Letzte Meldung:

„Der türkische Ministerpräsident hat  Mubarak aufgefordert, weitere Schritte zu ergreifen, um die Forderungen der Demonstranten zu erfüllen. Ägyptens Regierung hat unterdes einen Zeitplan für eine friedliche Machtübergabe ausgearbeitet. Zugleich versprach der Stellvertreter von Staatschef Husni Mubarak im Staatsfernsehen, dass die Regierung nicht gegen die Demonstranten vorgehen werde. Die Opposition hat zu neuen Massenprotesten aufgerufen, um Mubarak aus dem Amt zu drängen. Die Großkundgebung gilt auch als Test der Durchhaltekraft der Opposition nach den seit zwei Wochen anhaltenden Protesten.“

9. Feb. (Mi)

Die französischen Medienintellektuellen, ehemals Linke, nun alles jüdische Antitotalitaristen und Menschenrechtler mit einem wahren Horror vorm Islam, haben in bezug auf Tunis und Kairo versagt, schreibt die FAZ heute morgen – und zitiert dazu den liberalen Jean-Francois Kahn: „Die Entfernung von der Revolution im eigenen Land macht die Intellektuellen blind für die Sehnsucht nach Freiheit in der arabischen Welt. Wer einen Aufstand nicht unterstützt, wird zum Verräter.“

Starke Worte! Die Pariser Neokonservativen (Finkielkraut, Glucksmann, Bruckner etc.) haben zwar ihren „Irrtum“ inzwischen eingesehen, aber sind immer noch weit davon entfernt, sich mit den aufständischen Jugendlichen im Nahen Osten zu solidarisieren. Sie schimpfen über Facebook – eine Verdummungs- und Infantilisierungs-Maschine, und an Wikileaks beklagen sie die „Tyrannei der Transparenz“. Wunderbare Worte.

In der selben FAZ (von heute) verkündet ihr Herausgeber Frank Schirrmacher – auf zwei Seiten:

„Muslimische Gesellschaften müssen lernen, dass die Deutung der Welt das Ergebnis von Kommunikation ist.“ (Mehr oder weniger als Worte?)

Schirrmacher fährt fort:

„Dazu müssen diese Länder ein wichtiges Lebensmittel importieren: deutsche Philosophie.“ (Dies als fettgedruckte Unterzeile).

Die Schlagzeile lautet – man glaubt es nicht:

„Nur ein Habermas kann uns retten“

Schirrmachers Gewährsmann ist der Vizepräsident des ersten demokratischen islamischen Landes – Malediven. Er ist der erste promovierte Malediver – und seinen Doktor hat er bei Habermas gemacht. Frank Schirrmacher, der Franz-Josef Wagner innerlich und äußerlich immer ähnlicher wird, hat ihn interviewt.

Ähnlich wie die französischen „Medienintellektuellen“ fürchtet laut FAZ (Politikteil) auch „Jerusalems Führung, Ägypten könnte zu einem ‚zweiten Iran‘ werden und Amerika sich – wie von Mubarak – abwenden“.

Da kann sie Obamas Nahost-Krisenberater, der US-Politologe Joshua Stacher beruhigen: „Das Fenster zur Demokratie hat sich wieder geschlossen.“ In Washington und anderswo im Westen „gibt es immer noch viele, die Angst haben vor einer ägyptischen Demokratie“. Die Facebook-Generation in Ägypten und Tunesien hat es vergeigt: „Die Demonstranten haben Fehler gemacht, statt Mubaraks Rücktritt zu fordern hätten sie eine Alternative entwickeln müssen.“

„Ich bin sehr zurückhaltend, das alles eine Revolution zu nennen. Die Welt starrt auf einen Platz in einer Stadt mit 20 Millionen Menschen. Ich bin nicht sicher, dass die ägyptische Gesellschaft kippt. Die letzten Tage haben gezeigt, wie anpassungsfähig das ägyptische Regime ist.“ (Stacher wurde von der Berliner Zeitung interviewt – als „US-Experte“).

An Realismus sind diese US-Experten kaum zu überbieten, das legt schon ihr darwinistisches Weltbild nahe, aber ständig droht dabei Zynismus.

Wie sieht es jedoch von Nahem aus?

dpa meldete heute vom Tahrirplatz: „Aus Protest gegen Mubarak haben erneut tausende Menschen auf dem Platz die Nacht verbracht. Viele Regierungskritiker verbrachten die Nacht vor den Panzern der Armee rund um den Platz im Zentrum von Kairo, um die Armee am Abzug zu hindern. Sie fürchten erneute Angriffe von Mubarak-Anhängern, sollte die Armee nicht mehr schützend vor ihnen stehen. Andere Regierungsgegner übernachteten in Zelten. Ein Aktivist rief der Menge am Morgen durch einen Lautsprecher aufmunternd zu: „Seid nicht müde, seid nicht müde. Die Freiheit ist noch nicht befreit.““

Hört sich tatsächlich etwas nach Passivität und Einbunkerung an (etwas was Partisanen/Aufständische nie tun sollten. Schon Marx riet, wenn, dann muß es auch sofort zügig weiter gehen, bevor der oder die Gegner
sich sammeln und wieder vereinheitlichen können. Genau das tut das ägyptische Regime jetzt Tag und Nacht.)

Die spanische Zeitung „El Pais“, die jetzt übrigens dem Nomadenmilliardär Nikolas Berggruen aus Wilmersdorf gehört, macht den aufständischen Jugendlichen heute Mut – mit heißer Luft:

„Die Resignation ist überwunden. Die jungen Leute in den arabischen Staaten waren die treibende Kraft bei den Unruhen. Sie erschütterten eine Welt, die wie versteinert erschien. Dabei hatte mit dieser amorphen Masse niemand gerechnet, die ohne Anführer und ohne Ideologie ist. Die Bewohner dieser Länder werden politisch unterdrückt. Ihre Armut steht in scharfem Kontrast zum Reichtum und zur Habgier der Herrscher.

Es war kein Zufall, dass nach dem Ausbruch der Unruhen die Regierungen an erster Stelle den Mobilfunk und das Internet abstellten, um die Revolten zu unterdrücken. Die moderne Technologie hatte es den jungen Leuten in den arabische Ländern ermöglicht, sich dem Wandel in den anderen Teilen der Welt anzuschließen.“

Für den gestrigen Nachmittag organisierte die Bewegung „Jugend des 6. April“ eine Protestaktion vor dem Gebäude des staatlichen Rundfunks, das nicht weit vom Tahrir-Platz entfernt am Nil-Ufer liegt. Der Protest richte sich „gegen die staatlichen Medien, die Lügen verbreiten, um den Präsidenten zu schützen“, erklärte eine Sprecherin der Bewegung.

Der ägyptische Großunternehmer Samih Sawiris baut in seiner Lagunenstadt El Gouna am Roten Meer auf eigene Kosten einen Campus für die Technische Universität Berlin. Die unruhige politische Lage in seiner Heimat sieht er nicht als Gefahr für sein millionenschweres Bildungsprojekt. Sawiris will in Kooperation mit der TU Ingenieursausbildung nach deutschem Hochschulrecht in Ägypten anbieten. Er setzt auf Masterstudiengänge, die arabische Staaten dringend brauchen: Wassermanagement, Energietechnik und Stadtentwicklung. Sawiris hat an der TU Wirtschaftsingenieurwesen studiert und ist mit dem Bau von Touristenzentren reich geworden.

In einer weiteren US-Botschaftsdepesche 2010, die Wikileaks veröffentlichte, heißt es, eine israelische Delegation habe sich nach einem Treffen mit Mubarak geschockt über dessen greisenhaftes Aussehen und undeutliche Rede gezeigt. Den weiteren Angaben zufolge standen der ägyptische Geheimdienst und das israelische Verteidigungsministerium in tagtäglichem Kontakt über eine speziell eingerichtete Hotline.

dpa meldete gestern: 1. „Westerwelle bietet Ägypten Demokratie-Hilfe an.“ 2. Israel will seine geplante Grenzanlage zu Ägypten schneller bauen als ursprünglich geplant. 3. Den Touristenführern verenden mangels Touristen und damit mangels Einkünfte reihenweise die Pferde und Kamele: „Dabei hält sich in Kairo das Mitgefühl für die Besitzer der Tiere in Grenzen. Viele von ihnen hatten sich nämlich in der vergangenen Woche von Anhängern der Regierungspartei NDP aufwiegeln lassen und waren mit ihren Pferden und Kamelen mitten in die Menge der friedlichen Demonstranten auf dem Tahrir-Platz hinein galoppiert. Dabei hatten sie mit Stöcken auf die Demonstranten eingeschlagen.“

Eine taz-Leserin schreibt:

Ist es möglich, uns zu organisieren, so daß wir alle, oder zu vielen in Bremen (ich wohne in der Nähe) oder Düsseldorf oder Stuttgart …. auf dem Marktplatz leben, bis der Kerl da in Kairo weg ist? Sollen, können wir das tun? Oder was sonst, daß wir, die die so tapferen Menschen dort unterstützen wollen, auch äusserlich wahrgenommen werden, und wirken können? Ich bin 61 Jahre und nicht die allerstärkste, aber wenn Freunde was organisieren, ich komme, und bringe Freunde mit.

Hoffentlich halten alle guten Kräfte durch !? liebe Grüße,

Sabine Hönig/ Dipshorn bei Bremen/hoenigbine@biomai

Ein „US-Trendforscher“ sieht einen Zusammenhang zwischen den „Unruhen“ im Nahen Osten und den Single-Issue-Protesten in Europa, insbesondere in Stuttgart, wobei letztere, angefacht durch die arabischen Aufstände, sich ausbreiten und radikalisieren könnten, was zugleich mit den politischen Problemen (Palästina, Israel, Iran) zu einem Weltkrieg sich ausweiten würde. Er ist deswegen pessimistisch.

Die taz meldete gestern: „Abermals Nachtproteste in Stuttgart: In der Nacht gab es zahlreiche Aktionen gegen die Umpflanzung von Bäumen. Sitzblockaden wurden geräumt. Am Montagabend demonstrierten wieder Tausende.“

Einige deutsche Sozialforscher begreifen die arabischen Aufstände der Jugendlichen als eine nachgeholte 68er-Bewegung, die sich gegen den „Muff“ der frühen Jahre richtete und nun gegen die alten „Muftis“. So ähnlich sieht das auch der algerische Schriftsteller Boualem Sansal (62) – im Interview mit Reiner Wandler (taz-Korrespondent in Madrid):

„R.W.: Es handelt sich also wesentlich mehr um eine Aufstand gegen etwas, als um einen Aufstand für etwas?

B.S.: Es ist eine Rebellion gegen das Eingeschlossensein. Und im Laufe der Rebellion entdeckt man dann die Möglichkeiten, die man tatsächlich hat. Es taucht die Frage auf, was man machen kann. Erst dann kommt die Politik ins Spiel und es geht plötzlich gegen Ben Ali, gegen Mubarak, für die Demokratie … Aber am Anfang ist es nichts weiter als eine biologische Reaktion, ein Schrei nach Leben und gegen die Mauer, die alles umgibt.

Ein arabischer Mai ’68?

Das ist ein guter Vergleich. Die Jugend fühlt sich völlig von der Gesellschaft ausgeschlossen. Es ist die Gesellschaft der Erwachsenen, die angepasst leben, die ein völlig antiquiertes politisches System akzeptieren und weiterhin starke familiäre Traditionen pflegen. Das nimmt den Jugendlichen jeden Tag ein bisschen mehr die Luft zum Atmen, bis das Ganze explodiert.

Die Jugendlichen erobern also ihre Unabhängigkeit von der Generation der Unabhängigkeit?

Der Kampf um die Unabhängigkeit vom Kolonialismus lebt in unseren Köpfen als Mythus weiter. Wir verbinden das mit der Freiheit, mit der Möglichkeit, unsere eigene Identität zu leben. Das Gegenteil, die Abkapselung wurde Realität. Ganze Generationen haben das erduldet. Jetzt ist der Moment für die zweite, die echte Unabhängigkeit gekommen. Es geht nicht mehr um die Unabhängigkeit eines Landes, jetzt geht es um die Unabhängigkeit des Individuums.

Auch in Algerien rebellierte die Jugend Anfang Januar. Doch die Opposition hat die Rebellion verschlafen. Erst jetzt, am 12. Februar, mehr als einen Monat später organisiert ein breites Bündnis Demonstrationen für einen demokratischen Wandel…

Die Bewegung, die jetzt zu Demonstrationen aufruft ist keine spontane Angelegenheit, wie dies in Tunesien der Fall war. Die Frage ist, ob das Bündnis auch die algerische Jugend mobilisieren kann.“

Statt von einer Revolution vom „arabischen Aufstand“ zu reden, erinnert an das schöne Buch und den Film: „Der arabische Aufstand“ von/über T.E.Lawrence, dessen Hauptwerk „Die sieben Säulen der Weisheit“ heißt.

An einer Stelle heißt es darin wunderbar poetisch, um nicht zu sagen verrückt:

„In Um Kes – zwischen Haifa und Dera – ist das alte Gadara, die Geburtsstätte des Menippos und des Meleager, des unsterblichen griechischen Syriers, dessen Schriften den Höhepunkt der syrischen Philosophenschule bedeuten. Der Ort liegt genau oberhalb der Jarmukbrücke, eines stählernen Meisterwerks, dessen Zerstörung meinen Namen rühmlichst in die der Schule von Gadara einreihen wird“.

Im „Freitag“ wurde der Eintrag „Guerilla“ von T.E. Lawrence in der Encyclopaedia Britannica rezensiert. Dort heißt es an einer Stelle:

„Die Grundfrage ist simpel: Wann setzt man Kommunikationsmittel ein? Immer dann, wenn der Gesprächspartner nicht da ist. Dann greift man zum Telefon, schreibt eine E-Mail usw., um eben dort mit jemandem kommunizieren zu können, wo er nicht ist, nämlich hier. In modernen Gesellschaften muss man mit Formen der Abwesenheit umgehen können. Eben darin liegt für Lawrence der Ansatz des Partisanen: als Abwesender an der Schlacht teilzunehmen. So wie man kommuniziert, wo der Kommunikationspartner nicht ist, so treiben Lawrence¥ arabische Guerilleros ihre Kommunikationsforschung in der Weise, dass sie angreifen, wo der Feind nicht ist (»the study of communication, in its extreme degree, of attack where the enemy is not«).“

An anderer Stelle schreibt Lawrence: »The Arabs might be a vapour, blowing where they listed« und »drifting about like a gas«. Der Araber als Geist und Gas.

„Wie aber werden Partisanen zu Geistern? Indem sie Unterscheidungen abschaffen. Das ist das zweite intellektuelle Grundkonzept: Nimm dem Gegner die Möglichkeit, Unterscheidungen zu treffen. Wahrnehmen heißt unterscheiden können, und wer das nicht kann, ist blind selbst mit modernsten Aufklärungsmitteln.“

Von oben gibt es auch so etwas – ständig: „Unterscheidungen verwischen“. Grad kam dazu die Ticker-Meldung:

„Die Jugend Ägyptens verdient nationale Anerkennung“, wurde Präsident Mubarak in den staatlichen Medien zitiert. „Sie sollte nicht festgenommen, belästigt oder ihres Rechts auf freie Meinungsäußerung beraubt werden.“

„In der Innenstadt von Kairo feierten derweil Hunderttausende Demonstranten den aus dem Gefängnis freigelassenen Google-Manager Wael Ghonim. Viele Menschen kamen eigenen Angaben zufolge zum ersten Mal auf den Tahrir-Platz, um den jungen Ägypter zu sehen, der als einer der Anführer der Protestbewegung gilt. „Wir werden unsere Forderung nach einer Absetzung des Regimes nicht aufgeben“, sagte Ghonim. Der 30jährige, der in Dubai lebt, steht nach eigener Aussage hinter der Facebook-Seite „Wir sind alle Chaled Said“. Dieser – 28-jährige Blogger – war im Juni in Alexandria von zwei Polizisten in Zivil zu Tode geprügelt worden.“

Die Junge Welt interviewte für heute eine Zahnmedizinstudentin in Alexandria, die überraschend kluge Antworten gab. In ihrer Stadt demonstrieren vorwiegend junge Arbeitslose, weil die anderen, die Arbeit haben, weiter Geld verdienen müssen. Es ging in Alexandria am 18.Januar los, als sich ein 25jähriger Arbeitsloser auf dem Dach seines Elternhauses verbrannte. Sie eskalierte, als am 25. eine Demo gegen Armut und Arbeitslosigkeit brutal von der Polizei niedergeknüppelt wurde.

Facebook und Twitter spielen nach Meinung von Lamiaa Kabari (23) eine große Rolle – seit im Juni 2010 der 28jährige Blogger Khaled Said von Zivilpolizisten auf der Straße zu Tode geprügelt wurde. „Die elektronischen Kommunikationsmöglichkeiten haben unserem Aufstand auf jeden Fall geholfen,“ meint sie.

„Auch dann noch, als das Internet von der Regierung abgeschaltet wurde. Die Menschen haben sich nämlich umgehend eine andere Form der Kommunikation gesucht, und das war die Straße.“

Also hat sich das Internet durch seine Nicht-mehr-Existenz real ausgewirkt – auf das Soziale…

„Zur Zeit unterhalten wir eine geheime Facebook-Gruppe.“

Real „bleibt uns aber erst einmal nichts anderes übrig, als auf die Einsetzung einer Übergangsregierung und die Erfüllung der jüngsten Reformversprechen zu warten. Dabei geht die Folter in den Knästen des Geheimdienstes weiter. Es müßten tausende vor Gericht gestellt werden, das ganze Regime.“

Einige Kommentatoren lassen sich über die „Taktik“ – den Wackelritt – des Militärs aus: Einerseits sind sie die Stützen des Regimes, andererseits würde ihr Einschreiten gegen die Demokratiebewegung zu Massendesertationen bei den Soldaten führen.

Reuters meldet:

„Mubarak lehnt Klinikaufenthalt in Deutschland ab. Der Präsident braucht keine medizinische Behandlung“, erklärte Mubaraks Stellvertreter, Vizepräsident Omar Suleiman.“

Daraufhin dpa:

„Mit einem Krankenhausaufenthalt im Ausland wäre dem geschwächten Präsidenten ein vorzeitiger Abgang in Würde ermöglicht worden.“

Diese Deutschen haben Probleme! Aber es kommt noch dicker: Sie tun jetzt so, als hätten die Ägypter sie geradezu bedrängt, Mubarak aufzunehmen:

Die Bundesregierung hat angebliche Pläne für einen Klinikaufenthalt des ägyptischen Präsidenten Husni Mubarak in Deutschland strikt dementiert. „Nicht nur hat es keinerlei offizielle oder inoffizielle Anfragen bei der Bundesregierung gegeben in dieser Sache. Es hat auch keinerlei offizielle oder nicht offizielle Angebote gegeben“, sagte Regierungssprecher Steffen Seibert heute in Berlin.

Wer so einen Scheiß an die Presse gibt, verdient schon Prügel, noch schlimmer aber ist, dass diese ebenso idiotischen wie korrupten deutschen Journalisten das auch noch abdrucken.

dpa meldet aus Kairo:

„Ägyptische Oppositionsgruppen haben empört auf Äußerungen von Vizepräsident Omar Suleiman reagiert, wonach die Protestierenden nur die Wahl zwischen einem Dialog oder einem Putsch hätten. Ajman Nur und andere Oppositionsführer erklärten, solche Äußerungen kämen gefährlichen Drohungen gleich. Die Rufe von Demonstranten nach zivilem Ungehorsam seien „sehr gefährlich für die Gesellschaft“, konterte Suleiman. Er erklärte, die Krise müsse so bald wie möglich ein Ende finden, die Regierung wolle das über den Dialog und nicht mit der Polizei erreichen. Die USA forderten ihn indes auf, auf eine zentrale Forderung der Demonstranten einzugehen und die Notstandsgesetze aufzuheben.“

„Ein Ägypter, der in Amman arbeitet, sitzt mit seiner Frau und seinem Sohn im Flugzeug. Sie sprechen über die Geschehnisse. Ihre Namen wollen sie aus Furcht jedoch nicht nennen. „Ich will es mit meinen eigenen Augen sehen, was mit unserem Ägypten passiert ist“, sagt die Frau. Sie macht sich Sorgen darüber, dass die Unruhen Ägyptens Wirtschaft ruinieren könnten und die Position des Landes als Regionalmacht und Kulturzentrum zerstören könnten. „Es ist gut, dass sie einen Wandel gebracht haben. Aber können wir nicht sagen: ‚Nun ist genug‘.“ Das wäre auch ganz im Sinne des ZDF-Moderators – wie man sieht:

„Chaos in Kairo“/ZDF-Special. Photo: tagesspiegel.de


(Aufstands-) Theorie:

„The Russians have an understanding of Rhizom-War,“ meinte Alexander Brener in der Prenzlauer Berg Kneipe des Anarchodichters Bert Papenfuß: „Rumbalotte“ – was ausgeschrieben so viel heißt wie: „Ruhm und Ehre der baltischen Rotbannerflotte“. Der botanische Begriff „Rhizom“ wurde von den Philosophen Gilles Deleuze und Felix Guattari verwendet – als Modell für ein gleichsam unterirdisch-verknüpftes Beziehungsgeflecht Widerständiger. Der Philosoph Alexander Brener kommt aus Russland, wo er laut der Kunstkritik „zum Kulminationspunkt des Moskauer Aktionismus“ heranreifte – mit nicht selten gewalttätig endenden Performances. Als er seinen Aktionsradius nach Westen hin ausdehnte, tat er sich mit der Wiener Slawistin Barbara Schurz zusammen. Ihre gemeinsamen „Abenteuer“, etwa auf einer Lesung von Toni Negri in einer italienischen Millionärsvilla, in einer Irrenanstalt im Kongo und in der Trotzki-Villa in Mexiko, wo sie auf ein Nachkommen der einst von Trotzki gezüchteten Riesenkaninchen stießen, veröffentlichten sie als Berichte in der Zeitschrift „Gegner“ des Basisdruck Verlags. Ihre Bücher – u.a. „Was tun?“ und „The Art of Destruction“ – gab der Wiener Verlag Selene heraus. Seitdem es diesen nicht mehr gibt, publizieren sie ihre Bücher im Selbstverlag. Es sind z.T. Reiseberichte. Das letzte, auf Deutsch und Russisch, hieß: „Die Befreiung Istanbuls“. Ich zählte darin 32 Verbrechen und ebensoviele Obszönitäten. Es enthält daneben aber auch ein Lob auf das Unglücklich-Sein sowie die Tiqqun-„Theorie vom Bloom“. Ihr nächster Bericht stammt aus Rom, er geht Ende Februar in Druck.

Bevor die beiden sich jüngst wieder in Berlin niederließen, hatten sie eine Diskussion mit der Gruppe „Tiqqun“ in Paris, die sie vollends überzeugte, den Kunstkontext hinter sich zu lassen. Das heißt wohl: politischer zu werden. Es ging und geht ihnen ums „Werden“, das haben sie mit „Tiqqun“ gemeinsam – und beide berufen sich dabei auf die „Milles Plateaux“ von Gilles Deleuze. Wie dieser in dem Artefilm „Abécédaire“ ausführte, ist die Revolution keine Geschichte, sondern ein „Werden – was die Historiker nie begreifen“. Und das sie – die Revolution – noch jedesmal übel endete, „das weiß man doch! Schon die englischen Romantiker redeten über Cromwell genauso wie die heutigen Ex-Linken über Stalin. Das hält aber zum Glück doch niemanden davon ab…“ An anderer Stelle sagt er über das Werden: „Es kommt durch Bündnisse zustande. Das Werden ist eine Vermehrung, die durch Ansteckung geschieht. Es handelt sich dabei immer um ein Plural – also um Gruppen, Schwärme, Meuten, Banden…“

Die Gruppe Tiqqun sorgte jüngst für einigen Medienrummel – mit ihrem Manifest „Der kommende Aufstand“. Im Internet findet man unterdes noch einige weitaus bessere Lageberichte, Pamphlete, Manifeste von ihnen – zuletzt die „Einführung in den Bürgerkrieg“. Daneben hat der Merve-Verlag ihre „Bausteine einer Theorie des Jungen-Mädchen“ veröffentlicht. Ansonsten ist der Kreuzberger Verlag „diaphanes“ gewissermaßen ihr deutscher Literaturagent, u.a. erschien dort „Kybernetik und Revolte“. Nicht wenige deutsche Kritiker tun diese „Undergroundphilosophie aus Frankreich“ (diaphanes) als dunkel-postmodernen Theorie-Remix ab oder unterstellen ihr gleich, wie die taz, sich aus trübsten Naziquellen zu speisen. Da ist sich die Kritik in Ost und West schon lange einig: Spätestens seit Michel Foucaults Arbeiten gelten ihr die meisten linken Theorien aus Paris als unnötig verkomplizierte Irrlehren.

Tiqqun knüpft bei den „Situationisten“ an, die einst schon die im „Mai 68“ kulminierende Neue Linke beflügelt hatte. Den italienischen Philosophen Georgio Agamben kann man als ihren Lehrer bezeichnen, während Tonio Negris Schriften von ihnen als üblen „Negrismus“ abgetan werden. Praktisch nomadisieren sie zwischen „Landkommunen“ und „Schwarzem Block“. Die Polizei verdächtigte sie deswegen eines Bombenattentats. Die FAZ schrieb: „In Frankreich wurde eine terroristische Zelle ausgehoben. Das von einem Philosophen angeführte Kollektiv prophezeite eine Epoche der Unordnung, brachte Züge zum Stehen und manipulierte Hochspannungsleitungen – und entfacht eine Diskussion über die Grenzen politischer Gewalt.“

Es geht dabei jedoch im Gegenteil – um die Grenzen polizeilicher Gewalt, denn deren „Beweise“ erwiesen sich als wenig stichhaltig. Im Gegensatz zu denen der Gruppe Tiqqun, die fortlaufend die alten Bedrückungen des Proletariats mit ihrer „negativen Anthropologie“ phänomenologisch in ein allgemeines Leiden am Hier und Jetzt übersetzt. „Die Unterwerfung unter die Arbeit, die eingeschränkt war, da der Arbeiter noch nicht mit seiner Arbeit identisch war, wird gegenwärtig durch die Integration der subjektiven und existentiellen Gleichschaltung, d.h. im Grunde durch den Konsum, ersetzt,“ heißt es z.B. in der „Theorie des Jungen-Mädchen“. Bei dieser Figur handelt es sich um das Resultat einer Kapitalisierung der Begehren beiderlei Geschlechts – die auf die Selbstverwertung hinausläuft – am Ende auf eine „moralisch-rosa Hautfarbe“.

Wenn es dazu weiter unten heißt: „Das Junge-Mädchen ist der Endzweck der spektakulären Ökonomie,“ dann klingt da die „Gesellschaft des Spektakels“, wie die Situationisten sie nannten, an. Es wird in ihren Schriften ansonsten Vieles neu gedacht. In der „Einführung zum Bürgerkrieg“ schreibt Tiqqun in einer Fußnote: „Ich spreche vom Bürgerkrieg, um ihn auf mich zu nehmen, um ihn in Richtung seiner erhabensten Erscheinungsweisen auf mich zu nehmen. Das heisst: meinem Geschmack entsprechend. Und Kommunismus nenne ich die reale Bewegung, die überall und jederzeit den Bürgerkrieg zu zunehmend elaborierter Beschaffenheit vorantreibt.“ An anderer Stelle ist die Rede von „einer gewissen Ethik des Bürgerkriegs“.

Von Rosa Luxemburg stammt der Satz – zu den Bürgerkriegsverhinderern der SPD hin: „Man kann es drehen und wenden wie man will, Klassenkampf ist nur ein anderes Wort für Bürgerkrieg“. Zuletzt fragte sich der französische Philosoph Michel Foucault – bloß noch rhetorisch: „Was gibt es überhaupt in der Geschichte, was nicht Ruf nach oder Angst vor der Revolution wäre?“

Statt „nach zu rufen“ bemüht sich Tiqqun, und ebenso Brener/Schurz, gegen die Reduzierung der „formes de vie“ (Lebens- bzw. Existenzweisen), neue zu bestimmen – und das negativ, wenn es z.B. in der „Einführung zum Bürgerkrieg“ heißt: „In der ziemlich reichhaltigen Sammlung von Mitteln, welche der Westen bereit hält, um sie gegen jegliche Form von Gemeinschaft anzuwenden, findet sich eines, das ungefähr seit dem 12. Jahrhundert eine gleichermassen vorherrschende als auch über jeden Verdacht erhabene Stellung einnimmt: ich meine das Konzept der Liebe. Man muß ihm, über die falsche Alternative, die es jetzt allem aufzwingt („liebst du micht oder liebst du mich nicht?“), eine Art ziemlich furchterregender Effizienz bezüglich dem Vernebeln, Unterdrücken und Aufreiben der hochgradig differenzierten Palette der Affekte und der himmelschreienden Intensitätsgrade, die beim Kontakt zwischen Körpern entstehen können, zugestehen. So half dieses Konzept mit, die gesamte extreme Möglichkeit der differenzierten Ausbildung der Spiele zwischen den formes-de-vie einzuschränken.“ An anderer Stelle heißt es: „Es genügt, sich in Erinnerung zu rufen, wie im Laufe des Prozesses der ‚Zivilisation‘ die Kriminalisierung von allen Leidenschaften mit der Heiligsprechung der Liebe als einzige und einzigartige Leidenschaft, als der Leidenschaft par excellence einherging.  Selbstverständlich gilt dies nur für das Wort und nicht für dasjenige, was sie unabsichtlich trotzdem hat stattfinden lassen…“

Vor kurzem fand im Kreuzberger Mehringhof eine Veranstaltung der Gruppe „Freunde der klassenlosen Gesellschaft/Redaktion ‚Kosmoprolet'“ statt, auf der es um eine Kritik an diesem und anderen Tiqqun-Texten ging: „Anstatt sich mit den Schranken der gegenwärtigen Kämpfe zu konfrontieren, flüchten sich die Autorinnen in die Pose von Verschwörern. Weil letztlich nebulös bleibt, wie das gesellschaftliche Elend produziert wird, bleibt auch die Möglichkeit seiner Abschaffung im Dunkeln,“ hieß es dazu vorab. Im vollbesetzten Saal wurden dann jedoch eher die Tiqqun-Kritiker selbst kritisiert – als zu traditionell links argumentierend. „Die Tiqqun-Manifeste treffen genau den Nerv der Zeit,“ fanden die meisten. Aber immerhin sorgten die „Freunde der klassenlosen Gesellschaft“ mit ihrer Kritikvorlage für eine interessante Diskussion. Von den Autonomen wurde sie bereits vor einem Jahr geführt – „als Tiqqun noch kein Hype war,“ wie eine Genossin etwas bitter bemerkte.

jornal tiqqun.  Photo: agitacao.wordpress.com


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