Isabelle (Eberhard) von Arabien
Photo: setif.farumactif.info
Sandmeere/Vergessenssucherinnen/Ölbohrlochbohrer
Die anhaltenden Volksaufstände in den arabischen bzw. islamischen Ländern haben das Interesse der Westmedien an der arabisch-islamischen Kultur geweckt, es vergeht kaum ein Tag, an dem nicht irgendwelche Medien, meistens alle zusammen, irgendeinen Bericht oder mindestens eine Nachricht darüber veröffentlichen. Auch die Verlage suchen eilfertig nach unveröffentlichten Arabiensia. Vielleicht legt einer von ihnen demnächst auch das inzwischen vergriffene Werk von Isabelle Eberhard wieder neu auf. Isabelle Eberhard (geboren 1877 in Genf, gestorben 1904 in Ain Sefra, Algerien) entstammte einer jüdisch-russischen Anarchistenfamilie, sie konvertierte zum Islam und lebte als Beduine verkleidet bis zu ihrem Unfalltod in ihrem „Traumland“ – der arabischen Wüste, wo sie das Buch „Sandmeere“ schrieb, das mit seiner Nomadologie in vielem die in der australischen Wüste zusammengestellten Nomadengedanken des Reiseschriftstellers Bruce Chatwin (posthum zusammengefaßt in seinem Buch „Traumpfade“) vorwegnahm. Der März-Verlag veröffentlichte 1981 Isabelle Eberhards gesammelte Werke mit einem Vorwort von Hans-Christoph Buch in vier Bänden: 1: Tagwerke, 2: Im heissen Schatten des Islam, 3: Notizen von unterwegs, 4: Vergessenssucher und Islamische Blätter. Daneben erschienen 1993 bei Rowohlt noch „Briefe an drei Männer“ und in dem auf arabische Literatur spezialisierten Lenos-Verlag 2002: „Briefe, Tagebuchblätter, Prosa“ von Isabelle Eberhard.
Es gab vor ihrer Zeit und auch danach mehrere Frauen, die – z.T. ebenfalls als Beduine verkleidet – den Orient bereisten – und anschließend Berichte darüber veröffentlichten. Mit ihren Werken befassen sich neuerdings zwei Bücher: „Die Wüste atmet Freiheit: Reisende Frauen im Orient 1717 bis 1930“ von Barbara Hodgson, Brigitte Beier und Gisela Sturm (2007) und: „Der Orient der Frauen: Reiseberichte deutschsprachiger Autorinnen im frühen 19. Jahrhundert“ von Ulrike Stamm (2011)
Im ersten Buch – „Immer radikal niemals konsequent“ – aus dem dritten, jetzt neu, als „Business Art“ diesmal, wieder loslegenden März-Verlag, herausgegeben von den Verlegern Jörg Schröder und Barbara Kalender sowie dem „Kultur & Gespenster“-Mitherausgeber Jan-Frederik Bandel, hat dieser in einer Art Résümee den Vor- und Nach-„März“ eingeordnet in die „Underground“-Literaturgeschichte der BRD und die US-Einflüsse darauf bzw. die Abwehrversuche dieser (postmodernen) Einflüsse von außen.
An einer Stelle seines Textes heißt es: „1966 attackierte der österreichische Nachwuchsschriftsteller Peter Handke die Gruppe 47 bei deren Treffen in Princeton, aber alles, was er damit auslöste, war eine müde Debatte, gespickt mit Kommentaren über die ‚Beatle-Mähne‘ des ‚Mädchenjungen'“ (Peter).
Von einem „Mädchenjungen“ handelt auch Tahar Ben Jellouns Roman „Die Nacht der Unschuld“ (1986): „Er erzählt darin die Geschichte von Zahra, der achten Tochter des arabischen Kaufmanns Hadsch Ahmed Suleiman, der sich verzweifelt einen Sohn als Nachfolger wünscht. Weil er den Sohn nicht bekommt, erklärt er kurzerhand Zahra zu seinem „kleinen Prinzen“. Und so wächst Zahra vor den Augen der Familie, der Verwandten, der Nachbarschaft als Knabe Ahmed auf … Mit Die Nacht der Unschuld spinnt Ben Jelloun Zahras Geschichte fort. Sie ist zwanzig Jahre alt, als ihr Vater stirbt und sie sich endlich nicht mehr als Junge ausgeben muss. „Glücklich, verrückt und ganz neu“ macht sie sich in einer haltlosen Männergesellschaft auf die Suche nach ihrer Identität.“ (afrikaroman.de)
Inzwischen haben wir auch noch eine „Theorie des Jungenmädchen“ bzw. „Grundbausteine“ der selben – von der Pariser Autonomengruppe „Tiqqun“. Sie erschienen 2009 im Berliner Merve-Verlag – und beziehen sich auf das, was man anderswo die „Facebook-Generation“ nennt.
An anderer Stelle erwähnt Jan-Frederik Brandel das Buch „Untergrund und Opposition in Amerika“ des Schweizer Soziologen Walter Hollstein, das 1971 herauskam und in den sich damals gerade von der Subkultur zur Alternativkultur wandelnden Scenen viel gelesen wurde. Hollstein, der damals darauf bestand, der „Underground“ sei keine Alternative in der bürgerlichen Gesellschaft, sondern zur bürgerlichen Gesellschaft, zitierte nichtsdestotrotz den linken US-Journalisten Erwin Silber, „der 1970 ziemlich hellsichtig prognostizierte: ‚Eine wichtige Funktion der ‚Kulturrevolution‘ – vielleicht die wichtigste – liegt darin, jene neue Ideen zu entwickeln, die es dem kapitalistischen System ermöglichen, sich weiterzuentwickeln, und der kapitalistischen Klasse, ihre Position zu halten…Es ist nicht nur vorstellbar, sondern sehr wahrscheinlich, dass der amerikanische Kapitalismus, wenn er die Achtzigerjahre erreicht, versessen auf das Jahr 1984, viele Stile und Ideen der ‚Kulturrevolution‘ angenommen haben wird, wie eine Schlange, die ihre alte Haut gegen eine neue tauscht, ohne dass sich am eigentlichen Bau des Reptils etwas ändert‘.“
Jean-Francois Lyotard hat zwölf Jahre später vom „Energieteufel Kapitalismus“ gesprochen (in: „Intensitäten“ 1982), womit er dessen Fähigkeit meinte, schier alles ihn wohlmöglich transzendierende so schnell wie möglich zu integrieren. Ein schönes Beispiel sind die nach der Integration der Hippies aufgestandenen Verweigerer des Punk, für den es schon nach wenigen Jahren eine „Kaufhof“-Kollektion gab – die versprach: „Wir machen aus Punk Prunk!“
Mit „1984“, das Jahr, auf das die Amis seit den Siebzigerjahren angeblich „versessen“ gewesen sein sollen (nun sind sie es vom 11.9. 2001), ist der 1949 veröffentlichte antitotalitaristische Bestseller „1984“ des Ex-Trotzkisten George Orwell gemeint. Auf dieses „magische Jahr“ spielte dann – 1966 – noch einmal der sowjetische Dissident Andrej Amalrik an – mit seinem ebenfalls berühmt gewordenen Buch: „Kann die Sowjetunion das Jahr 1984 überleben?“ Nicht einmal die Sowjetunion selbst blieb von dieser Jahresmagie unbeeindruckt: Die Parteispitze richtete just in diesem Jahr einen „Think-Tank“ ein, der den Umbau ihrer Planwirtschaft diskutierte, zwei Jahr später kam Gorbatschow mit den Konzepten „Perestroika“ und „Glasnost“ heraus – dennoch überlebte die Sowjetunion das Jahr 1984 nur um fünf Jahre.
Wie uns nun diverse Erdöl-Historiker weis machen wollen, ging sie am „Ölmangel“ zugrunde – woran zuvor auch schon die deutschen Zwangsregime mit ihren Weltherrschaftsplänen im 1. und im 2. Weltkrieg gescheitert waren. Und nun soll angeblich der US-Ölimperialismus auf der Kippe stehen: „Kann Amerika das Jahr 2014 überleben?“ so heißt das nächste Buch von Noam Chomsky – und Slavoj Zizek.
Mit „Abwehrversuche“ sind hier all jene deutschen Flachpfeifen gemeint, die nach 1945 weiterhin um die Deutungshoheit über ihren Stammtischen kämpften: Gegen die US-Reeducation „kämpften“ erst die Individualpartisanentheoretiker Ernst Jünger, Rolf Schroers und Calr Schmitt, dann die Schriftsteller der Gruppe 47, die alles Beatnikhafte und Thoreauinspirierte aus den USA wegzubeißen versuchten, dann Suhrkamp-Reihenherausgeber wie Habermas, die den anschwellenden Franzosenfluß nach Deutschland drosselten, gar mit Rücktritt drohten – und z.B. Michel Foucault des Irrationalismus und letztlich des Neofaschismus bezichtigen, ihnen taten es nicht wenige linke Professoren der damals noch neuen Bremer Universität – u.a. Wilfried Gottschalch – nach. Später wurde Laermanns franzmännerfeindliches Bonmot: „Derridada und Lacancan“ immer wieder gerne von den Kulturgauleitern angeführt – als Beispiele für den höheren Blödsinn, den die beiden damit gemeinten Philosophen in ihren nicht ganz leicht wegzulesenden Büchern verzapften.
Als der Heidelberger Philosoph Gadamer 2002 starb, veranstalteten Stadt, Land und Hochschule eine pompöse Gedenkfeier. Der Rektor gestand in seiner Rede, dass sie an der Uni noch immer mit der Beseitigung der Folgen der unseligen 68er-Revolte beschäftigt seien. Und der Ministerpräsident meinte, im Beisein des Hauptredners Jacques Derrida: Die Postmoderne würde doch nur unsere Jugend verderben. Noch 2011 wurden die Aufstandspamphlete der Pariser Autonomengruppe „Tiqqun“ auf diese Weise (in taz und jungleworld) – weil sie u.a. Heidegger und Carl Schmitt zitierten – abgetan. Und in der Jungen Welt wurde kürzlich noch einmal – diesmal für den Osten – Michel Foucault als halber Faschist dekonstruiert. Ähnlich gehen die deutschen Diskurshüter mit dem noch lebenden Bruno Latour um: in der Juli-Ausgabe der „Soziologischen Revue“ spricht Henning Laux in bezug auf Latours Buch „Das Parlament der Dinge“ höflich von einer „Rezeptionsblockade“
Das gleiche droht jetzt vielleicht auch dem dritten Buch von Mathias Bröckers und seinem diesmaligen Koautor Christian C. Walther über den „11.9.“: Es richtet sich erneut gegen die Verschwörungstheorie der US-Regierung, die besagt, dass das Attentat auf das World Trade Center und das Pentagon-Gebäude von „Al Quaida“ – unter der Leitung von Osama Bin Laden – verübt wurde. Zehn Jahre sind jetzt seit dem Attentat vergangen – und genauso alt ist auch die Verschwörungstheorie der Bushregierung, aber seitdem hat sich ein weltweites Netzwerk gebildet, das diese Theorie und die dazu veröffentlichten Untersuchungsberichte en détail zu widerlegen versucht. Es besteht aus Thinktanks in den USA, Russland, Europa, Kanada und Arabien, und setzt sich zusammen aus Architekten, Juristen, Soziologen, Mikrobiologen, Überlebende des Attentats, Zeugen, unfreiwillig mittelbar Beteiligte, Angehörige der Opfer, kritische Paranoiker, Ex-Geheimdienstleute, US-Piloten usw. Mit Latour könnte man sie als globales Kollektiv von „Mitforschern“ bezeichnen, wären sie nicht ähnlich wie die ebenfalls vernetzten Genkritiker eher „Gegenforscher“. In dem Buch „11.9. Zehn Jahre danach. Der Einsturz eines Lügengebäudes“ finden sich bereits ein Haufen links zu diesen Think-Tanks. Wir reden hier von tausenden von „Analysts“, die daran arbeiten zu beweisen, dass es nicht Bin Laden und seine 19 Teppichmesserhelden waren. Womit allerdings noch nicht die Frage beantwortet ist: Wer denn dann? Bröckers, der in seinem ersten Buch über den 11.9. bereits vorführte, welche neuen Recherche-Möglichkeiten das Internet bietet, legt in seinem neuen Buch nahe, dass es sich um eine konzertierte Aktion der amerikanischen, israelischen, saudi-arabischen und pakistanischen Geheimdienste handelte. Auch bei dieser „Wahrheitssuche“ wird man wohl hierzulande entsetzt abwinken – und lieber bei der (US-Fahnen-) Stange bleiben: Die FAZ wehrte sie vor einigen Tagen bereits mit den Reizworten „Antisemitismus“ und Antiamerikanismus“ ab – und erinnerte in dem Zusammenhang noch einmal an die schlimmen Bücher: „Die Weisen von Zion“ und „Mein Kampf“.
Wenn man statt von „Plagiat“ von „Schlamperei“ redet, dann könnte man den „Einsturz des US-Lügengebäudes“ durch die Anstrengungen von zigtausend miteinander korrespondierenden Forschern der unterschiedlichsten Fakultäten und intellektuellen Fertigkeiten strukturell mit dem Facebook-Flash vergleichen, der den Verteidigungsminister von Guttenberg binnen kurzem aus Amt und Würden warf. Auch hier gab es zunächst deutlichen deutschen Widerstand gegen diese Wahrheits- bzw. Plagiatssucher, die ihr Ergebnis erst mit einer phantasievollen kleinen Demonstration vor dem Verteidigungsministerium flankieren mußten, damit auch wirklich was passierte.
Auch die „Nine-Eleven-Truthseeker“-Thinktanks wollen natürlich, das aus ihren kollektiv zusammengetragenen Überlegungen und Schlußfolgerungen etwas resultiert – mindestens eine neuerliche US-Untersuchungskommission. Ansonsten unterscheidet sich diese Initiative nicht nur dadurch von der Anti-Plagiats-Truppe, dass sie schier global ist, sondern auch dadurch, dass sie, immerhin schon seit 10 Jahren funktionierend, ständig größer wird, internationale Tribunale veranstaltet (im Herbst ihren 3. – in Toronto), und dass sie eher Ähnlichkeiten mit der Theorie und Praxis des Schiismus hat – wie er bis zur Ausrufung der Islamischen Republik gültig war:
Wer Geistlicher/Geistiger werden wollte, musste Forscher/Sucher werden. Zunächst ging so jemand zu einer theologischen Hochschule, wo es weder Aufnahme- und Zwischenprüfungen noch ein Abschlußdiplom gab. Man lernte (las, schrieb und diskutierte – manchmal heftig und sogar aggressiv). Was der Student im einen Semester lernte, das lehrte er im nächsten, indem er einen Kurs ankündigte. Dieser konnte an jedem beliebigen Ort stattfinden, sogar an der Ecke einer ruhigen Straße. Wen es interessierte, der blieb stehen. Wenn es niemanden interessierte fiel der Kurs aus. Dieses System ersetzte die Prüfungen – es beruhte auf Freiheit und Freiwilligkeit. Die einzigen Kontrollinstanzen waren die Lehrer, die Studenten selbst und die Gläubigen, letztere finanzierten es auch – durch religiöse Abgaben, zu denen der Koran sie sowieso verpflichtete. Was der Geistliche/Geistige mit dem Geld machte, war ihm überlassen. Die Gläubigen entschieden auch über Rang und Einfluß eines Schriftgelehrten, der dabei in Konkurrenz zu seinen Kollegen stand. Waren die Gläubigen mit seinen Unterweisungen und Entscheidungen nicht einverstanden, gingen sie zu einem anderen. Das geschah auch, wenn er sich politisch zu sehr an der herrschenden Macht orientierte. Im umgekehrten Fall bekam er immer mehr finanzielle Unterstützung von den Gläubigen und konnte sich damit immer mehr Schüler, Arme und Hilfsbedürftige leisten. „Dieses System, das man als basisdemokratisch bezeichnen könnte, machte ein institutionelles Arrangement des Schiismus mit der politischen Macht schwierig,“ schreibt Bahman Nirumand in seinem Buch „Iran“ (2006). Ihm ist diese knappe Darstellung des schiitischen Netzwerks hier zu verdanken. Mit dem Schriftgelehrten Seyed Abolhassan Esfahani könnte man über das schiitische System auch sagen: „Unordnung ist unsere Ordnung“. Diese wurde jedoch 1979 vom Mullahregime unter Ayatollah Chomeini, übrigens zu seinen Lebzeiten auch ein großer Lügner und Betrüger vor dem Herrn, gründlich zerstört: d.h. „praktisch verstaatlicht“, wie Bahman Nirumand sagt, „so daß das alte ‚basisdemokratische‘ System nicht mehr existiert“. Um an die Macht zu gelangen, benutzte Chomeini von seinem Pariser Exil aus zuvor das damals avancierteste Grasroots-Medium Cassettenrecorder, was viele Linke im Westen besonders begeisterte.
Während der Ethnologe draußen im Feld, bei den ihn interessierenden Volksstämmen alles in einem (Buch) abhandelt: Wirtschaft, Kultur, Kunst, Religion, Heilkunde, Institutionen, soziale Organisation, Ernährungsgewohnheiten, Kindererziehung, Geschlechtsverhalten usw., findet er gleichzeitig in seiner Kultur nichts dabei, hier alle diese gesellschaftlichen Bereiche sauber zu trennen – und ihre Erforschung einer Vielzahl von Fachdisziplinen zu übertragen. Ist das nicht seltsam? fragte sich der Pariser Wissenssoziologe Bruno Latour.
In den westlichen Medien wird der ganze Orient ethnologisch wie ein einziger Volksstamm behandelt: Dabei ist viel von Öl, Islam, Koran, Moschee, Mullahs, Sippen und Stämmen, Frauenunterdrückung, Pfefferminztee und Schafsfleisch, kriegerischer Tradition, Alkoholverbot, Waffenliebe, Kamelen, Duldsamkeit, Ehre, Jundfräulichkeit, Reinheit, Selbstmordattentaten, Geruchs- und Körperpflege, Schleier und immer wieder Schleier die Rede. Meistens in ein und der selben Orientanalyse. Es geht diesen „Nahostexperten“ also nicht wirklich um ein Verstehen, sondern höchstens um Meinen. Damit das nicht hier in dieser blog-serie „Kairo-Virus“ auch passiert, wurde dafür die Form einer „Chronik der fortlaufenden Ereignisse mit Orientierung auf die meist anonym bleibenden Aufständischen“ gewählt, worin gelegentlich bei einzelnen Aspekten oder Stichworten Abschweifungen untergebracht werden (über Identität, Edward Said, Frantz Fanon oder Öl z.B.).
Dabei ergibt es sich noch gelegentlicher, dass man auf wirklich interessante fremde Gedankengänge stößt: Anfang Juli fand im Berliner Zentrum für Literatur- und Kulturforschung eine Konferenz über „Synergie – Konzepte, Techniken, Perspektiven“ statt. Dort hielten die Kulturwissenschaftler Peter Berz und Benjamin Steininger gemeinsam einen Vortrag über den russischen Biogeochemiker Vladimir I. Vernadskij: „Noosphäre – SynEnergie Very Long Range“. Benjamin Steininger, der sich im Rahmen mehrerer Forschungsprojekte (Katalysator – Ein Schlüsselprinzip des 20. Jahrhunderts, Zeitspeicher – Zur Globalisierung und Ökonomisierung von Erdzeit, Neukonzeption des Österreichischen Erdölmuseums) mit den Wissenschaften und Technologien der fossilen Moderne beschäftigt, hat mir eben seinen Part zugeschickt:
Am Beginn seiner Bemerkungen über die Noosphäre fasst Vernadskij von 1943 aus den Weltkrieg 1 plus 2 als „großen geologischen Prozess“. Dazu ein paar Bemerkungen aus der Industrie- und Technikgeschichte. Denken, sagt Vernadskij, ist keine Energieform. Aber, so ist offensichtlich, Denken ist im Zeitalter der fossilen Energieträger in der Lage, Energie aus den tiefsten historischen Schichten der Biosphäre zu entfesseln. Es ist dieser Blick auf die Zeit des Planeten, der mich an den fosislen Rohstoffen interessiert, und der auch den Biogeochemiker Vernadskij umgetrieben hat.
Die Geschichte der Industrialisierung überhaupt lässt sich als Zugriff auf planetarische Zeit hin lesen. In den Weltkriegen wird die fossile Wucht der Moderne auf besondere Weise greifbar. Schon der Erste Weltkrieg betrifft nicht nur den Planeten als Raum, er erfasst auch fossile Zeiträume. Parallel zu Vernadskijs Arbeit in der KEPS rechnet der spätere Makromolekularchemiker Hermann Staudinger die Kriegsgegner in Steinkohleeinheiten um. Denn längst sind es ja nicht mehr Menschen allein, die militärisch / historisch handeln. Hinter jedem Mensch in den Industrienationen steht statistisch 1917 – hier erscheint Staudingers Artikel in der Zürcher „Friedenswarte“ – ein Heer von „technischen Sklaven“. Sie sind es, die in Form fossiler Energie Volkswirtschaften, und Kriegsmaschinen antreiben. Das Ergebnis ist 1917 eindeutig und erschreckend: Mit dem Eintritt der USA in den Weltkrieg stehen den 108,5 Mio. Pferdekraftjahren auf Seiten der Mittelmächte 295,3 Mio Pferdekraftjahre auf Seiten der Entente gegenüber. So lässt sich das Planetarische um 1917 beziffern.
Der Zweite Weltkrieg setzt mit geänderten Vorzeichen ein. Denn zunächst überfällt die Deutsche Wehrmacht ja mit sowjetischem Öl Europa. Dann aber kommt es zur Konfrontation nicht nur zweier politischer, sondern auch zweier roffstofftechnischer Systeme. Von Anfang an verfolgte der Angriff der nationalsozialistischen Wehrmacht auf die Sowjetunion – auf den Tag vor fast genau 70 Jahren – geostrategische Ziele. Die missliche, energetische Lage des Ersten Weltkriegs sollte umgekehrt werden. Ziel sind die kaukasischen Ölquellen bei Baku, Majkop und Grosny. Getragen aber war der Griff nach dem sowjetischen Öl von einem anderen fossil/industriellen Energieträger: der Kohle plus einer komplexen chemischen Industrie ihrer Veredelung. Deutsche Panzer und Flugzeuge fuhren nicht nur mit rumänischem und österreichischem Natur-Öl an die Front, sondern auch mit sogenanntem „Kohlebenzin“. Stein- oder Braunkohle wurde dazu in riesigen chemischen Hydrierwerken (Ludwigshafen, Leuna etc.) mit Wasserstoff angereichert. Aus festem Gestein wird auf diese Weise ein motorentauglicher Treibstoff. Das heißt: ein Naturstoff wird zu einem Kunsttstoff, aus einem biogenen wird ein technogener Energiespeicher. In Vernadksijschen Begriffen: die fossile Biosphäre wird von der Noosphäre, also von technischem Denken erfasst. Bevor also Naturöl geostrategisch greifbar was, sollte der geologische Rückstand der Deutschen technologisch ausgeglichen werden. Eine ganze Industrie steht ab 1900 bereit, fossile Rohstoffe – und das heißt in Deutschland Kohle– technisch zu veredeln.
Der planetarische Effekt dieser Chemischen Industie ist aber paradox. Auf der einen Seite werden die Werkzeuge dieser Industrie immer effizienter. Seit 1900 wird mit Hilfe von Katalysatoren produziert. Katalysatoren sind – genau wie die Enzyme, über die Peter Berz später noch sprechen wird – in der Definition des Oberenergetikers und Obersynergetikers Wilhelm Ostwald, von dem hier schon so viel die Rede war – Stoffe, die in geringster Konzentration Reaktionen beschleunigen und sie fast nach Belieben lenken lassen. Mit ihrer Hilfe wird in weniger Jahrzehnten fast des gesamte materiellen Bestand des 20 Jhdt. von Natur- auf Kunststoff umgepolt. Synthetische Fasern, syntetische Farbstoffe, synthetische Düngemittel, synthetische Treibstoffe, Polymere und Kunststoffe.
Insgesamt ist diese Chemieindustrie aber trotzdem ein Verlustgeschäft. Um die Synergieeffekte aus chemischer Technik und fossilem Rohstoff zu nutzen, braucht man trotz Katalyse enorme Mengen an Energie, also weiteren fossilen Rohstoff. Man muss x Einheiten Kohleenergie aufwenden, um eine Einheit Synthesebenzin zu erhalten. Der motorentechnische Gewinn führt in der Erdkruste zu nochmals gesteigerten Verlusten.
Und: So exzellent die deutsche Kriegs-Chemie-Industrie auch sein mag, schließlich bleibt der militärisch-industrielle, biosphärisch-noosphärische Komplex 1943 vor Stalingrad stecken. Vernadskij notiert: „Die Radionachrichten zeigen den Beginn des Zusammenbruchs der Deutschen an. Sie werden verjagt werden. Es ist schwer, alle Folgen zu überblicken. Beginn der Noosphäre. Das muß ich ausdrücken.“ (WIV 1943)
Der Grund für diese Wende des Weltkriegs liegt also nicht zuletzt darin, daß das technische System der Kohlechemie eben doch nicht genügend Motoren-Kraftstoff zur Verfügung stellt. Wie später im Westen, wo die USA die doppelten Energiemengen der deutschen Kohleförderung allein in Form von Erdöl in die Schlacht werfen konnten, sind schließlich auch im Osten die mit Natur-Öl fahrenden Streitkräfte der Sowjetunion überlegen. Nach dem Original-Baku baut Stalin ab 1940 ein Zweites Baku auf, ein noch mächtigeres Ölrevier zwischen Wolga und Ural.
Ein Symbol des Sowetischen Sieges macht den Unterschied deutlich: Während die deutschen Panzer mit Benzin und Otto-Motoren fahren, fährt der russische T-34 mit Dieselkraftstoff und der ist sehr viel unkomplizierter herzustellen. Der Motor des T-34 besteht außerdem überwiegend nicht aus Stahl, sondern aus leichtem Aluminium, aus einem paradigmatischen Kunstmetall also. Vernadskij betont am Schluss seiner Bemerkungen zur Noosphäre vom Dezember 1943, daß es Aluminium auf der Erde zu Millonenjahrestonnen nicht als Naturstoff, sondern nur als technisches Material gibt, also weil die wissenschaftliche Technik Bauxit mit enormem Energieaufwand verhüttet. Die elektrische Energie dafür stammt zwar allermeist nicht aus fossilen Quellen, sondern aus Wasserkraft. Das ändert aber nichts daran, dass das energetische Gesamtsystem, in dem die Aluminium-Technologie verortet ist, insgesamt auf fossiler Energie basiert.
Diesel und Aluminium, Elektrische Großkraftwerke im Ural, und Zweites Baku: das sind die Materialitäten, die mit dem T-34 auf dem Sockel stehen, hier im Tiergarten und in der DDR in jedem Kaff. Und das ist offenbar die „Noosphäre“, deren Sieg Vernadskij 43 feiert. Wobei genau mit dieser historischen Konstellation wenig allgemeines ausgesagt ist, andere technische Systeme und andere fossile Grundlagen, also ein anderes Gefüge aus Bio- und Noosphäre zeitigt andere Siege, aus der fossilen wird bald die Atomzeit.
Ich blende über vom Weltkrieg auf die Gegenwart. Denn tatsächlich ist der von Vernadskij über zwei Weltkriege begleitete geologische Ausnahmezustand seit 1945 Normalzustand. Was erzählen heutige Erdölgeologen über den Menschen als geologischen Faktor? Drastisch sind die Modell-Rechnungen in geologischen Fachbüchern, wie wahnsinnig viele Jahre fossiler Lebenstätigkeit von Plankton, Algen etc. notwendig waren, um ein einziges Jahr gegenwärtigen Erdölverbrauchs zu produzieren. Denn: Es sind nur verschwindend geringe Anteile der Biomasse, die statistisch so sedimentiert werden, dass im Lauf der Jahrmillionen Öl daraus wird, das dann auch noch in der Erdkruste genau dahin wandern (migrieren) muss, wo es in geologischen Fallen stecken bleibt. Nicht mehr als 10.000 Tonnen jährlichen Zuwachs an Öl und Gas berechnen etwa Ölgeologen in ihren Modellrechnungen für die aktuelle Biomasse. Bei einem Jahresverbrauch von 4 Mrd. t. Öl und 2,5 Mrd Tonnen Gas müsste man also 650.000 Jahre warten, bis der Verbrauch von 2011 nachgewachsen ist. Was Ökonomen Wachstum nennen, ist planetarisch nur als riesenhafter Verlust zu beziffern.
Einerseits fußt die Noosphäre also auf akkumulierter historischer Biosphäre. Umgekehrt sind aber erst hochtechnologische, hochkapitalistische Bedingungen, unter denen die Historizität der Biosphäre Thema wird. Und auch hier ist Vernadskij einer der interessantesten Kronzeugen des Blicks von der Technik hinein in die Naturgeschichte: es sind – wenn wir dem Biographen glauben dürfen – die ausgeräumten, vergifteten Tagebaugruben Ontarios, die ihn knapp vor dem Ersten Weltkrieg den Menschen als geologischen Faktor denken lassen. Erst vor diesem Hintergrund einer sehr speziellen und sehr brutalen Technikgeschichte wird die Geschichtlichkeit und Zeitlichkeit selbst des Mineralischen wissenschaftlich zum Thema.
Vernadskij selbst hat eine regelrechte Theorie unterschiedlicher Zeiten entworfen (…) Grundlegend für die kulturwissenschaftliche Deutung bleibt die Konfrontation zweier unterschiedlicher Zeitregime, der langen Rhythmen der Geogeschichte und der kurz getakteten Technologien und Ökonomien der Gegenwart und ihrer Kriege. In der Synergie dieser unvereinbaren Zeitregime scheint nicht weniger zu stecken als die Dynamik des technischen Zeitalters. Die Biosphäre als wissenschaftliches Dispositiv in der Noosphäre existiert nur in ihrer technischen Erschließung. Tatsächlich interessiert sich kaum ein Universitätsinsitut derart für Theorien von der Frühzeit des Lebens wie die Sedimentologen der großen Ölkonzerne. Wenn heute Wissen etwa über die Sedimentationsgeschichte des Amazonas vorliegt und damit über die Naturgeschichte eines ganzen Kontinents, dann nur aufgrund der Bohrkerne, die irgendwo offshore, und das heißt zu extrem hohen Preisen, und das heißt bei extrem hohen Erwartungen an die spekulative Sinnhaftigkeit des Unterfangens gezogen wurden. Ein „Loch in der Welt“, eine technische Verwundung des Planeten beklagte die Umweltaktivistin Naomi Klein im Guardian angesichtes der Havarie der Deep Water Horizon „Wir lernen alles über die Kreisläufe der Natur, während und indem wir sie vergiften“, so ihr bitterer Kernsatz, „eine verkehrte, verdrehte Logik“. Mit Verdanskij ist genau das die normale Logik: erst im Aufsuchen, Anbohren, Abschöpfen und Zerstreuen fossiler Schätze werden die Zeithorizonte der Paläowissenschaften und damit der Moderne konstruiert.
Die Tiefe der Biosphäre zeigt sich, in dem sie verheizt wird. Und: wie jede technische Epoche ist das Ölzeitalter von seinem Ende her zu denken. Die Eule der Minerva fliegt in der Dämmerung. Solange diese Eule Kerosin tankt, sollten wir Vernadskij lesen.
(Von Benjamin Steininger erscheint demnächst in Tumult Bd.38 „Container und Containment'“ein Text zum Prinzip der Pipeline. Siehe dazu auch: http://www.recherche-online.net/wessely-steininger-oekonomisierung-erdgeschichte.html. In diesen Blog wurde in „Kairo-Virus 99“ bereits eine Reportage über den Bau einer Pipeline – zwischen der sibirischen Halbinsel Yamal und der BRD – gestellt. Und zur Pipeline-Politik – vornehmlich in den Konfliktregionen Zentralasien und Arabien – hat man in den letzten Jahren gleich mehrere Bücher veröffentlicht, sie sollen an anderer Stelle ausführlich besprochen werden.)
RWE/DEA-Ölbohrung im Nildelta. Photo: dgg.de
Deutsche Ausgrabung in Luxor. Photo: findallvideo.com
In der Archäologie bohrt man nach den Altertümern nicht ganz so tief wie nach Öl, derzeit bohren jedoch in Kairo die Aufständischen nach Unregelmäßigkeiten bei den Ägyptologen des Alten Regimes – es geht ihnen dabei um eine neue Sozialgeologie, wie ein Pariser „Archäologe des Wissens“ das nannte:
Man hat es vielleicht noch im Gedächtnis: Während sich die Protestbewegung gegen den ägyptischen Präsidenten Mubarak noch zusammenfand, drangen im Januar Plünderer in das Ägyptische Museum ein. Sie beschädigten zwei Mumien, zertrümmerten Vitrinen und stahlen mehrere Schmuckstücke sowie eine Statue aus der Sonderausstellung zum Grabschatz des Tutanchamun. Die Bilder davon gingen um die Welt. Hierzulande erinnerten sie manchen an Friedrich Schillers „Geschichte des Abfalls der Niederlande“, in der er den Aufstand der Holländer gegen die Spanier mit großer Sympathie nachzeichnete, ihr „Bildersturm“ entsetzte ihn jedoch derart, dass er ihn „nur in dem schlammigsten Schoß einer verworfenen Pöbelseele“ lokalisieren konnte, die alle „Sittlichkeit mit Füßen trat“. Als die Tahrirplatz-Besetzer am 2. Februar von bezahlten Schlägertruppen des Regimes angegriffen wurden, sah der deutsche Journalist Frank Nordhausen dort ebenfalls nur Lumpenproletarier aus den Kairoer Slums am Werk. Die Direktorin des Nationalmuseums, Wafaa Ed-Saddiq, will jedoch unter den Plünderern auch Polizisten identifiziert haben. Vielleicht war der Überfall auf das Museum sogar von der Regierung bzw. vom Geheimdienst initiiert worden, um die Regimegegner zu diskreditieren, mutmaßten ausländische Experten – und erinnerten an die Plünderungen des Nationalmuseums in Bagdad und die Grabungsstätten von Babylon nach dem Sturz Sadam Husseins.
Im Sommer 2009 berichtete der Schriftsteller Michael Buselmeier in der Zeitschrift „Lettre“ über seinen Besuch im Ägyptischen Museum: „der rosa Prachtbau ist rundum – als handele es sich um den Regierungssitz – von bewaffneten Polizisten umstellt, die teilweise hinter eisernen Schutzwänden mit Sichtschlitzen verschanzt hocken.“ Man wird mehrmals kontrolliert…“Überall ist Polizei zu finden, durchforscht Papierkörbe und Toiletten.“
Weil die Sicherheitskräfte des Museums sich jedoch nach dem Überfall nicht mehr in der Lage sahen, die Ausstellungsstücke ausreichend schützen zu können, bildeten Kairoer Bürger eine Menschenkette um das Gebäude. Etwa gleichzeitig verlangte der Generalsekretär der ägyptischen Altertümerverwaltung, Zahi Hawass, von der bundesdeutschen Regierung die Rückgabe der Nofretete-Büste aus dem Berliner Ägyptischen Museum. Schon wenig später geriet Hawass jedoch ebenfalls in den Strudel des ägyptischen Aufstands: Erst wurde er Ende Januar zum Minister für Altertumsgüter ernannt. Dann streikten die Mitarbeiter der Antikenverwaltung für höhere Gehälter, wobei sie gleichzeitig seinen Rücktritt forderten – wegen allzu großer Regimenähe und mutmaßlichem Antiquitätenschmuggel zugunsten des Ex-Präsidenten Mubarak. Hawass trat auch zurück – aber nur, so sagte er, weil Armee und Polizei nicht mehr in der Lage seien, die Altertümer zu beschützen und er somit nicht mehr für deren Sicherheit garantieren könne. Ende März wurde er aber erneut zum Minister für Altertumsgüter ernannt. Während dieser ganzen Zeit wurden weitere Museen geplündert – u.a. in Memphis, Al-Wadi Al-Gadeed und auf dem Sinai. „In Luxor hat das Militär sich vor die Tempelanlagen und das Tal der Könige gestellt, an anderen Grabungsorten soll die Bevölkerung den Schutz übernommen haben,“ berichtete die Direktorin des Berliner Ägyptischen Museums, Friederike Seyfried, der Presse. Das Deutsche Archäologische Institut in Kairo hatte bereits Anfang Februar viele seiner Mitarbeiter nach Deutschland zurückgeschickt und der ägyptische Antikendienst stellte alle seine Grabungen ein. Auf einer Ägyptologen-Konferenz in Kairo Anfang April beruhigte einer der ägyptischen Vertreter die ausländischen Teilnehmer: Man werde bald eine eigene Polizei oder sogar Militärtruppe schaffen – zur Sicherung der Altertümer.
Es gibt mehr als 100 Ausgrabungsplätze in Ägypten – von mindestens 20 Nationen. Führend sind dabei wissenschaftliche Institutionen der USA, Frankreichs, Englands und Deutschlands, darüber hinaus graben dort aber auch Archäologen aus Polen, Italien, Österreich, Spanien, Tschechien, Schweiz, Ungarn, Russland, Holland, Belgien, Finnland, Schweden, Portugal, Japan, Mexiko und Argentinien. Auch das ägyptische Ministerium für Altertümer unterhält einige Grabungsplätze. Mit der arabisch-islamischen Invasion des Landes im 7.Jahrhundert geriet die Geschichte des Alten Ägypten vom 3.Jahrtausend vor Christi bis zur griechisch-römischen Zeit, die 395 christlich-byzantinisch wurde, in Vergessenheit. Für den Islam begann die ägyptische Geschichte mit seiner Invasion 671. In den Zwanzigerjahren des 19.Jahrhunderts entstand dennoch langsam eine eigene ägyptische Altertumskunde. Ein wirkliches archäologisches Interesse von Staats wegen entwickelte sich jedoch erst in der Nasserzeit – ab 1954. Bis dahin gab es bereits unzählige Ägyptische Museen und Sammlungen im Ausland. In der Folgezeit sicherten sich überdies immer mehr ausländische Institutionen Grabungsorte (Konzessionen – auch „claims“ genannt). Eine der „Missionen“ des russischen Instituts in Kairo gräbt z.B. in Memphis – nahe dem Palast von König Apries. Dort sind auch Archäologen aus anderen Ländern tätig. Im Februar wurden ihre Magazine von Dieben aufgebrochen und nach Wertgegenständen durchsucht. In den festen Häusern, die von der ägyptischen Altertümerverwaltung bewacht und kontrolliert wurden, befanden sich vorwiegend Keramikscherben.
Der Grabungsleiter des russischen Konzession, Dieter Eigner, ein Wiener Archäologe, berichtete nach Sichtung des Schadens: „70% der Keramikfunde mußten weggeworfen werden, weil der Fundzusammenhang sich nicht mehr rekonstruieren ließ – und sie damit wertlos geworden waren.“ Kurz nach diesem Überfall auf die Magazine wurde auch der russische Grabungsplatz in Memphis verwüstet, d.h. durch Raubgrabungen so gut wie zerstört. Das geschah durch Anwohner. Anfang April kam es zu einem Überfall auf die Magazinräume eines österreichischen Grabungsortes im Ost-Nildelta. „Das ist ein ungeheuer wichtiger Platz,“ erklärte Dr. Eigner, „die 12. Dynastie hatte dort um etwa 1980 v. Chr. eine Stadt gegründet, die in der darauffolgenden Hyksos-Zeit ausgebaut wurde und Avaris hieß. Während der Zeit Ramses II., entstand dort ab etwa 1278 v.Chr. die Hauptstadt der 19.Dynastie: ‚Pi-Ramesse‘ genannt. Sie wurde am Ende der 20. Dynastie, etwa um 1110 v. Chr. aufgegeben. Der Schaden durch die Räuberbande war hier gering. Erstaunlich ist nur, dass der Überfall auf die Grabungsstelle so lange nach dem Aufstand stattfand.“ Dieter Eigner ist sich fast sicher, dass es sich bei den Tätern um freigelassene Sträflinge handelte. Es hat den Anschein, dass das neugeschaffene Ministerium für Altertumsgüter derzeit völlig unfähig ist, das archäologische Erbe Ägyptens zu schützen. Einer von Eigners ehemaligen Grabungsplätzen im östlichen Nildelta wurde Mitte April verwüstet. Dabei handelte es sich um einen Siedlungshügel, „Tell“ genannt, der mit einem Caterpillar zur Hälfte eingeebnet wurde, um die Fläche landwirtschaftlich zu nutzen. Hier waren die Täter also wahrscheinlich Großbauern, die ihre Anbaufläche vergrößern wollten – und dazu die vom Aufstand erreichte „Herrschaftsfreiheit“ nutzten. Auf dem „Tell“ befanden sich wichtige Funde aus der Frühzeit – der Zeit um 3000 v.Chr.. „Dort hatten wir vor 10 Jahren zum letzten Mal gegraben – bis zum Aufstand war der Fundort unberührt geblieben. Die kriminellen Elemente des Landes fühlen sich derzeit relativ sicher, die Polizei hat sich aufgrund ihres Einsatzes für das Mubarak-Regime verhasst gemacht und danach zurückgezogen. Einer unserer Arbeiter erzählte mir, dass ihm sogar sein Wasserbüffel gestohlen wurde. Laut einer Meldung des offiziösen englischsprachigen Blattes ‚Egyptian Gazette‘ hat man anderswo ein Krankenhaus geplündert und das Personal sowie die Patienten ausgeraubt.“
Im oberägyptischen „Tal der Könige“, genauer gesagt: in Theben-West, unterhalten die russischen Archäologen ebenfalls einen Grabungsort: ein Felsengrab eines hohen Beamten der 19. sogenannten Ramessiden-Dynastie, 1307 bis 1196 v. Chr.. Dort war Dieter Eigner für die Reinigung und Dokumentation sowie die Vermessung zuständig. Hier gab es keine Probleme mit Grabräubern, aber das Dorf in der Nähe, in dem die sieben Archäologen wohnen und aus dem ihre fünfzehn einheimischen Helfer stammen, wurde eines Nachts überfallen. Den Bewohnern, die z.T. bewaffnet waren, gelang es jedoch, die Bande in die Flucht zu schlagen. In Memphis, wo die Russen auf ihrem riesigen Claim im Frühjahr nächsten Jahres trotz aller Unsicherheiten weiter graben wollen, rückte Ende März eines Nachts die Polizei mit LKW und Caterpillar an. Auf dem Lastwagen befand sich „beschlagnahmtes Rauschgift“ in Säcken, die sie vergraben wollten – so würden sie das immer machen, erklärten sie. Den herbeigeeilten ägyptischen Wächtern und den russischen Archäologen gelang es hier mit friedlichen Mitteln, sie von der Grabungsstelle zu vertreiben. Dieter Eigner hat 39 Jahre als Archäologe in Ägypten gearbeitet, ebenso auf Ausgrabungsstätten in Indien, im Sudan und in Eritrea. Im Februar nächsten Jahres wird er auf einem Claim im Nordsudan nahe der ägyptischen Grenze graben. Dort geht es um die Überreste des Königreichs von Meroe, das von 400 v. Chr. bis 300 n. Chr. existierte und sich von der großen Nilkrümmung in Nubien bis an die abessinischen Berge erstreckte. Davon zeugen u.a. noch Tempelreste und Pyramidengruppen. Den Claim „großer Tempelkomplex Musawwarat es-Sufra“ bearbeitet die Humboldt-Universität. Mangels Geld wurde hier zwar die Arbeit eingestellt, aber desungeachtet hat die UNESCO den Antikenplatz jetzt als Weltkulturerbe anerkannt. Bis hierher ist die „Arabellion“ (FAZ) noch nicht vorgedrungen, dennoch sind die „Denkmäler von Musawwarat“, wie Dr. Claudia Näser, die Leiterin des Instituts für Archäologie der Humboldt-Universität, „archäologie online“ mitteilte, „akut von Zerstörung bedroht“ – u.a. durch den „stark zunehmenden Tourismus.
Um diesen in Ägypten wieder anzukurbeln, überbietet sich derzeit der „Antiquities chief“, wie die Washington Post Zahi Hawass nennt, mit Meldungen über neue aufsehenerregende Funde und Projekte: So hat z.B. ein US-italienisches Ausgrabungsteam am Nilufer 5200 Jahre alte Felsmalereien entdeckt. Sie zeigen Jagd-, Kampf- und Kultszenen aus der Zeit der „Dynastie Zero“ – der ältesten Ägyptens, meint Hawass. Französische Archäologen haben unterdes am Ausgrabungsort San El-Hagar hunderte bemalter Kalksteinblöcke gefunden, die an einem Tempel der 22.Dynastie von König Osorkon II verwendet wurden. Zahi Hawass teilte dem Online-Dienst „ahram.org“ der Zeitung Al-Ahram mit, dass die Blöcke einst abgebaut und bei der Errichtung von Gebäuden während der makedonisch-griechischen Dynastie der Ptolemäer wiederverwendet wurden. Er versprach, dass das Archäologenteam ihre ursprüngliche Anordnung rekonstruieren werde. In die selbe Zeit – zwischen 304 und 30 v.Chr. – gehört auch Kleopatra: Sie war die letzte Königin des Ptolemäerreiches. Nach ihrem Grab haben schon viele Archäologen gesucht, der Spiegel berichtete nun – am 10.7.2011: „Die Entdeckung des Grabes von Kleopatra wäre die größte Archäologie-Sensation.“ Die Suche danach hat erneut begonnen: „Die Forscher auf der Spur der Pharaonin könnten unterschiedlicher nicht sein: Kathleen Martínez, Juristin und leidenschaftliche Archäologin aus der Dominikanischen Republik und Zahi Hawass, der allmächtige Minister für Altertümer. ‚Wir fahnden nach Kleopatras Grab‘, sagt er aufgeregt. ‚Das hat noch nie jemand systematisch gemacht‘.“ Die karibische Archäologin vermutet: „Kleopatra könnte in einem zerfallenen Tempel nahe der Wüstenstadt Taposiris Magna (dem heutigen Abusir), knapp 50 Kilometer westlich von Alexandria, bestattet worden sein. Während der Revolution in diesem Jahr sah Martinez sich auf der Grabung plötzlich einer Gruppe aggressiver Männer gegenüber. Jetzt ruht die Arbeit. Martínez hofft, im Herbst zurückkehren zu können“.
…Bis dahin wird sich jedoch aller Wahrscheinlichkeit nach der „arabische Frühling“ in einen „heißen Herbst“ verwandelt haben. Am 18.Juli konnte die kurz zuvor erneut begonnene Besetzung des Kairoer Tahrirplatzes – aus Protest gegen die Militärregierung – bereits einen ersten Erfolg verbuchen, insofern zwölf der altneuen Minister aus dem Übergangskabinett Knall auf Fall entlassen wurden – darunter auch der Minister für Altertümer Sahin Hawass.
Am 8.Juli war auf der Internetseite der Stadt Leipzig zu lesen:
„Vom 22. bis 24.Juli wird die Universität Leipzig zum Treffpunkt von etwa 400 deutschsprachigen Ägyptologen. Seit 1968 treffen sich die deutschsprachigen Ägyptologen jedes Jahr zu dieser Konferenz, die an wechselnden Orten in Deutschland, Österreich und der Schweiz stattfindet. Das Ägyptologische Institut der Leipziger Universität war bereits im Juli 1989 Gastgeber für diese Tagung. Die nunmehr 43. Ständige Ägyptologenkonferenz trägt den Titel „Ägyptologen und Ägyptologie(n) zwischen Kaiserreich und der Gründung der beiden deutschen Staaten (1871 bis 1949)“. Am 22.Juli werden unter anderem die Rektorin der Universität Leipzig, Beate Schücking, und der Botschafter Ägyptens in Deutschland, Mamdouh el-Damaty, zu den Tagungsteilnehmern sprechen. Am Samstag stehen Vorträge über vorwiegend deutschsprachige Forscherpersönlichkeiten und Institutionen, die in der Zeit zwischen 1871 und 1949 tätig waren auf dem Programm. Insbesondere die Zeit der Nazi-Diktatur in Deutschland soll beleuchtet werden, ebenso die Entnazifizierung nach 1945.“ Daneben sollen aber auch die derzeitigen Probleme bei den Ausgrabungen in Ägypten zur Sprache kommen.
Die Süddeutsche Zeitung interviewte dazu vorab den bayrischen Ägyptologen Stephan Seidlmayer:
SZ: Wie ist die aktuelle Situation auf den Grabungsstätten?
Stephan Seidlmayer: Die Lage ist wieder ruhig, die Stätten sind bewacht. Aber als im Februar die Sicherheitskräfte kurzfristig verschwanden, schwoll das Problem schlagartig an. Am schlimmsten waren Ausgrabungsstätten im Raum Sakkara und Dahshur südlich von Kairo betroffen. Das Gebiet ist sehr reich an Fundstätten, dort gab es aber auch schon vor der Revolution Probleme mit Raubgrabungen. Während der Unruhen sind in ganz Ägypten rund 1300 antike Objekte verlorengegangen.
SZ: Sind auch Ausgrabungen des Deutschen Archäologischen Instituts betroffen?
Seidlmayer: Wir hatten nur Anfang Februar in Dahshur Probleme. Der Ort liegt 35 Kilometer südlich von Kairo und ist berühmt für zwei große Pyramiden, darunter die Knickpyramide – meine Lieblingspyramide. Im dortigen Gräberfeld sind ein Dutzend Anlagen ausgeraubt worden. Da haben Leute nach dem Zufallsprinzip mit Schaufeln Löcher gegraben. Die Räuber mussten quadratische Schächte ausheben, die senkrecht sechs bis zehn Meter hinab bis zu den Grabkammern führen. Das ist schweißtreibende Arbeit. Aber ein paar Tage lang konnten die Räuber seelenruhig vorgehen. …Unser einziger Trost ist, dass es in Dahshur etwa 200 solcher Gräber gibt und nur rund ein Dutzend zerstört wurden.
SZ: Können Sie gegen die Grabräuber vorgehen?
Seidlmayer: Wir wissen, wer es war, Leute aus den Dörfern der Umgebung. Aber wir sind Gäste im Land. Speziell in einem Land mit Kolonialvergangenheit tut man gut daran, sich zurückzuhalten. Die Aufklärung ist Sache der Ägypter.
SZ: Was haben Sie von den Plünderungen in Kairo mitbekommen?
Seidlmayer: Davon haben uns die Kollegen vom ägyptischen Antikendienst erzählt. Alles was da passiert ist, ist natürlich schlimm: Im Nationalmuseum ist etwa ein Dutzend Objekte beschädigt worden, vor allem die Statuette des Tutanchamun hat sehr gelitten. Aber keines der Prachtstücke hat etwas abgekommen. Wenn man heute ins Museum geht, spürt man von der Zerstörung nichts. Ich will das nicht verharmlosen. Aber das sah nie nach organisiertem Raub aus.
SZ: Was war dann der Grund?
Seidlmayer: Ich hatte das Gefühl, es ging mehr darum, Chaos zu verbreiten. In den Tagen der Revolution entstand ein Milieu, in dem erstaunliche Dinge passiert sind. An vielen Orten haben Leute Magazine von Museen und Grabungsstätten aufgebrochen und einfach mal reingeschaut. Sie haben alles durchgewühlt, aber praktisch nichts mitgenommen. Das war in meinen Augen eine Art naiver und brutaler Neugierde, so als wollte man darauf reagieren, dass jahrzehntelang der Zugang verboten war.
SZ: Sie meinen, die wollten es einfach jetzt mal wissen.
Seidlmayer: Ja, das halte ich für plausibel. Ein ägyptischer Kollege aus Sakkara meinte: Vielleicht sollten wir einen Tag der offenen Tür machen. Dann sehen die Leute, dass in den Lagerräumen keine goldenen Schätze liegen. Wichtig ist, den Leuten klarzumachen: Das sind unsere eigenen Kulturgüter. Das hat man auch in den turbulenten Tagen erlebt. Um das Nationalmuseum am Tahrir-Platz hat sich eine Menschenkette gebildet, auch in Luxor haben Bürger ihre kulturellen Schätze beschützt.
SZ: Wie haben Sie persönlich die Zeit in Kairo erlebt?
Seidlmayer: Die ersten Tage waren aufregend, weil wir nicht wussten, in welche Richtung sich alles entwickeln würde. Das Tränengas vom Tahrir-Platz ist oft zu uns herüber geweht, wir waren nur wenige hundert Meter entfernt.
SZ: Das Deutsche Archäologische Institut liegt wie viele Botschaften auf der Nilinsel Zamalek.
Seidlmayer: Ja, und diese Insel ist nur über sechs Brücken mit der Stadt verbunden. Als an einem Tag plötzlich alle Ordnungskräfte von der Straße verschwanden, haben wir Angst bekommen. Gleichzeitig kamen Gerüchte auf, dass Verbrecher aus den Gefängnissen freigelassen wurden, dass Plünderer von Haus zu Haus ziehen. Daraufhin haben sich spontan Bürgerwehren gebildet, die die sechs Zugangsbrücken bewacht haben. Da habe ich auch mitgemacht. Wir haben die ganze Nacht patrouilliert, an Kreuzungen jeden Autofahrer kontrolliert.
SZ: Einem deutschen Archäologieprofessor begegnet man nicht oft an einer Straßensperre. Wie kamen Sie dazu?
Seidlmayer: Da fuhren Männer auf Motorrädern und riefen: Jeder Mann, der eine Waffe hat, soll herunterkommen und mithelfen. Da habe ich spontan ein Staubsauger-Rohr genommen und bin runtergegangen. Es ging auch mehr darum, seine Solidarität zu zeigen. Ich bin ja kein Kämpfer. Aber ich habe in diesen Nächten viele schöne Gespräche geführt.
SZ: Worüber haben Sie mit den Ägyptern gesprochen?
Seidlmayer: Über Demokratie. Die Leute haben sich auch für die deutsche Geschichte interessiert. Ich hatte das Gefühl, dass das Historische und Archäologische noch nie so wichtig war. In Ägypten geht es sehr stark um die Frage der Selbstachtung, Geschichte und Kultur spielen eine zentrale Rolle.
Wir haben deshalb spontan beschlossen, an unseren Grabungsstätten künftig einen arabischen Newsletter herauszubringen, in dem wir die Denkmäler und Inschriften den Einheimischen erklären. Wenn Menschen verstehen, welche Schätze in ihrer unmittelbaren Umgebung liegen, wertet das ein Dorf oder eine Region auf. Eine 4000 Jahre alte Inschrift an der Dorfstraße kann Identität schaffen.
SZ: Wie sehen Sie die Rolle von Zahi Hawass, dem lange umstrittenen Kulturfunktionär und jetzt erneut entlassenen Staatsminister für Altertumsgüter?
Seidlmayer: Zahi Hawass ist eine kantige Persönlichkeit, er hat aber viel für die Archäologie und für die Ausbildung des wissenschaftlichen Nachwuchses getan. Er hat schon vor der Revolution die Strukturen im Antikendienst modernisiert und dafür gesorgt, dass immer mehr moderne Labore und Konservierungseinrichtungen geschaffen werden. Und er hat den Apparat verjüngt, viele junge, hervorragend ausgebildete ägyptische Archäologen in wichtige Positionen gebracht.
SZ: Gerade der Nachwuchs hat sich beschwert, dass er zu wenig Einfluss habe.
Seidlmayer: Ich habe das Gefühl, dass da alte Rechnungen beglichen werden. Es stimmt, dass rund 10.000 ausgebildete Archäologen auf eine Stelle beim Antikendienst warten. Der Wunsch ist allein schon aufgrund der sozialen Bedürfnisse verständlich. Aber die Situation kann auch ein Minister nicht in kurzer Zeit ändern. Ich fände einen Rückfall in die Zeit vor Zahi Hawass nicht gut.
Es geht auf der diesjährigen Konferenz der Ägyptologen vor allem um die Aufarbeitung der (dunklen, d.h. quasi-kolonialen) Vergangenheit ihres Fachs. Um so etwas Ähnliches geht es derzeit aber auch in Ägypten selbst: Die Berliner Zeitung gab am 19.Juli einem Porträt des neuen „Antikenministers“ von ihrer Kairo-Korrespondentin Julia Gerlach den Titel „Ägypten – Ein Revolutionär für die Antiquitäten“:
„Das erste Mal bejubelt wird Abdel Fattah al Banna am Sonntagabend auf dem Tahrir-Platz in Ägyptens Hauptstadt Kairo: Die Aktivisten der Jugendbewegung des 6.April lesen sich Twittermeldungen vor. Nach und nach werden die Namen der neuen Minister Ägyptens bekanntgegeben. „Wow, Abdel Fattah al Banna wird tatsächlich neuer Antikenminister. Den habe ich vorgeschlagen!“, jubelt ein junger Mann, der dem engen Kreis der jungen Revolutionäre vom Tahrir angehört. Er berichtet, dass sich der Premier bei der Gruppe erkundigt habe, welche Minister sie austauschen würde und wen sie stattdessen im Kabinett sehen möchte. Die Regierenden gehen – so scheint es – auf die Demonstranten zu, seit diese vor zehn Tagen wieder den Tahrir-Platz besetzt haben. 15 Minister werden jetzt ausgewechselt. Als der Umsturz im Frühjahr begann, war Al Banna wie viele andere Ägypter auf Kairos zentralem Platz. Schon vorher habe er sich an Protesten beteiligt, wissen die Aktivisten der Jugendbewegung des 6.April. Sie sind überzeugt: „Al Banna ist ein Mann der Revolution.“ Und weil ihn seine Internetseite als Spezialisten für Altertümer ausweist, schlug ihn die Gruppe als Minister vor.
Der 48-jährige Al Banna stammt aus dem Dorf Diab al Nigm zwei Autostunden nördlich von Kairo. Er hat an der Universität von Warschau seine Doktorarbeit geschrieben und ist heute Assistenzprofessor an der Kairoer Universität. Al Banna ist Experte für Steinskulpturen und Restauration. Mit der Ernennung Al Bannas zum Minister für Altertümer geht in Ägypten eine Ära zu Ende: Zahi Hawass muss gehen. Seit er 1994 zum Chef des Pyramidenplateaus von Gizeh ernannt wurde, war Hawass am Nil eine Institution. Er sorgte immer wieder für Schlagzeilen. Nicht zuletzt, weil er sich zum Ziel gesetzt hatte, alle ägyptischen Antiquitäten nach Kairo zurückzuholen, die sich ausländische Archäologen über die Jahrhunderte angeeignet hatten. Die Nofretete-Büste aus Berlins Neuem Museum steht ganz oben auf seiner Liste. Hawass war nach der Revolution bereits einmal abgesetzt, aber nach kurzer Zeit zurückgerufen worden. Angeblich weil sich kein geeigneter Nachfolger fand. Al Banna stellte sich an die Spitze der Anti-Hawass-Kampagne: Immer wieder führte er Demonstrationen an. Mal ging es um Lohnforderungen der Angestellten der Antiquitätenbehörde. Mal ging es um Korruptionsvorwürfe gegen Hawass. Jetzt hat er sein Ziel erreicht.“
Heute berichtet jedoch Sonja Zekri in der Süddeutschen Zeitung – unter der Überschrift „Zäher als die Pharaonen“:
Der Hawass-Nachfolger Abdel Fatah El-Banna sei bereits einen Tag nach seiner Ernennung zum Antiken-Minister wieder zurückgetreten: „Er ist kein Archäologe, es war ein großer Fehler,“ erklärte der Generalsekretär der Antikenbehörde Mohamed Abdel-Maksud. Und Hawass erklärte flugs: Der Premierminister Essam Scharaf, „der sich nach einer Kabinettsumbildung am Montag mit Kreislaufschwäche zurückgezogen hatte, habe ihn, Hawass, gebeten, erst mal im Amt zu bleiben. Falls es ihn doch erwischen würde, könnte er ja Bücher schreiben.“
Von der taz-Praktikantin Sarah Samy, die aus Kairo kommt, ist soeben zu erfahren: Ja, Hawass ist wieder Minister, aber man will sein Ministerium auflösen, es soll nur noch eine Dienststelle zur Verwaltung ägyptischer Altertümer sein, Hawass wird dann Leiter dieser Dienststelle sein. Das war er schon einmal, bevor er Minister wurde: „Generalsekretär der ägyptischen Altertümerverwaltung“ (siehe oben).
In anderen ägyptischen Institutionen gibt es ebenfalls revolutionsbedingte Hin und Hers. Für die taz befragte dazu Karim El-Gawhary die neue Dekanin der Fakultät für Geisteswissenschaften an der Kairoer Universität, Randa Abu Bakr:
Der Tahrirplatz in Kairo ist Inbegriff der ägyptischen Revolution. Hier wurde das Mubarak-Regime gestürzt. Hier versammeln sich die jungen Revolutionäre dieser Tage wieder zu einer Art Revolution 2.1.: Weil ihnen die Veränderungen viel zu langsam vonstatten gehen. Weil die Gerichte viel zu zögerlich die Verantwortlichen des alten Regimes zur Rechenschaft ziehen. Weil im Innenministerium immer noch diejenigen Polizeioffiziere sitzen, die für den Tod von Demonstranten während des 18-tägigen Aufstands gegen Mubarak verantwortlich sind.
Hier verteidigen die Aktivistinnen und Aktivisten ihre Revolution, in deren Namen sie die rot-weiß-schwarzen Nationalflaggen schwingen. Hier verkaufen sie in allen Farben T-Shirts mit der Aufschrift: „Die Macht der Menschen ist stärker als die Menschen an der Macht.“
Doch der Tahrirplatz ist längst nicht mehr das alleinige Zentrum der Veränderung. In nahezu allen Institutionen ist man gerade dabei, das Leitungspersonal auszuwechseln und durch neue, in vielen Fällen demokratisch gewählte Köpfe zu ersetzen. Eine Entwicklung, die für die ägyptische Revolution nachhaltigere Folgen haben wird, als alle Demonstrationen auf dem Tahrirplatz zusammen. Und eine Entwicklung, an der mehr Menschen beteiligt sind, als je auf dem riesigen Tahrirplatz im Zentrum Kairos Platz finden könnten.
Zehn Autominuten vom Tahrirplatz entfernt, auf der anderen Seite des Nils, liegt die Universität von Kairo. Unter Mubarak war sie im festen Griff des Regimes. Stets standen Mubarak-getreue alte Männer der Universität und den Fakultäten vor; unabhängige akademische Arbeit war unmöglich. Jetzt wird schon am Eingang, wo keine Polizisten mehr Studenten und Lehrpersonal schikanieren, deutlich, wie sehr sich die Dinge geändert haben.
Und auch im Innern tut sich einiges. An der Fakultät für Geisteswissenschaften etwa. Deren neue Dekanin heißt Randa Abu Bakr, ist weiblich, 43 Jahre jung und erklärte Revolutionärin. Anfang vorigen Monats wurde sie gewählt. Die über 300 Professoren und wissenschaftlichen Mitarbeiter der Fakultät hatten einfach mehrheitlich bestimmt, dass die Führung der Fakultät in einer geheimen Wahl bestimmt werden soll. Dem konnte der alte Dekan nichts entgegensetzen.
„Ich bin euphorisch, die Revolution war ein Geschenk des Himmels. Und dann gab es an der Universität auch noch eine Wahl. Dass wir das geschafft haben, war der eigentliche große Sieg, nicht dass ich die Wahl dann auch noch gewonnen habe“, sagt Abu Bakr.
Sie sitzt in einem Nebenraum der Bibliothek, denn ein Büro hat sie noch nicht. Der Universitätspräsident, der zur alten Mubarak-Garde gehört, weigert sich, die Wahl anzuerkennen. „Es ist klar, dass die nicht gern ihren Platz räumen und versuchen, die Dinge hinauszuzögern. Aber früher oder später müssen sie die neuen Zeiten anerkennen, sonst eskaliert die Lage wieder, und am Ende wird es doch weitergehen“, meint die Professorin für englische Literatur selbstbewusst.
Die Revolution fand während der Semesterpause statt. „Als wir wieder zurückkamen, haben wir Professoren uns zusammengesetzt und überlegt, was wir jetzt verändern“, erzählt Abu Bakr. Zunächst wollten sie nur ein Komitee gründen, das die akademische Arbeit überwachen soll. Dann kam jemand auf die Idee, den Dekan wählen zu lassen.
Zu den Vorbereitungstreffen kamen immer mehr Mitarbeiter. Eine Umfrage wurde veranstaltet, in der sich über 80 Prozent des Lehrpersonals für die Wahlen aussprachen. Dann ging es Schlag auf Schlag. Als bei einer Versammlung aller Mitarbeiter das Ergebnis der Umfrage vorgestellt wurde, meldeten sich bereits sieben Kandidaten, darunter Abu Bakr. Die bekannte Tahrir-Aktivistin stellte ihr Programm vor, in dessen Zentrum die Trennung zwischen Sicherheitsapparat und akademischer Arbeit stand. „Früher brauchten wir eine Erlaubnis der Staatssicherheit, um reisen zu können. Die entsprechenden Formulare existieren immer noch und werden von der Verwaltung manchmal noch angefordert“, erzählt sie lachend. Es dauere eben eine Weile, bis der Wandel der Zeit in allen Ecken der Universität ankomme.
Was sie darüber denkt, dass die erste Wahl eine Frau ins Amt gebracht hat, die nun einer Fakultät mit 20.000 Studenten vorsteht? „Das kommt einem Wunder gleich“, sagt sie und lacht wieder. „Es ist nicht nur eine Veränderung, dass jemand die Fakultät führt, der nicht aus dem alten Regime stammt, sondern dass sie nun auch noch von einer Frau geleitet wird. Das ist eine weitere Art von Sieg.“
Sonja Farid, eine wissenschaftliche Mitarbeiterin, die ebenfalls englische Literatur unterrichtet, wird noch deutlicher. Dass mit Randa Abu Bakr die einzige Kandidatin die Wahl gewonnen habe, sei ein wichtiges Signal. „Die Wähler waren überzeugt, dass sie es besser kann als ihre männlichen Mitbeweber. Sie müssen sich daran gewöhnen, dass Frauen das Gleiche leisten können wie die Männer“, erklärt sie.
Diese Vorgänge an der Universität hätten Vorbildcharakter für die gesamte ägyptische Gesellschaft, fährt sie fort. „Eine Revolution ist mehr, als nur ein Regime zu stürzen. Es geht darum, dass wir Demokratie lernen. Und das muss in allen Institutionen stattfinden“, sagt sie.
„Der Selbstreinigungsprozess in den Institution ist der Schlüssel für die Zukunft des Landes“, ist auch die neue Dekanin Abu Bakr überzeugt. Die Revolution werde nur erfolgreich sein, wenn an allen Schaltstellen Menschen sitzen, die an die Erneuerung glauben. Das Wunder des Tahrirplatzes könne nicht am Tahrirplatz vollendet werden, sondern nur, wenn es sich in allen Institutionen und Bereichen des gesellschaftlichen Lebens fortsetzt – an den Universitäten, in den Medien oder sogar in den Krankenhäusern.
Etwa in der staatlichen Manschijat-al-Bakri-Klinik. Einer der dortigen Ärzte wandte sich vor einigen Wochen an den bekannten Volkswirt und internationalen Gewerkschaftsspezialisten Elhami al-Meghrani, um sich Rat zu holen, wie sie den korrupten Krankenhausleiter loswerden könnten.
„Gründet einen Betriebsrat“, empfahl al-Meghrani. Die Antwort des Arztes: „Was ist ein Betriebsrat?“ Al-Meghrani erläuterte dem fragenden Arzt die Aufgaben eines Betriebsrats und gab ihm noch eine letzte Empfehlung mit auf den Weg: „Sorgt dafür, dass nicht nur die Ärzte, sondern auch das Pflege- und Verwaltungspersonal darin vertreten sind.“
Einige Tage später erhielt er einen erneuten Anruf: „Die Ärzte wollen nicht zusammen mit dem Pflegepersonal und das nicht mit den Verwaltungsbeamten zusammenarbeiten“, berichtete der Arzt. Al-Meghranis kurze Antwort: „Dann kann euch keiner helfen.“ Es dauerte nicht lange und die ägyptischen Medien berichteten von einem Zusammenschluss aller Mitarbeiter des Krankenhauses. Vertreter des Gremiums wurden im Gesundheitsministerium vorstellig. Der ungeliebte, korrupte Krankenhausdirektor wurde abgesetzt und durch einen vom Ministerium ausgesuchten anderen Mann ersetzt. Doch gegen diesen bestellten Direktor revoltierte der neue Betriebsrat und setzte schließlich durch, dass die Mitarbeiter des staatlichen Krankenhauses ihren Vorgesetzten selbst bestimmen konnten – und zwar in geheimer und freier Wahl.
Zurück an die Universität: Vor dem Tor zur Fakultät für Geisteswissenschaften steht die Studentin Engy al-Aghroudy, die im zweiten Jahr englische Literatur studiert, zwischen einer Gruppe von kichernden Freundinnen. Dass ihrer Fakultät nun eine Frau vorsteht, findet sie großartig. Denn es bedeute, dass auch die Studentinnen von heute später solche Positionen erreichen könnten, hofft sie.
Bei den nächsten Dekanatswahlen wünsche sie sich nur, dass auch Studenten mitwählen dürfen. Dann hätte die ägyptische Revolution in den Institutionen die europäische Demokratie tatsächlich weit hinter sich gelassen.
Überholen ohne einzuholen! Während in Ägypten versucht wird, die Gesellschaft von unten personell und strukturell umzukrempeln („Die Kacke des Seins umzugraben!“), findet in Nigeria eine territoriale Entmischung der christlichen und islamischen Bevölkerung auch von unten statt, gestern berichtete Katrin Gänsler in der taz Einzelheiten:
In Nigeria wirkt seit Wochen die bloße Erwähnung des Namens Boko Haram – übersetzt bedeutet dies „Westliche Bildung ist Sünde“ – wie eine kleine Explosion. Polizei und Militär sind in Alarmbereitschaft, denn alle drei bis vier Tage bekennt sich die islamistische Sekte, die ihr Hauptquartier in der Stadt Maiduguri im nordöstlichsten Bundesstaat Borno hat, zu neuen Anschlägen. Die jüngsten liegen erst ein paar Tage zurück. Anders als in den vergangenen Wochen haben Boko-Haram-Mitglieder dieses Mal mehrere Kirchen in der Pendlerstadt Suleja, die rund eine Autostunde von Abuja entfernt liegt, als Angriffsziel ausgewählt. Die Angst vor weiteren Bomben ist überall im Norden, aber auch in der künstlich-schicken Hauptstadt Abuja spürbar. Seit den Explosionen auf dem Parkplatz des Polizeihauptquartiers Mitte Juni im Zentrum der Stadt gibt es eine Ausgangssperre, an die sich niemand hält, die eine oder andere Polizeikontrolle und eine Aufstockung des privaten Wachpersonals. Dieses Personal ist besonders auf Parkplätzen im Einsatz und fragt Autofahrer danach, was sie im Kofferraum haben. Ein schnödes „nichts“ reicht freilich als Antwort, um durchgewinkt zu werden.
Ähnlich hilflos und inkonsequent präsentiert sich die Regierung. Vergangene Woche sagte Präsident Goodluck Jonathan (Peoples Democratic Party, PDP) während des Staatsbesuchs von Bundeskanzlerin Angela Merkel zwar: „Wir werden alles tun, um das Problem zu lösen.“ Doch das wirkt wie eine schwache Floskel. Einziger konkreter Vorschlag ist bislang die Einführung eines Gesprächskreises und ein mögliches Amnestieprogramm gewesen, was Boko Haram jedoch sofort ablehnte. Deshalb hat die Regierung entschieden, die Joint Task Force (JTF), eine Spezialeinheit des nigerianischen Militärs, zur Suche nach Sektenmitgliedern einzusetzen.
Nach Informationen von Amnesty International soll diese Truppe bei ihrem Einsatz vor knapp zwei Wochen mindestens 25 Menschen getötet und 45 weitere verletzt haben. Es passt ins Bild der Spezialeinheit, die in den vergangenen Jahren häufig im Nigerdelta Rebellen aufspüren sollte. Dabei schaffte sie vor allem eins: Sie schüchterte die Bevölkerung massiv ein und musste sich regelmäßig die Kritik von Menschenrechtsgruppen gefallen lassen. In Maiduguri sollen den Hinterbliebenen nun elf Autos und etwas Bargeld ein wenig Trost spenden. Die Geschenke hat Gouverneur Kashim Shettima am Montag überreicht. Hussaini Abdu, Leiter der nichtstaatlichen Organisation ActionAid, hat indes die Hoffnung auf eine friedliche Lösung nicht aufgegeben. Selbstverständlich seien längst nicht alle Forderungen Boko Harams, wie etwa die Errichtung eines islamischen Staats, erfüllbar. „Trotzdem können Zeichen gesetzt werden“, findet er. Dazu gehört für ihn insbesondere die Untersuchung der außergerichtlichen Hinrichtungen im Jahr 2009, als die Polizei auf offener Straße Mitglieder der Sekte einfach erschossen hat. Seitdem ist die Situation extrem angespannt.
Eine Aufarbeitung des Konflikts wünscht sich auch Tajudeen Bello, Hauptimam der Fouad-Lababidi-Zentralmoschee in Abuja. „Es ist eine komplexe Angelegenheit“, beschreibt er das Verhältnis von Boko Haram und Staat. Weit weniger diplomatisch haben sich in den vergangenen Tagen indes andere Islamgelehrte in Nigeria geäußert. So hat beispielsweise die islamische Nichtregierungsorganisation Rasulul Aazam, die Krankenhäuser und Schulen betreibt, deutliche Kritik an Boko Haram geäußert. In einer Presseerklärung bezeichnete sie deren Verhalten als unislamisch. Eine wachsende Ablehnung beobachtet auch Hussaini Abdu. „Die Menschen werden müde, wenn es jede Woche zu neuen Anschlägen kommt. Sie wollen nur noch eins: Frieden.“
Reuters meldete aus Nigeria am 14.7.:
Nigeria und Deutschland wollen ihre Energiepartnerschaft erheblich vertiefen und die Zusammenarbeit bei Flüssiggas, Wasserkraft und erneuerbaren Energien vorantreiben. „Es gibt eine Reihe von Absichtserklärungen, die auf dem Tisch liegen, die aber nicht schnell genug vorangehen“, sagte der Präsident des öl- und gasreichen Staates, Goodluck Jonathan, nach einem Treffen mit Bundeskanzlerin Angela Merkel. „Dies soll sich ändern.“ Merkel verwies ihrerseits etwa auf das Interesse des E.ON-Konzerns, LNG-Gas aus Nigeria zu beziehen. Die Energiepartnerschaft helfe nicht nur Nigeria. „Sie zielt auch darauf, durch den Ausbau der Lieferbeziehungen die Versorgungssicherheit Deutschland bei Erdgas und Erdöl zu steigern“, sagte Merkel.
„Wir haben auch eine sehr enge Zusammenarbeit bei der Ertüchtigung der Streitkräfte für die afrikanischen Sicherheitsmissionen“, erwähnte die Kanzlerin ausdrücklich. Damit ist vor allem Ausbildung nigerianischer Soldaten durch die Bundeswehr für UN-Einsätze gemeint. Merkel hatte scharfe Kritik der Opposition auf sich gezogen, weil sie sich am Vortag in Angola für den Verkauf deutscher Küstenschutzboote für die angolanische Marine stark gemacht hatte.
Zwar gilt die politische Situation in dem stark zwischen dem christlichen Süden und dem moslemischen Norden gespaltenen Landes nach der Wiederwahl Jonathans trotz einiger Anschläge islamistischer Extremisten als relativ stabil. Aber die Regierungsbildung, bei der Jonathan die sensible ethnische und religiöse Balance des Landes wahren muss, dauert seit Wochen an. Dies wirft auch Schatten auf die bis Ende des Jahres angekündigte Privatisierungswelle gerade im Energiebereich. Immerhin gilt als Erfolg, dass er nun die renommierte Weltbank-Managerin Ngozi Okonjo-Iweala bewegen konnte, in sein Kabinett zu wechseln. Sie gilt als Befürworterin harter wirtschaftlicher Reformen. Jonathans Regierung hat zudem einen Sonderfonds aus Überschüssen der Ölverkäufe eingerichtet, der nach Vorbild der Golfstaaten Geld für strategische Investitionen auch im Ausland sammeln soll.
Aus dem Iran meldete Reuters am 19.7.:
Der Iran treibt mit der Installation moderner Zentrifugen sein Atomprogramm voran und provoziert damit Kritik des Westens. Der Aufbau der neuen Anlagen garantiere eine schnellere und qualitativ bessere Uran-Anreicherung, sagte ein Sprecher des Außenministeriums in Teheran am Dienstag. Der Schritt belege die Fortschritte der Islamischen Republik bei ihren Bemühungen zur friedlichen Nutzung der Atomkraft. Frankreich verurteilte die Erklärung als „klare Provokation“. Mit ihrer Ankündigung bestätigte die iranische Regierung in Grundzügen einen Bericht der Nachrichtenagentur Reuters, wonach die Islamische Republik zwei Zentrifugen moderner Bauart für einen großangelegten Test in einer Forschungsanlage in Betrieb nehmen will. Wenn es dem Iran gelingt, technisch weiter entwickelte Zentrifugen einzuführen, würde das Land weniger Zeit benötigen, um größere Mengen Uran anzureichern. Dies könnte für zivile Zwecke, in einem weiteren Stadium aber auch zum Bau von Atomwaffen genutzt werden. Während die Führung in Teheran stets betont, mit dem Atomprogramm auf die steigende Stromnachfrage zu reagieren, verdächtigen die USA und ihre Verbündeten das Land, Kernwaffen zu entwickeln.
Und am 20.7.:
Der Iran hat angeblich ein unbemanntes US-Aufklärungsflugzeug abgeschossen, das über der Atomanlage Fordu geflogen ist. Das von der Luftabwehr der Revolutionsgarden abgeschossene Spionageflugzeug habe versucht, Daten über die Urananreichungsanlage zu gewinnen, wird der Abgeordnete Ali Aghasadeh Dafsari am Mittwoch auf einer Internetseite zitiert, die zum staatlichen Fernsehen gehört. Wann sich der Zwischenfall ereignet hat, wurde nicht gesagt. Die Atomanlage Fordu wurde in der Nähe der Stadt Ghom unterirdisch in einem Gebirgsmassiv errichtet. Ihre Existenz hat der Iran erst eingeräumt, als sie von westlichen Geheimdiensten 2009 publik gemacht worden war.
Aus dem Irak meldete AP vorgestern:
Der Ableger von Al-Kaida im Irak hat sich zu zwei Bombenanschlägen mit fast 40 Toten und zahlreichen Verletzten bekannt. Auf ihrer Internetseite teilte die Organisation Islamischer Staat Irak am Dienstag mit, dass sie hinter dem Doppelanschlag auf ein Verwaltungsgebäude in Tadschi, 20 Kilometer nördlich von Bagdad, stecke. Bei den Anschlägen am 5. Juli waren 37 Menschen getötet und 54 weitere verletzt worden. Die Terrorgruppe sagte zudem, sie habe auch ein Selbstmordattentat am 26. Juni geplant. Dabei hatte ein im Rollstuhl sitzender Attentäter drei Menschen in Tarmija, 50 Kilometer nördlich von Bagdad, getötet und 18 weitere verletzt.
Aus Pakistan meldete AP gestern:
Bei der Explosion eines am Straßenrand versteckten Sprengsatzes sind am Dienstag im Nordwesten Pakistans fünf Kämpfer der radikalislamischen Taliban ums Leben gekommen. Drei weitere Aufständische seien bei dem Anschlag in dem Dorf Pir Khel in Südwaziristan verwundet worden, verlautete aus Geheimdienstkreisen. Bei den Kämpfern habe es sich um Gefolgsleute des prominenten Talibankommandeurs Maulvi Nazir gehandelt, hieß es weiter.
Aus Tunesien meldete AP:
In Tunesien nimmt die Gewalt kein Ende: Unbekannte verübten einen Anschlag auf eine Pipeline, über die Öl von Algerien nach Italien transportiert wird, wie das Innenministerium am Dienstag mitteilte. Verletzt wurde bei der Explosion am Montag gut 60 Kilometer nordwestlich von Tunis niemand. In Mensel-Burguiba, etwa 70 Kilometer nördlich der Hauptstadt, wurden bei einem Überfall vier Sicherheitskräfte schwer verletzt. Die Behörden verhängten in der Region ein nächtliches Ausgehverbot.
Ergänzend berichtete dpa heute:
Nach dem „arabischen Frühling“ bietet die Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE) Hilfe beim Aufbau demokratischer Strukturen an. Dieses Angebot richtete der neue Generalsekretär der Organisation, Lamberto Zannier, am Donnerstag an die Umbruchsstaaten in Nordafrika. „Die OSZE hat die geeigneten Mittel dafür“, erklärte der italienische Diplomat. Die OSZE mit Sitz in Wien könne in Tunesien (aber auch in Ägypten und Marokko) eine wichtige Rolle spielen, denn die „Sicherheit in dieser Region ist wichtig für die Sicherheit in Europa“, sagte Zannier. Die betreffenden Staaten hätten sich jedoch noch nicht an die OSZE gewandt.
Aus dem Jemen berichtete AP gestern:
Im Jemen sind in den vergangenen zwei Tagen offenbar mehr als 20 Aufständische bei Angriffen von Regierungssoldaten getötet worden. Bewohner der Stadt Dschaar berichteten am Dienstag, sie hätten gesehen, wie Aufständische die Leichen zum Begräbnis getragen hätten. Die Stadt ist eine von mindestens zwei, die islamistische Extremisten im Süden des Landes eingenommen haben. Mehr als fünf Monate nach Beginn der Proteste gegen Präsident Ali Abdullah Saleh ist die Sicherheitslage im Jemen instabil. Die USA fürchten, das Al-Kaida und andere radikale Gruppen das Chaos ausnutzen könnten.
Und heute:
Ein führendes Mitglied des jemenitischen Al-Kaida-Ablegers ist Regierungsangaben zufolge im Süden des Landes bei Kämpfen getötet worden. Ajed al Schabwani sei in der Nähe der Provinzhauptstadt Sindschibar umgekommen, teilte das Verteidigungsministerium am Donnerstag mit. Die Stadt wird seit Mai von Extremisten gehalten, die Verbindungen zu dem Terrornetzwerk unterhalten.
Bei den Kämpfen am Dienstag sei auch ein Cousin al Schabwanis getötet worden, hieß es weiter. Das Terrornetzwerk hat die seit Monaten immer wieder aufflammenden Unruhen in dem von Armut geprägten Land genutzt, um sich in einigen Gebieten des Südens festzusetzen.
Aus Libyen meldete AP:
Gaddafi wandte sich am Dienstag in einer Audiobotschaft an rund 5.000 Teilnehmer einer Demonstration seiner Anhänger in der Stadt Al Asisija. Darin betonte er die Bedeutung des Öls für seine Regierung und bezeichnete den Bürgerkrieg als Kampf „für unsere Lebensweise“. Gaddafi räumte ein, dass der Treibstoffmangel in den von Regierungstruppen kontrollierten Gebieten des Landes den Menschen den Alltag erschwere. Der Kampf habe die Wohnungen erreicht. „Er betrifft die Nahrung unserer Kinder, unser Öl, unsere Ölfelder“, sagte Gaddafi in einer Aufnahme, die vom staatlichen Fernsehen ausgestrahlt wurde. Auch die Strom- und Gasversorgung sei von Ausfällen betroffen.
Bei Gefechten um die strategisch wichtige libysche Ölstadt Brega kamen nach Angaben eines Arztes vom Mittwoch innerhalb von sechs Tagen mehr als 50 Rebellen ums Leben. Allein am Dienstag seien 27 Kämpfer getötet und 83 verletzt worden, sagte Mohammed Idris, ein Arzt am Krankenhaus von Adschdabija, in das die Opfer eingeliefert wurden. Die meisten hätten Schussverletzungen an Kopf und Brustkorb erlitten. Um die Kontrolle über Brega toben seit Tagen erbitterte Kämpfe zwischen Rebellen und Regierungstruppen. Ein Sprecher der Rebellen sagte am Dienstag, die Aufständischen kontrollierten etwa ein Drittel der Stadt. Ein Regierungssprecher bezifferte die Zahl der getöteten Aufständischen auf etwa 500.
Aus Syrien meldete dpa:
Das Regime in Syrien geht weiter mit blutiger Gewalt gegen seine Bürger vor. Bei Razzien der syrischen Armee in der Widerstandshochburg Homs und Umgebung wurden am Dienstag nach Angaben von syrischen Oppositionellen 13 Menschen getötet. Vier weitere Menschen seien ums Leben gekommen, als Sicherheitskräfte in Zivil von Hausdächern auf einen Trauerzug schossen, berichteten syrische Oppositionelle im Libanon. Augenzeugen berichteten von Hubschraubern, die am frühen Dienstagmorgen über Wohnvierteln kreisten, und von Salven aus Maschinengewehren. In Homs seien zehn, in dem Ort Al-Kusair an der Grenze zum Libanon drei Menschen getötet worden, teilte die Organisation Lokales Koordinationskomitee Syrien mit. Truppenaufgebote mit Panzern hätten die Grenze zum Libanon abgeriegelt, um Fluchtwege ins Nachbarland abzuschneiden, teilten syrische Aktivisten im Libanon mit. Zuvor waren Dutzende syrische Familien über den Grenzübergang Wadi Chalid in den Zedernstaat geflohen. Diese Stelle hatten schon früher tausende Syrer genutzt, um sich vor der Gewalt der syrischen Sicherheitskräfte zu retten. Die Stadt Homs gilt als eine der Hochburgen der Proteste gegen das Regime von Präsident Baschar al-Assad.
Die syrischen Behörden haben am Mittwoch den Oppositionsführer George Sabra in seinem Haus in Damaskus festgenommen. Es ist das zweite Mal seit dem Ausbruch der Anti-Regime-Proteste im März, dass Sabra, ein führendes Mitglied der bürgerlichen National-Demokratischen Partei, in Haft genommen wurde, berichtete die Organisation Lokales Koordinationskomitee Syrien. Den Menschenrechtlern zufolge fügt sich die Festnahme Sabras in eine Kampagne willkürlicher Verhaftungen in mehreren Landesteilen ein, darunter in Damaskus und Homs.
Der Madrider FAZ-Korrespondent Paul Ingendaay faßt die Situation in Spanien wie folgt zusammen:
(…) Zweierlei ist klar: Ein guter Teil der jüngeren Generation in Spanien findet, die Demokratie habe vor den entfesselten Kräften der Wirtschafts- und Finanzwelt kapituliert. Sie habe ihre Verbindlichkeit verloren und die Zukunft der jungen Spanier verpfändet. „No nos representan“, lautet eines der wichtigsten Motti: Sie vertreten uns nicht! Das ist auf demokratisch gewählte Politiker gemünzt, unter denen Korruption und Prinzipienlosigkeit durchaus zu beobachten sind. Aus dieser Erkenntnis folgt der zweite Schritt: dass sich die Schwachen mobilisieren müssen, um ihr Verständnis einer „wahren“ Demokratie mit einem Katalog von Reformvorschlägen zu Gehör zu bringen.
Allein das ist ein Phänomen, ganz gleich, ob man als Paten dafür die „Empört euch!“-Schrift des dreiundneunzigjährigen französischen Résistancekämpfers Stéphane Hessel heranzieht oder den Widerstand junger Nordafrikaner gegen die Regime in Ägypten und Tunesien. Daher ist es unwahrscheinlich, dass die im Mai eingeübten Formen des zivilen Ungehorsams so bald aufgegeben werden; im Gegenteil, man wird sie verfeinern. Und noch unwahrscheinlicher ist es, dass die etablierte Politik ein wirkungsvolles Mittel dagegen finden könnte. Denn die uns allen vertraute Kluft zwischen einer handelnden Politik und einer passiven, den Folgen dieses Handelns ausgesetzten Wählerschaft, sie wurde im Mai 2011 zugeschüttet.
Diese Bewusstwerdung, so legen es zahlreiche frisch erschienene Bücher zum Thema nahe, teilt die spanische Gesellschaftsgeschichte in ein Vorher und ein Nachher ein. Eindringlich beschreibt die junge Journalistin Pilar Velasco in ihrem Buch „No nos representan“ (Verlag Temas de hoy) den Bau der Siedlung auf der Puerta del Sol als demokratischen Akt und Symbol für die Ernsthaftigkeit der Protestbewegung. Es kennzeichnet das Politikverständnis der Autorin, wenn dabei die Formulierung fällt, die Besetzer hätten sich „ihre eigene Regierung konstruiert“.
Wie keine andere europäische Protestbewegung vor ihr hat der „15. Mai“ den erwartbaren Diskurs unterlaufen. Keine sichtbaren Repräsentanten, sondern wechselnde „Sprecher“ erläuterten gleichsam mitten im Lauf all jenen, die sich dafür interessierten, die Prinzipien des Protests. Gewalt wurde vermieden. Stattdessen konnten flanierende Bürger zuschauen, wie in Vollversammlungen Beschlüsse gefasst wurden. Mit welcher Legitimation? Gar keiner. Und doch wuchs dem disziplinierten Prozedere so etwas wie moralische Autorität zu. Die Teilnehmer äußerten Zustimmung oder Ablehnung mit stummen Handzeichen; Applaus und Rufe waren ebenso verpönt wie Sprechchöre, Drohgebärden, Radau oder der Genuss von Alkohol. Eine gewisse Fröhlichkeit lag über dem Ganzen, ein Selbstbewusstsein, von dem niemand gedacht hätte, dass es sich in so wenigen Tagen herstellen ließe.
Es hat ein paar Wochen gedauert, bis die Konsequenzen der Aktion lesbar wurden. Auch für die Teilnehmer selbst. In „Las voces del 15-M“ (Die Stimmen des 15. Mai, Verlag Libros del Lince) ist von der überwältigenden Ohmachtserfahrung der jungen spanischen Generation die Rede, die sich trotz einzelner Protestdemonstrationen seit Jahren an den Rand gedrängt, ja „atomisiert“ fühlte. Soziale Bewegungen in Spanien, heißt es in dem Band „La rebelión de los indignados“ (Editorial Popular), hätten eine Niederlage nach der anderen erlitten. Dann jedoch beschlossen ein paar Dutzend Leute, nach der Mai-Kundgebung dazubleiben und auf der Puerta del Sol zu schlafen. Die Polizei versuchte sie zu verscheuchen und nahm ein paar Jugendliche mit. Im Handumdrehen verständigten die Teilnehmer ihre Freunde und setzten sich in den Kopf, auf Madrids meistbesuchtem Platz zu bleiben. Der Widerstand schlug sich in einem witzigen Hashtag nieder: „#yeswecamp“. Moderne Vernetzungsgeschwindigkeit übersetzt sich in überfallartige Mobilisierung und lässt Polizeiaktionen geradezu altertümlich aussehen.
Das improvisierte Lager war der entscheidende Schritt in die Sichtbarkeit: ein Affront gegen die Staatsgewalt unter dem Mantel des Friedensfestes. Denn spätestens mit jenem „magischen Dienstag“, wie Pilar Velasco ihn nennt, hatte der Protest eine Form gefunden, die Politiker und Ordnungshüter völlig entwaffnete. So radikal die Sätze klangen, die auf Handzetteln und Pinnwänden zu lesen waren, so pazifistisch waren die Formen. Wer von außen auf die Parolen schaute, mochte an den Anarchismus denken, der im Barcelona der dreißiger Jahre seine stärkste europäische Bastion hatte; doch wer beobachtete, wie dort eine selbstorganisierte utopische Gemeinschaft heranwuchs, wurde eher an Blumenkinder und Gandhi erinnert. Es ging so weit, dass die Protestierenden den öffentlichen Brunnen auf der Puerta del Sol mit Gartenerde füllten, um Gemüse zu ziehen.
Für die Medien war das kuriose Spektakel ein Geschenk. Wann sieht man schon mal so ein pittoreskes Gemeinwesen mit Bibliothek, Schachecke und Krabbelgruppe im Moment seiner Entstehung? Kenner der Szenerie waren allerdings weniger überrascht. Der Unmut hatte sich schon seit längerem zusammengebraut wie eine dunkle Wolke, nicht nur auf der Ebene der sozialen Netze. „Reacciona“ (Reagiere) lautet der Titel eines Buches, das wenige Wochen vor dem Ausbruch der Proteste im Madrider Publikumsverlag Aguilar erschienen war und in dem zehn renommierte Autoren, auch der älteren Generation, mehr oder minder lautstark dasselbe gefordert hatten: Empörung, Gegenwehr und sichtbare Aktion. Von wem? Vom Volk. Stéphane Hessel tut es in seinem kurzen Vorwort. Der ebenfalls hochbetagte Schriftsteller José Luis Sampedro spricht vom verrotteten Fundament der Demokratie, über das immer nur neue Teppiche geworfen würden, um das Elend zu kaschieren. Federico Mayor Zaragoza, der ehemalige Generaldirektor der Unesco, betrachtet die verheerenden Folgen der Globalisierung und sagt: „Der Augenblick ist da.“
Dass er wirklich gekommen war, zumindest für Spanien, daran konnte man nach Lektüre des Beitrags von Ignacio Escolar kaum noch zweifeln. Escolar, Jahrgang 1975, ehemaliger Chefredakteur der linken Tageszeitung „Público“ und einer der meistgelesenen Blogger Spaniens, trägt auf zehn Seiten statistisches Material zusammen, um die dramatische Lage seines Landes zu veranschaulichen. Nicht nur, dass Spanien mit mehr als vierzig Prozent Jugendarbeitslosigkeit in Europa an der Spitze steht und staatliche sowie private Verschuldung den Menschen die Luft nehmen. Es ist viel schlimmer. Die Nation, die über mehr als zehn Jahre hinweg angeblich einen fabelhaften Immobilienboom erlebt hat, muss erkennen, dass nichts davon beim Mittelstand angekommen ist, dass kaum etwas für die Bildung getan wurde und Menschen, die heute eine Zukunft suchen, am besten ins Ausland gehen. (…)
„Isabelle von Arabien“ im Film „La Novia del Sahara“ – Mathilda May und Peter O’Toole (der davor „Lawrence von Arabien“ spielte)
Letzte Meldung:
In seinem Buch „Iran. Die drohende Katastrophe“ (2006) schreibt Bahman Nirumand über den Atomstreit zwischen dem Iran und dem Westen: „Und die Mullahs wußten, jeder Druck von außen werde nach innen stabilisierend wirken. Weitere Eskalationsstufen waren ihnen also ebenso willkommen wie den USA.“ Es geht in dem Konflikt darum, ob das Mullahregime an einer friedlichen oder einer kriegerischen Nutzung der Atomkraft arbeitet. „Schon aufgrund unserer religiösen Überzeugung sind wir gegen die Verbreitung von Nuklearwaffen,“ wie der vormalige iranische Präsident Chatami stets beteuerte. Nachdem der geordnete Rückzug der USA aus Afghanistan und Irak bereits beschlossene Sache ist, sind bald wieder freiheitskämpferische Kapazitäten frei. Al Dschasira berichtet soeben per mail:
CIA-Veteran: Israel to attack Iran in Fall
A longtime CIA officer who spent 21 years in the Middle East is predicting that Israel will bomb Iran in the fall, dragging the United States into another major war and endangering US military and civilian personnel (and other interests) throughout the Middle East and beyond.
Earlier this week, Robert Baer appeared on the provocative KPFK Los Angeles show Background Briefing, hosted by Ian Masters. It was there that he predicted that Israeli Prime Minister Binyamin Netanyahu is likely to ignite a war with Iran in the very near future.
Robert Baer has had a storied career, including a stint in Iraq in the 1990s where he organised opposition to Saddam Hussein. (He was recalled after being accused of trying to organise Saddam’s assassination.) Upon his retirement, he received a top decoration for meritorious service.
Baer is no ordinary CIA operative. George Clooney won an Oscar for playing a character based on Baer in the film Syriana (Baer also wrote the book).
He obviously won’t name many of his sources in Israel, the United States, and elsewhere, but the few he has named are all Israeli security figures who have publically warned that Netanyahu and Defense Minister Ehud Barak are hell-bent on war.
Baer was especially impressed by the unprecedented warning about Netanyahu’s plans by former Mossad chief Meir Dagan. Dagan left the Israeli intelligence agency in September 2010. Two months ago, he predicted that Israel would attack and said that doing so would be „the stupidest thing“ he could imagine. According to Haaretz:
When asked about what would happen in the aftermath of an Israeli attack Dagan said that: „It will be followed by a war with Iran. It is the kind of thing where we know how it starts, but not how it will end.“
The Iranians have the capability to fire rockets at Israel for a period of months, and Hizbollah could fire tens of thousands of grad rockets and hundreds of long-range missiles, he said.
Allerletzte Meldung:
„Der iranische Außenminister Ali Akbar Salehi hat sich für eine Normalisierung der Beziehungen mit den USA ausgesprochen. Voraussetzung für einen „Dialog auf Augenhöhe“ sei allerdings, dass Washington keine Vorbedingungen stelle und die „Rechte des iranischen Volkes“ anerkenne, sagte der Minister am Freitag der amtlichen Nachrichtenagentur Irna. Auch das iranische Atomprogramm könne kein Hindernis für die Aufnahme beiderseitiger Beziehungen sein, fügte Salehi hinzu. Keine Meinungsverschiedenheit dauere „ewig“, und eines Tages werde auch der Zwist über das Atomprogramm beigelegt sein. Teheran sei bereit zu Verhandlungen, werde sich aber andererseits der Politik von Druck und Sanktionen seitens des Westens nicht beugen.“ (AFP)