vonHelmut Höge 26.09.2011

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Das Schengenregime stürzen!

Arabische Schlauchboot-Flüchtlinge. Photo: grenzenlos-europa.blogspot.com

Den linken Intellektuellen fällt zur Unterstützung der arabischen Aufständischen bisher nur die Forderung nach Öffnung der Schengengrenze ein, mindestens ein Überdenken der bisherigen Abschottung Europas gegenüber den islamischen Orientalen. „Die Demokratiebewegungen in Nordafrika bieten die Chance für einen Neuanfang,“ heißt es z.B. in einem Appell von „medico.de“. Ein Sprecher der Bundeswehr hatte jedoch schon 1998  gegenüber der interessierten Öffentlichkeit die neue „Nato-Verteidigungsdoktrin“ dargelegt: „Sie ist nicht mehr nach Rußland hin angelegt, die russischen Soldaten haben inzwischen die selbe Einstellung zum Krieg wir wir auch – sie wollen nicht sterben! Ganz anders sieht es jedoch bei den Arabern aus, mit dem Islam. Deswegen verläuft die neue Verteidigungslinie jetzt auch“ – Ratsch zog er hinter sich eine neue Landkarte auf- „etwa hier: zwischen Marokko und Afghanistan“.

Während der arabischen Aufstände seit Anfang 2011 äußerten nicht wenige Politiker öffentlich: Man müsse die inzwischen etwa 90.000 jungen tunesischen, marokkanischen, libyschen  und ägyptischen Flüchtlinge, die es nach  Italien und Spanien geschafft haben, jetzt erst recht alle zurückschicken, da sie beim demokratischen Aufbau ihrer Länder  „dringend“ gebraucht werden. Populationstheoretiker wie der FAZ-Autor Gunnar Heinsohn widerlegten sie da: Sie werden aufgrund des enormen „Youth-Bulge“ dort gerade nicht gebraucht. Deswegen müßten in der EU Ausbildungsplätze oder Ähnliches für sie geschaffen werden. Die arabischen „Boat-People“ sind jedoch bereits alle  „ausgebildet“. Aber die Vagheit dieses Vorschlags ist symptomatisch.

Die Gruppe „bordermonitoring.eu“ berichtet in ihrem August-Heft „Tunesien – zwischen Revolution und Migration“, dass sie kürzlich während einer Solitour durch das Land zusammen mit Gleichgesinnten dort herausfinden wollten: „Ist es gemeinsam möglich, die Installierung eines neuen Wachhund-Regimes, wie es die EU derzeit versucht, zu verhindern oder jedenfalls zu stören?“

In ihrer Broschüre lassen die drei Flüchtlings-„Netzwerke“ den Arabienkenner und Mitarbeiter einer Pariser Antirassismusgruppe Bernard Schmid zu Wort kommen. Dieser berichtet, dass die derzeit zwischen Italien, Belgien und Frankreich trotz Schengen-Visa hin und hergeschobenen tunesischen „Boat-People“ in Marseille auf „spontane Solidarität“ stießen. Sie besetzten einige leere Häuser, wurden geräumt und suchten bzw. fanden neue „Notunterkünfte“. Es wurden Nahrungsmittel für sie besorgt und gemeinsam gekocht – vor allem viel zusammen dsikutiert. „Dabei fiel die Verständigung nicht leicht. Es gab kaum eine gemeinsame Sprache. Handy-Videos von den Demonstrationen in Tunesien konnten für Momente eine Brücke schlagen. Aber nicht nur die Sprache war das Problem. Viele der Neuangekommenen waren zum ersten Mal weg von zu Hause, die wenigsten waren vorher politisch organisiert; anarchistische Selbstorganisation und Plenumskultur war für die meisten fremd und zweitrangig. ‚Ich bin nicht hier, um tagelang zu diskutieren – ich will Arbeit finden!‘ sagte einer am Rande einer Versammlung.“ Inzwischen sind „viele weiter gereist, andere wieder zurück. Wer freiwillig ging, dem wurde [von staatlicher Seite] ein Ticket und 300 Euro mit auf den Weg gegeben.“

Wie viele von den arabischen Flüchtlingen es bis jetzt in die BRD geschafft haben, weiß man nicht. Unter 80 Millionen sind einige tausend auch nicht leicht auszumachen – obwohl hier der Verfassungsschutz sich bemüht, sämtliche Muslime zu überwachen. Gerade warnten die Innenminister vor „potentiellen islamistischen Terroristen: Mitte 20, männlich, gefährlich“. Die über die Türkei in die EU einsickernden Muslime will die griechische Regierung jetzt mit einer ähnlichen Grenzanlage wie in den USA (nach Mexiko) und in Israel (zu den Palästinensergebieten hin) abhalten. Der griechische Widerstand dagegen hält sich in Grenzen. Dort kämpft man gegen den ganzen halbbankrotten Staat – und wird dabei anscheinend immer nationalistischer und rassistischer, vor allem gegen Migranten aus den islamischen Ländern, wie ein Sprecher der linken Gruppe „Terminal 119“ am 25.September in Berlin auf der Diskussionsveranstaltung „L’Insurrection et moi“ berichtete.

Und sowieso haben die orientalischen Männergesellschaften – spätestens seitdem man keine Gastarbeiter mehr braucht und ihre Länder nur noch als Öllieferanten und Urlaubsorte – keinen guten Ruf in Europa. Man läßt sich hier zudem nicht gerne als „Ungläubige“ beschimpfen, gar bekämpfen, noch weniger die Frauen als „unreine Schlampen“. Selbst die hiesige Linke verspricht sich nicht viel von den arabischen Aufständen. Sie befürchtet mehrheitlich, dass nur die „Muslimbruderschaften“ davon profitieren werden, spätestens dann, wenn sich die wirtschaftliche Lage verschlechtert – nicht zuletzt dadurch, dass die Westkonzerne sich dort gründlich „einbringen“. Kurzum: Die anfängliche Begeisterung für die Aufstände ist einem „skeptischem Realism“ (Goethe) gewichen. Und hat es nicht Jahrzehnte gebraucht, bis z.B. die Flüchtlinge aus Somalia in Italien so weit integriert waren, dass es für die Frauen nicht mehr selbstverständlich war, dass sie als fleißige Schwestern ihre trägen Brüder mitversorgten – als Putzfrauen, Hilfsarbeiterinnen oder Prostituierte, wie der somalische Schriftsteller Nuruudin Farah berichtete.

Aus Pakistan kam am 25.9. eine Gruppe von Ärzten zu einem Kongreß nach Berlin – und man hätte sie am Liebsten erschlagen mögen: Sie unternahmen eine Bus-Stadtrundfahrt und bedrängten, betatschten und beleidigten ihre junge blonde Stadtführerin derart, dass sie die Tour abbrechen mußte und flüchtete, bevor diese „Barbaren“ sie vollends vergewaltigten. „Der meiste Zündstoff liegt in der Stellung der Frau, die in manchen Kulturen als ein Mensch zweiter Klasse betrachtet wird, dem niemals die gleiche Freiheit zustehen kann wie den Männern und der bei Ungehorsam körperliche Züchtigung verdient. Das ist ein kulturelles Erbe, das zu den Grundwerten von Demokratien diametral ist,“ schreibt der Philosoph Tzvetan Todorov in seinem Buch „Die Angst vor den Barbaren. Kulturelle Vielfalt versus Kampf der Kulturen“ – eine Streitschrift gegen Samuel Huntingtons Antiislam-Pamphlet. Todorov erwähnt zwei Beispiele für den „Zündstoff“: In Italien wurde einer jungen Pakistanerin von ihrem Vater die Kehle durchgeschnitten, „weil sie ihren Lebensunterhalt selbst verdienen, außerhalb ihrer Familie leben und sich nach ihrem Geschmack kleiden wollte. Diese westliche Lebensweise wurde von ihrem Vater als entehrend betrachtet“. Und in Belgien wurde eine junge pakistanische Frau von ihrem Vater umgebracht, „weil sie sich einer von ihren Eltern arrangierten Zwangsehe verweigerte und ein selbstbestimmtes Leben führen wollte“. Ähnliches geschah wenig später auch in Berlin, wo eine junge Kurdin von einem ihrer Brüder aus den selben Gründen erschossen wurde.

Aus Tunesien, Marokko etc. sind bis jetzt vornehmlich junge Männer nach Europa gekommen. Das macht das Flüchtlingsproblem nicht einfacher – im Gegenteil. Die EU-Länder müssen in wenigen Jahren nachholen, wozu Russland bzw. die Sowjetunion Jahrhunderte gebraucht hat: ein einigermaßen erträgliches Miteinander von Muslims und Christen/Kommunisten zu schaffen, wobei es auch dort immer wieder zu Pogromen, Islamverboten und öffentlichen Entschleierungen der Frauen kam (nicht unähnlich denen der Franzosen im Algerienkrieg). Umgekehrt kommt es noch heute in einigen islamischen Ländern gelegentlich zu Pogromen gegen Christen. Und hatte nicht Osama Bin Laden in einer seiner Videobotschaften begründet, „Warum wir [nur] Schweden nicht angreifen“? Was den hiesigen Skandinavienexperten überhaupt nicht eingeleuchtet hat. Der Friedensnobelpreis konnte ja wohl nicht der Grund gewesen sein.

Die Antiislamischen Ausfälle der Broder, Sarrazin und einäugigen  Israelverteidiger wurden zwar nach Beginn der arabischen Aufstände scharf zurückgewiesen – und nach dem arischen Oslo-Attentat sogar als ideologische Wegbereitung kritisiert, aber nach wie vor wählen über 5% der Bevölkerung eine Partei, die alle hier lebenden Türken, Araber und Vietnamesen mit einem fliegenden Teppich außer Landes schaffen will. In Frankreich hat man  diesbezüglich sogar noch realistischere Ideen: So schlug z.B.die Abgeordnete der konservativen Regierungspartei UMP, Chantal Brunel, vor, alle arabischen Flüchtlinge „auf ihre Boote zu setzen und zurückzuschicken.“

Während die Marineführer der EU-Länder darüber nachdenken, wie sie quasi eine Mauer durchs Mittelmeer ziehen können – mittels Kanonenboote und Hightech, plädiert die europäische Linke für ein neues „Mittelmeerkonzept“, das nicht mehr trennt. Das hat es für die westlichen Orientreisenden beiderlei Geschlechts jedoch noch nie getan. Weswegen man umgekehrt im Orient von einem Fortdauern des Kolonialismus spricht, von einer „erniedrigenden Heuchelei“ – so der tunesische Migrationsforscher Mehdi Mabrouk. Er ist seit kurzem Mitglied in der „Höchsten Instanz für die Verwirklichung der Ziele der Revolution, politischer Reformen und des demokratischen Übergangs“ in seinem Land und begreift die Abschottung der EU, die nur Waren hereinläßt, als zunehmend unannehmbar, zumal die Arbeitslosigkeit in Tunesien infolge des Aufstands von 500.000 auf 700.000 gestiegen ist und das Land daneben noch etwa zwanzigtausend Flüchtlinge aus Libyen mitzuversorgen hat.

Auf der anderen Seite meinte der israelische Generalmajor Amos Gilead auf der Frühlingstagung des Interdisziplinären Zentrums in Herzlija, der prominentesten Konferenz über politische Fragen in Israel: „In der arabischen Welt ist kein Platz für Demokratie. Das ist die Wahrheit. Wir ziehen Stabilität vor“. Die Zuhörer nickten beifällig. Und das bedeutete: Wir, das westliche Lager, zu dem sich Israel absurderweise zählt – als Pfahl im Fleische, der ständig neue Pfähle gebiert, wir müssen die islamischen Diktatoren unterstützen, die ihre arabischen Massen niederhalten, damit sie uns nicht überrennen.

In seiner Rede zum 50. Jahrestag der Wiedereröffnung des Wiener Burgtheater berichtete der iranische Schriftsteller Navid Kermani von vier arbeitslosen jungen Marokkanern, die mit einem Schlauchboot nach Spanien wollten: Alle hatten es schon mehrmals versucht. Sie waren jedoch stets von der spanischen Polizei geschnappt und zurück nach Marokko geflogen worden. Kermani erzählten sie: „Wir versuchen die Dinge realistisch zu sehen. Wir kennen das Risiko genau. Wenn wir ins Schlauchbott steigen, muß die Chance, daß wir durchkommen, groß genug sein im Verhältnis zu dem Risiko. ,Aber den Tod kalkuliert ihr schon ein?‘ frage ich. ,Gut, wir kalkulieren den Tod mit ein, aber der ist auch nicht schlimmer als das Leben hier.‘ Wir schwiegen eine Weile. Schließlich meinte einer der Männer grinsend: „Das sind eben ,amaliyyat istischhadiya‘, was wir tun, Selbstmordattentate. Die Europäer denken doch, dass alle Araber Selbstmordattentäter sind. Ja, sie haben recht, wir sind alle hier Selbstmordattentäter. Das Paradies, für das wir unser Leben lassen, heißt Schengen“

In Essen fand im Juli eine mehrtägige  „Islam-Debatte“ statt, auf der die Teilnehmer sich für einen weltoffenen, toleranten und frauenfreundlichen Islam aussprachen – einen „Euro-Islam“, wie der Politologe Bassam Tibi das nennt. Dem gebürtigen Syrer verdanken wir bereits den Begriff „Leitkultur“. Er geht in seinen 25 Büchern und 250 Artikeln in FAZ und taz davon aus, dass sich 1. der „islamische Fundamentalismus“ seit dem „Sechs-Tage-Krieg“ 1967 und erst recht seit dem Golfkrieg 1990 zu einem „Mainstream“ unter den Muslimen entwickelt hat; 2. dass dieser das „Resultat des Mißlingens islamischer Säkularisierungs- und Modernisierungsversuche“ ist; 3. dass er aufgrund seiner „Schriftgläubigkeit“ unfähig zu „wissenschaftlichem Denken“ macht und eine „kulturelle Wüste“ um sich schafft, denn „kreativ“ ist für die Gläubigen allein Allah; 4. dass der Muslim nur Interesse an „westlichen Waffen“ hat, mit denen er hofft, die Ungläubigen endlich zu besiegen – was Tibi einen  „Traum der „orientalischen Despotie“ von der „halben Moderne“ nennt. Den Muslimen gehe ansonsten jegliches „Könnens-Bewußtsein“ ab, was zusammengenommen in einen „Weltkrieg mit Atombomben“ münden könnte. Zwar gesteht der Autor den Muslimen zu, dass ihr fataler Hang zum „Fundamentalismus“ eine Art „Aufstand“ gegenüber der „unerträglichen westlichen Arroganz“ ist, aber da für sie alles Wissen dem „religiösen Glauben“ unterworfen sein muß, sind sie unfähig  zu „Zweifel“ und „Vermuten“, also vor lauter Textgläubigkeit schier verblödet. So weit so schlecht.

Tibi hat jedoch auch das Gute fest im Blick: Diesem ganzen epistemologischen Elend der Orientalen und ihrer dogmatisch-menschenrechtsverachtenden Verblendung hält er die lichte Vernunft  und „Kreativität“ des Westens entgegen –  dem sie sich wohl oder übel anzupassen haben – d.h. der „kulturellen Moderne“ als ein emanzipatorisches „Projekt“, dem das „Subjektivitätsprinzip“  sowie die „Wissenschaft und Technologie“  zugrundeliegt. Dazu reiche es aber nicht, bestimmte für den Glauben unverfängliche Wissensbereiche einfach auswendig zu lernen, wie es an islamischen Universitäten noch gang und gäbe  ist: Das „arabo-islamische Denken müsse vielmehr vom „text-“ zum „vernunftzentrierten Lernen“  übergehen –  vom deduktiven zum induktiven Denken. Abgesehen davon, dass das auch für das christlich-abendländische Denken gilt, merkt man dem syrischen Schriftsteller  an, dass der Westen ihm (in Göttingen) gründlich das Gehirn gewaschen hat! Diesen Eindruck bekam man schon 1981 von V.S.Naipauls großem Bericht über seine „Islamische Reise“, erst recht jetzt von seiner zweiten Reise: „Afrikanisches Maskenspiel“ betitelt.

So wie der Theoretiker des algerischen Befreiungskrieges Frantz Fanon es den Kolonialisten heimzahlte – „Wenn du einen Franzosen tötest, dann befreist du dich gleich zwei mal“ –  und der palästinensische Literaturwissenschaftler Edward Said die westlichen „Orientalisten“ vernichtend – als intellektuelle Vorhut kriegerischer Westinterventionen – kritisierte: in einer Art „Schauprozeß“ wie der Westreaktionär Siegfried Kohlhammer meint, bleibt umgekehrt auch die westliche Öffentlichkeit und Polizei den Arabern nichts schuldig. So berichtet z.B. der ägyptische Autor Khaled al-Khamissi, der ein Buch über Kairoer Taxifahrer veröffentlichte: „Ich bin mit französischen Filmteams durch Kairo gelaufen. Wenn sie unter 2000 Gesichtern eines mit einem langen Bart gesehen haben, filmten sie dieses, nicht die 1999 anderen. Der Westen sucht diese Bilder. Aber sie sind eine Verzerrung der Wirklichkeit“.

Es hilft nichts, wir müssen diesen ganzen Kampf – als Bürgerkrieg – annehmen, um ihn „in Richtung seiner erhabensten Erscheinungsweisen“ auf uns zu nehmen. Das heisst: unserem „Geschmack entsprechend“, wie die autonome Pariser Gruppe Tiqqun es ausdrückte.

In einer antirassistischen Perspektive gehört dazu eine Überwindung der bloß verbalen oder bestenfalls „spontanen Solidarität“ – was in bezug auf die Fluchthilfe heißt, dass sie von hier ausgehen muß (und nicht wie romantisch-abenteuerlich geplant: von See aus), d.h. es müssen halbwegs sichere Institutionen geschaffen werden. Auch wenn die spontane Aktion mitunter hilfreich sein kann – wie gerade der neue Film von Aki Kaurismäki „Le Havre“ zeigt.

Die türkischen Linken haben es bitter bereut, dass sie in den Achtzigerjahren die Nöte der kurdischen Migranten (in Istanbul z.B.) den Mullahs und Rechten überließen. Ähnlich meinte Daniel Cohn-Bendit 2009 während eines Interviews über das vermeintlich gescheiterte Multikulti-Modell der BRD: „Wir haben den Fehler gemacht, uns nicht genug um die Ausländer gekümmert zu haben“.

An emphatischen Bekenntnissen, es anders, besser, zu machen, fehlt es unterdes nicht: „Die Fackel der Befreiung“ ist  von den seßhaften Kulturen an „unbehauste, dezentrierte, exilische Energien“ weitergereicht worden, „deren Inkarnation der Migrant“ ist. So spricht z.B. der Exilpalästinenser Edward Said. Für den Engländer Neal Ascherson sind es insbesondere die „Flüchtlinge, Gastarbeiter, Asylsucher und Obdachlosen“, die zu Subjekten der Geschichte geworden sind. Der polnische Künstler  Krzysztof Wodiczko zog daraus den Schluß: „Der Künstler muß als nomadischer Sophist in einer migranten Polis aufzutreten lernen – auf ihren neuen Agoren, den Plätzen, Märkten, Parks und Bahnhofshallen der großen Städte“.

Seltsamerweise war der gute Wille dazu anfänglich noch durchaus vorhanden – als die ersten Gastarbeiter kamen. Auch wenn ihre Kinder dann hier z.B. kein Handwerk lernen durften und die Diskos für sie tabu waren (damit sie uns dort nicht die besten Frauen wegschnappten?). Jüngst hat übrigens der Berliner „Clubrat“ ein kollektives Lokalverbot für alle Araber verhängt, u.a.weil ihre Frauen-Anmachen nicht nordeuropäischen Standards entsprechen. Mit solchen „low-intensity weapons“ läßt sich das „Schengen-Paradies“ jedoch nun gar nicht halten. Aber ob das Gegenteil hilft, dass einige Clubkollektive inzwischen mit türkisch-arabischen Drogendealern gemeinsame Sache machen, ist ebenso fraglich.

Logo der Flüchtlingshelfer. Photo: perspektiven-online.de


Literatur:

1. Pola Reuth: „Libysche Träume“, Engstler-Verlag 1999

Als die Autorin in den Achtzigerjahren mit einem Stipendium in Rom lebte, lernte sie dort einen Afrikaner kennen, der eine kolossale Irrfahrt hinter sich hatte: Er stammte aus Kosti im Sudan – und wollte unbedingt nach Nordeuropa. Immer wieder versuchte er es. Mal über Ägypten und den Libanon, dann über den Tschad und Lybien. Schließlich schaffte er es aber doch – immerhin bis nach Rom. Und dort endet auch seine letzte Geschichte. Jedes der fünfzehn Kapitel thematisiert einen Fluchtversuch. Seine Aufschreiberin, Pola Reuth, half ihm dann, von Rom nach Hamburg zu gelangen, wo er einen Exportgeschäft mit gebrauchten Motoren aufmachte. Auch dabei half sie ihm, im Gegenzug bekam sie irgendwann ein Kind von ihm. Dieses wuchs heran und ist inzwischen ein Frankfurter Teenager. Ihr Vater hielt es jedoch nicht lange in Hessen aus. Vor einigen Jahren hatte er das Gefühl, hier entweder verrückt oder gewalttätig zu werden. Und weil er beides nicht wollte, ging er zurück in den Sudan – obwohl dort Bürgerkrieg herrschte. Pola Reuth und ihre Tochter telefonieren manchmal mit ihm.

2. Zekarias Kebraed: „Hoffnung im Herzen, Freiheit im Sinn. Vier Jahre auf der Flucht nach Deutschland“, Bastei-Verlag 2011

„Eritreas Jugend kennt keine Zukunft: Mit Bussen werden die Abiturienten direkt nach der Zeugnisausgabe ins Militärlager gebracht, um dort unter Drill und Folter zu zerbrechen. Um dem zu entgehen, gibt es für den 17-jährigen Zekarias Kebraeb nur einen Ausweg: die Flucht nach Europa. Vier Jahre dauert der Höllentrip, den Zekarias nur knapp überlebt. Er erleidet Hunger, Durst und Elend auf seinem Weg durch den afrikanischen Busch, die Sahara und übers Mittelmeer. In Italien angekommen, wähnt er sich am Ziel. Doch er stößt auf Ablehnung und Widerstand durch Polizei und Behörden. Wieder muss er fliehen, und der Wunsch, ein normales Leben in Freiheit zu führen, rückt abermals in weite Ferne…“ (Amazon-Kurzbeschreibung)

3. Fabien Didier Yene: „Bis an die Grenzen. Chronik einer Migration“, Drava-Verlag 2011

„Fabien Didier Yene, geboren in der Ortschaft Ekombitié, Kamerun. Schulabschluss mit Matura in der Hauptstadt Yaoundé. Nach seiner Auswanderung, die ihn durch zahlreiche afrikanische Länder geführt hat, lebt er heute in Marokko, wo er im März 2008 zum Obmann der Kameruner Emigranten-Gemeinschaft gewählt wurde und sich im Rahmen verschiedener Menschenrechts-Organisationen, darunter das Netzwerk Euro-afrikanisches Manifest, für die Rechte von MigrantInnen und das Recht auf Bewegungsfreiheit einsetzt.“ (Amazon-Kurzbeschreibung)

4. Fabrizio Gatti: „Bilal. Als Illegaler auf dem Weg nach Europa“, Kunstmann-Verlag 2010

„Bilal ist ein Illegaler, unterwegs auf einer der berüchtigtsten Transitrouten von Afrika nach Europa. Bilal ist Fabrizio Gatti, der renommierte Journalist und »italienische Wallraff«, der sich als Migrant unter die anderen gemischt hat, um zu erleben, was sie erleben, und davon zu erzählen. Von Dakar zieht er mit dem Flüchtlingsstrom bis in die Sahara; auf klapprigen Lastwagen durchqueren sie zu Hunderten die Wüste, unter unvorstellbaren Entbehrungen. Immer wieder werden sie überfallen. Schlepper und korrupte Polizisten wechseln sich darin ab, den Flüchtlingen ihre letzte Habe zu nehmen: Der moderne Menschenhandel entlang der neuen großen Trecks ist auch ein brutales, hochprofitables Geschäft. Viele stranden, manche Spur verliert sich für immer. Die es schaffen, die mit letzten Mitteln die Grenzen passieren, die gefährliche Überfahrt in viel zu vollen Booten übers Meer überleben, erwarten Auffanglager, die Menschenkäfigen ähneln. Doch auch wenn sie abgeschoben werden, sie werden wiederkommen, solange sich das Elend in ihrer Hei­mat nicht ändert. Die moderne Odyssee der neuen Arbeitssklaven hat gerade erst begonnen.“ (Amazon-Kurzbeschreibung)

5. Chika Unigwe: „Schwarze Schwestern“,Klett-Cotta 2010

Drei nigerianischen Frauen gelangen mit einem Fluchthelfer nach Rotterdam, wo sie als Prostituierte arbeiten müssen.

6. Miriam Kwalanda: „Die Farbe meines Gesichts“, Eichborn-Verlag 1999

Die Autorin heiratete in Mombasa einen deutschen Sextouristen. Damit erfüllte sich ein Traum: Sie konnte nach Deutschland einwandern. Sie bekam ein Kind, trennte sich von ihrem Mann, machte eine Psychotherapie und lebt heute im Ruhrgebiet. „Oft fühle ich mich wie eine Ziege, die allein nach dem Weg sucht.“ Rückblickend meint die Sechsunddreißigjährige: „Die Blumen in meinem Leben sind meine drei Kinder, die Erinnerungen an meine Mutter, meine Therapeutin und sehr gute Freunde, die in den letzten Jahren zu mir gehalten haben.“

7. Tété-Michel Kpomassie: „Ein Afrikaner in Grönland“, Piper-Verlag 1998,

Der Autor gelangte als junger Mann – nach einer wahren Odyssee von Togo nach Dakar, von Marseille nach Kopenhagen, schließlich nach Grönland – zu „seinem Volk“, den Eskimos, wo er dann lange Zeit lebte und forschte. Immer wieder verglich er dabei seine Dorferfahrungen in Kamerun mit den Sitten und Gebräuchen der Inuit. Anschließend nahm er in Paris Kontakt zum Direktor des Instituts für arktische Studien am Centre National de la Recherche Scientifique, Jean Maleurie, auf. Dieser überredete ihn, seine Erlebnisse aufzuschreiben. Tété-Michel Kpomassie, arbeitet inzwischen am Pariser Institut für arktische Studien.

Letzte Flüchtlings-Nachrichten:

Am 12.9. kamen in Lampedua „weitere 98 Flüchtlinge aus Tunesien“ an, wie die suedtirolnews.it meldeten.

Von den bis jetzt „57.000 Migranten aus Libyen und Tunesien will Italien bis Ende des Jahres 30.000 abschieben, rund 13.000 seien bereits im ersten Halbjahr 2011 in ihre Heimatländer abgeschoben worden,“ meldete „südtirol.online“.

„Auf der italienischen Mittelmeerinsel Lampedusa ist am Mittwoch der Streit zwischen Flüchtlingen und Einwohnern eskaliert. Auf Fernsehbildern war zu sehen, wie Flüchtlinge unweit des Hafens gegen ihre Abschiebung protestierten.

Als hunderte Tunesier mit dem Ruf „Freiheit, Freiheit“ für ihren Transfer aufs Festland demonstrierten, bewarfen die Einwohner sie mit Steinen und beschimpften Journalisten und Fernsehteams, wie italienische Medien berichteten.  Die Flüchtlinge wiederum drohten, Benzinkanister zur Explosion zu bringen. Mehr als ein dutzend Menschen wurden verletzt, als die Polizei mit Schlagstöcken gegen die Flüchtlinge vorging.“ (taz v. 22.9.)

Die Junge Welt berichtete heute aus Lampedusa:

„Monatelang galt Lampedusa als Europas »Alcatraz«. Die kleine Mittelmeerinsel zwischen Tunesien und Sizilien, auf der kaum 5000 Menschen leben, war monatelang der karge südlichste Vorposten Europas, auf dem Tausende Flüchtlinge aus Nordafrika den Zugang nach Europa suchten. Noch vergangene Woche waren über 300 tunesische Migranten auf der Insel eingetroffen. Das einzige Auffanglager der Insel, eingerichet für maximal 800 Personen, war oft mit bis zu 1500 Insassen chronisch überlastet.

Seit Freitag ist es wieder still auf der Insel, die wegen der massiven Flüchtlingswelle monatelang im Zentrum der Weltpolitik stand. Kein einziger Migrant befindet sich mehr auf Lampedusa. Über 1300 Tunesier, die nach gefährlichen Seefahrten Lampedusa erreicht und sich bis vergangene Woche noch auf der 20 Quadratkilometer großen Felsinsel aufgehalten hatten, wurden nach Sizilien und aufs italienische Festland evakuiert, um so rasch wie möglich in ihre Heimat abgeschoben zu werden, wie ein bilaterales Antimigrationsabkommen zwischen Rom und Tunis vorsieht. Mit zwei Schiffen und mehreren Maschinen der italienischen Luftwaffe verließen die Tunesier Lampedusa, nachdem das Auffanglager der Insel vergangene Woche in Brand gesetzt worden und es zu einer blutigen Migrantenrevolte gekommen war.

»Die Situation auf Lampedusa ist unter Kontrolle«, versicherte der Polizeichef der sizilianischen Stadt Agrigent, Giuseppe Bisogno, der nach den Krawallen auf die Insel entsandt wurde. Die Polizei verhaftete vier Tunesier, die für den Brand im Auffanglager der Insel verantwortlich gemacht werden. Festgenommen wurden außerdem weitere drei Personen wegen des Vorwurfs des Menschenhandels.

Die Flammen im Auffanglager der Insel, in dem zu diesem Zeitpunkt cirka 1300 Tunesier untergebracht waren, entwickelten sich in der Küche und im Lagerraum, in dem die Lebensmittel aufbewahrt wurden. Rund 800 Tunesier nutzten die chaotischen Zustände, um aus dem Auffanglager zu flüchten. Etwa 400 von ihnen wurden unweit des Hafens festgenommen.

Ein Großteil des Lagers wurde von den Flammen zerstört. Der Brand sei »die Folge der durch das lange Festhalten der Migranten ausgelösten wachsenden Spannungen« unter den Flüchtlingen, sagte eine Sprecherin der italienischen UNHCR-Vertretung. Das UNO-Flüchtlingshilfswerk UNHCR habe die italienischen Behörden mehrmals auf das Problem der Überbelegung angesprochen und verlangt, daß die Insassen in Unterkünften im Rest des Landes untergebracht würden.

Am Tag nach dem Brand brach eine Revolte aus. Hunderte tunesische Migranten protestierten unweit des Hafens gegen die Abschiebung, dabei kam es zu Zusammenstößen mit der Polizei. Einige aufgebrachte Einwohner der Insel bewarfen die Migranten mit Steinen. Weitere Zusammenstöße erfolgten in der Nähe des Lagers. »Wir sind wie im Krieg, der Staat hat uns allein gelassen, und die Bürger wollen sich selbst verteidigen«, klagte Lampedusas Bürgermeister Dino De Rubeis, der sich in seinem Büro verschanzt hatte, während vor dem Rathaus Dutzende Einwohner der Insel gegen die Präsenz der tunesischen Flüchtlinge demonstrierten. Daraufhin versprach die italienische Regierung, innerhalb von 48 Stunden alle Migranten aus Lampedusa zu entfernen. Oppositionschef Pierluigi Bersani verurteilte die chaotischen Zustände auf Lampedusa. »Die Regierung hätte verhindern müssen, daß die Lage sich derart zuspitzt«. Bersanis Demokratische Partei (PD) fordert das Wahlrecht von Migranten in Italien.“

Der Spiegel berichtet aus der Türkei:

Allein in dem türkischen Flüchtlingslager Yayladagi leben mehr als 9000 Flüchtlinge aus Syrien, 1000 sind es in einem anderen Lage in Altinözü im äußersten Südosten der Türkei.

„Sydney. – Viele Kinder in den australischen Auffanglagern litten unter Depressionen und fügten sich selbst Wunden zu. Auch viele der erwachsenen Flüchtlinge hätten psychische Probleme, sagte Peter Morris von der Gesundheitsbehörde im Northern Territory.

Die Flüchtlinge, die mit Booten in Australien ankommen, werden oft lange in Lagern in abgelegenen Gebieten festgehalten. Dies sei «medizinisch schädlich, verstösst gegen die Menschenrechte, hat keine bekannten positiven Effekte und ist reine Geldverschwendung», sagte Morris.

Derzeit sind demnach mehr als 4700 Menschen betroffen, darunter 845 Minderjährige. Obwohl die Zahl der Flüchtlinge im weltweiten Vergleich eher gering ist, ist der Umgang mit ihnen ein heikles Thema für die Politik in Australien.“ (suedostschweiz.ch)

„Ein besonders dramatischer Fall von Schlepperei ist in Wien von der Polizei aufgedeckt worden. In einem griechischen Reisebus wurden insgesamt 30 Flüchtlinge aus Afghanistan entdeckt. 22 davon, darunter auch einige Kinder, waren in Hohlräumen unter der Bodenplatte versteckt.“(heute.at)

Die UNO-Flüchtlingshilfe geht davon aus:

„40 Millionen Menschen sind weltweit vor Krieg, Verfolgung und massiven Menschenrechtsverletzungen auf der Flucht.“ Und was die von Dürre und Mißernten heimgesuchten afrikanischen Krisengebiete betrifft, dazu heißt es: „Wer zu lange bleibt und nicht flüchtet hat keine Chance!“

Der Flüchtlingsrat Berlin schreibt:

Die meisten Flüchtlinge schaffen es nicht, in Europa oder in Deutschland Schutz zu finden. Nur ein Teil erreicht die unmittelbaren Nachbarstaaten, die jedoch nicht die Kapazitäten für die Aufnahme einer großen Zahl von Flüchtlingen haben. Die Hürden sind nahezu unüberwindbar. Was wäre eigentlich, wenn wir diesem Flüchtlingselend nicht mehr tatenlos zuschauen würden? Wenn wir Menschen aus den Lagern heraus nach Deutschland holen würden? Berlin sollte ein eigenständiges Aufnahme-Programm entwickeln und umsetzen. Deshalb hat der Flüchtlingsrat Berlin die Kampagne „Save me – Eine Stadt sagt ja! Sei offen! Sei Berlin!“ gestartet: Ein breites Bündnis sowohl auf Bundes- als auch auf Berliner Ebene von Flüchtlingsräten, PRO ASYL, dem Flüchtlingshochkommissariat der Vereinten Nationen (UNHCR), Amnesty International, Wohlfahrtsverbänden, Kirchen, Menschenrechts- und Flüchtlingsorganisationen fordert, dass Deutschland jedes Jahr ein Kontingent an Flüchtlingen aus den Erstzufluchtsstaaten aufnimmt und integriert.

In diesen reaktionären Zeiten, geprägt wieder von neuer Religiosität, Nationalismus und Rassismus, gibt es auch eine zunehmende Zahl von Frauen, die – zumeist aus ökonomischen Gründen – in eine Ehe flüchten. In den islamischen Ländern notfalls sogar als „Zweitfrau“, was eine Art Intim-Schlauchboot auf Dauer ist:

„Zweitfrauen liegen voll im Trend“ titelte die taz heute über einen Artikel von Marcus Bensmann aus der Hauptstadt Kasachstan:

In Kasachstan geht der Trend zur Zweitfrau und Ismail Sidbekow freut das. Der 35-jährige Muslim mit dem bartlosen Gesicht arbeitet in der geistlichen Verwaltung der Muslime direkt neben der weiß gekachelten Moschee in Almaty.

„Die Scharia gestattet schließlich einem Mann, bis zu vier Frauen zu ehelichen“, erklärt Sidbekow und öffnet den Koran, daher sei die Heirat einer zweiten Frau von „Gott gewollt“. Der Mann müsse aber die Frauen gleich behandeln sowohl finanziell als auch „physisch, sagt der Religionsbeamte mit einem Augenzwinkern.

Sidbekow hat bisher nur eine Ehefrau, aber sein guter Freund habe kürzlich zum zweiten Mal geheiratet und wohne nun im stetigen Turnus eine Woche bei der ersten und die andere Woche bei der zweiten Familie.

Im Steppenland zwischen Kaspischem Meer und chinesischer Grenze waren die Nomaden schon lange Freunde der Polygamie. Die erste Frau heißt auf Kasachisch „Baibische“, die zweite Frau „Tokal“. Für eine mögliche dritte und vierte Gemahlin ist kein Wort bekannt. Die Sowjetmacht beendete die Vielehe vor 90 Jahren mit drastischen Dekreten. Polygamie wurde zusammen mit dem Brautgeld und der Zwangsheirat verboten. 1991 ging die Sowjetunion unter, sieben Jahre später wurde die Polygamie aus dem kasachischen Strafgesetzbuch als „Straftatbestand“ entfernt.

Vor allem der Neubau der Hauptstadt Astana in der kasachischen Steppe schuf Fakten: Die männliche Elite aus der mittleren und höheren Beamtenschaft entdeckte die Vielehe als probates Mittel beim Pendeln zwischen der alten und neuen Kapitale. Nach dem Zerfall der Sowjetunion war die Hauptstadt des neuen unabhängigen Staates noch die Millionenmetropole Almaty im Süden des rohstoffreichen Landes. Der kasachische Präsident Nursultan Nasarbajew entschied sich, eine neue Hauptstadt nördlicher in die Steppe unweit des zuvor unscheinbaren Provinznests Akmol („Weißes Grab“), zu verlegen.

Nach den ersten wirtschaftlichen Krisenjahren infolge der Unabhängigkeit zog der Ölexport an und spülte Milliarden in die Staatskasse. Der kasachische Staatschef ließ von einer internationalen Architektenelite die neue Hauptstadt in wenigen Jahren aus dem Boden stampfen.

Die Staatselite zog während der Woche nach Astana und ließ oft die Familie in der alten Hauptstadt zurück. Schnell machte der Spruch die Runde, dass die „Baibische“ in Almaty sei, während die „Tokal“ in Astana wohne. Sogar der Präsident soll ein Kind mit einer zweiten Frau haben. Dieses Gerücht wurde jedoch von offizieller Seite bislang nicht bestätigt.

Bei Standesämtern in Kasachstan ist bisher gleichzeitig nur eine Eheschließung möglich. Zwei Anläufe im kasachischen Parlament, die Polygamie staatlich registrieren zu lassen, scheiterten vor allem am vehementen Widerstand der weiblichen Abgeordneten. Die Kasachin Bakit Sisdikowa polemisierte, dass dann auch der Frau die Ehe mit mehren Männern erlaubt werden müsste. Die männlichen Abgeordneten heulten auf. 2011 wollte der skurrile Volksdichter Amantau Asilbek mit dem Versprechen, jeder alleinstehenden Frau mit Hilfe der Polygamie einen Ehemann zu verschaffen, bei den Präsidentschaftswahlen in Kasachstan um die Wählerkunst buhlen. Dem politischen Heiratsvermittler wurde aber die Registrierung verweigert.

Doch es gibt einen Ausweg. Anders als in den zentralasiatischen Nachbarstaaten kann in Kasachstan der Imam auch ohne Vorlage des standesamtlichen Trauscheins den religiösen Segen oder, wie es in Kasachstan heißt, „Nike“ erteilen. So hilft die Religion, dass die Zweitfrau in Kasachstan nicht nur eine Affäre bleibt, sondern einen Status erhält.

Der Religionsbeamte Sidbekow aus Almaty geht in die Offensive. „Warum in Sünde leben, wenn vor Gott eine solche Verbindung den Segen findet“, erklärt er und wirft dem Westen Scheinheiligkeit vor. Dort hätten viele Männer Freundinnen oder gingen gar ins Bordell. „Das ist im Islam verboten.“ Für den religiösen Segen der Zweitehe gäbe es aber eine Bedingung. „Die erste Frau muss der Verbindung im Beisein des Imams zustimmen“, sagt Sidbekow.

Genaue Zahlen gibt es nicht. Die Muslime machten keinen Unterschied zwischen der ersten oder zweiten Eheschließung, daher werde auch diese nicht extra festgehalten, erklärt der Kasache, „aber wir haben immer mehr solcher Fälle“.

In Aktau, einer Stadt ganz im Westen des Landes, erklärt der Moscheediener Murat, dass eine Bescheinigung über das „Nike“ für die Zweitfrau gerade für Reisen in islamische Länder nützlich sei, denn dann könnten beide in einem Hotelzimmer übernachten.

Dieses Papier bekommt jedoch nur, wer sich in anerkannten Moscheen trauen lässt. Aber es gebe viele Wanderimame, die die Trauungen einfach so und ohne Prüfungen durchführten und dann käme der Mann später zur Moschee, um ein richtiges Zertifikat für die Zweitfrau zu erhalten. „Und das geht dann natürlich nicht“, sagt der Kasache in der Moschee von Aktau.

Tags zuvor veröffentlichte die taz bereits einen Bericht aus Nigeria von Bettina Gaus- über „Das Konzept Zweitfrau“:

Die 40 Jahre alte Universitätsdozentin Maryam Yelwa, die in der nordnigerianischen Stadt Minna lebt, ist eine religiöse Frau. Sie schickt ihre Kinder fünfmal in der Woche nachmittags in die Koranschule. Yelwa entspricht aber nicht dem Bild, das sich viele in Europa von einer gläubigen Muslima machen. Kämpferisch ist sie, und sie will beruflich erfolgreich sein. „Ich bin keine Feministin, aber ich werde sehr, sehr wütend, wenn Frauen diskriminiert werden.“

Maryam Yelwa zieht ihre beiden Kinder alleine groß, ihr ehemaliger Mann ist keine Hilfe. „Ich habe das Sorgerecht bekommen, und er zahlt keinen Unterhalt für die Kinder.“ Trotzdem liegt ihr daran, dass der Kontakt nicht abreißt: „Dem islamischen Gesetz zufolge gehören die Kinder dem Vater. Später, wenn eines heiratet, dann muss der Vater zustimmen – egal, ob er sich um seine Verantwortung gedrückt hat oder nicht. Es wäre furchtbar, vor allem für den Sohn, wenn man sagen würde: ,Oh, wir kennen nur die Familie der Mutter, nicht die des Vaters.'“

Die Architekturdozentin würde gerne noch einmal heiraten, sie kann sich auch gut vorstellen, Zweitfrau zu sein. „Ich halte Polygamie für eine gute Idee. Niemals würde ich die Geliebte eines verheirateten Mannes sein wollen.“ Das vertrage sich nicht mit ihrer Würde. „Der Koran erlaubt es Männern, bis zu vier Frauen zu heiraten.“

Maryam sind die Nachteile und Fallstricke einer polygamen Familie nicht fremd. Ihr Vater hat selbst mehrfach eine zweite Frau geheiratet. „Das erste Mal muss irgendwann in den Siebzigern gewesen sein, aber die Ehe hielt nicht, und sie ließen sich scheiden.“ Als der Vater zum zweiten Mal eine zweite Frau heiratete, war die Tochter 16 Jahre alt. „Ich habe sie kaum gekannt. Meine Mutter lebte mit uns Geschwistern in der Provinz, mein Vater arbeitete in Lagos. Und wenn wir ihn besuchten, war sie nicht da.“ Auch diese Ehe endete mit einer Scheidung. Die Hochzeit mit der dritten Zweitfrau fand 1988 statt. Mag Maryam sie? „Ich verabscheue sie nicht.“ Nach einem kurzen Zögern: „Ein polygames Familienkonzept ist immer schwierig. Es gibt viele Intrigen.“

Und trotzdem würde sie gerne eine Zweitfrau sein? Einerseits sträuben sich mir die Haare, wenn eine so kluge und selbstbewusste Frau es für selbstverständlich hält, im Wortsinne die zweite Geige zu spielen. Andererseits verstehe ich, wenn eine 40-jährige Mutter von zwei Kindern keine Lust hat, den Rest ihres Lebens alleine zu verbringen. Sie ist attraktiv – stattlich ist das Wort, das mir zu ihrer Erscheinung einfällt. Aber wie groß wären ihre Chancen, einen unverheirateten Mann in ihrem Alter zu finden?

Vielleicht wäre sie als Zweitfrau tatsächlich glücklicher als alleine. Aber hätte nicht auch die erste Frau ein Wort mitzureden? Könnte Maryam verstehen, wenn die sich gegen eine solche Entwicklung wehren würde? Nein, das kann sie nicht – sie reagiert auf die Frage sogar zornig: „Jede Frau, die in dieser Kultur hier erzogen worden ist, hatte wirklich genug Zeit, sich an den Gedanken zu gewöhnen.“

Asmin Ibrahim sieht das anders. Sie gehört zu den Frauen, die sich nach Ansicht von Maryam an den Gedanken hätten gewöhnen müssen, und in der Tat betont sie, in religiöser Hinsicht sei die Polygamie selbstverständlich – winzige Pause – „akzeptabel“. Sie möchte keinesfalls falsch verstanden werden. Bei einem weiteren Gespräch am folgenden Tag bekräftigt sie ausdrücklich, dass ihr nichts ferner liege, als grundsätzliche Kritik an der Regelung üben zu wollen. Aber das ändert nichts daran, dass sie unglücklich ist. Vor zwei Jahren hat ihr Mann eine zweite Frau geheiratet – nach 22 Jahren als einzige Ehefrau.

Asmin Ibrahim lehrt Geografie an der Bayero-Universität von Kano, der zweitgrößten Stadt Nigerias. Einige Zeit lebte sie in Hongkong, um zu promovieren. „Als ich weg war, hat seine Familie auf ihn Druck ausgeübt, sich eine weitere Frau zu suchen. Mit dem klassischen Argument: Ein Mann kann seine Bedürfnisse nicht kontrollieren, deshalb ist es besser, wenn er heiratet, statt dass er sich herumtreibt.“ Am Ende gab ihr Mann nach.

„Mein Sohn rief mich an und sagte: Er wird heiraten.“ Was Mutter und Sohn bei diesem Gespräch empfunden haben mögen, wird gerade durch die knappe Sachlichkeit deutlich, mit der sie die Szene schildert. Bloß keine Gefühle durchschimmern lassen, sonst könnten die Dämme brechen. Drei Kinder hat das Ehepaar, die jüngste ist 17, der älteste 22 Jahre alt. „Unsere Kinder sind gut erzogen. Sie sind zu der zweiten Frau nicht unhöflich. Sie ziehen sich lediglich zurück.“

Das hat Asmin Ibrahim auch versucht. Als sie nach Abschluss ihrer Promotion aus Hongkong zurückkehrte, zog sie zunächst bei ihren Eltern ein. Inzwischen hat sie wieder eine eigene Wohnung und sich mit der neuen Situation arrangiert – so gut es ihr möglich ist. Ihr Mann lebt mit der zweiten Frau in einer anderen Stadt und besucht sie alle drei Wochen für ein paar Tage. „Ich fühle mich, als ob ich Brosamen bekomme. Manchmal mache ich eine Szene, manchmal macht sie eine Szene. Und er ist dann unglücklich.“ Fühlt er sich schuldig? „Nein.“

Asmin Ibrahim ist eine anziehende, gepflegte Frau. Sie lächelt oft und herzlich. Aber eine Traurigkeit, sogar Bitterkeit, liegt hinter jedem Lächeln. „Eine Scheidung kommt nicht infrage. In meiner Generation lässt man sich nicht einfach scheiden. Ich muss auch an das Wohlergehen meiner Kinder denken. Außerdem hätte ich es sehr schwer, einen neuen Mann zu finden, und eine alleinstehende Frau wird nicht so respektiert wie eine verheiratete.“ Lange Pause. Dann sagt sie heftig: „Es ist nicht fair, was er tut.“

Dass Maryam Yelwa als Zweitfrau zufrieden wäre, überrascht Asmin Ibrahim nicht. „Natürlich akzeptiert sie das. Wenn du nicht verheiratet bist, dann möchtest du eben irgendwo hingehören. Und sobald du älter bist als 35, hast du keine Chance mehr, einen Junggesellen zu finden. Es bleibt ihr gar nichts anderes übrig, als sich zu bescheiden.“ Asmin Ibrahim kann die zweite Frau ihres Mannes nicht leiden. „Ich mag sie einfach nicht.“ Sie lacht freudlos. „Selbstverständlich bin ich eifersüchtig.“

In Kano wohnen auch die 29-jährige Halima Idris und ihre sechs Jahre jüngere Schwester Hadiza. Die Bankkauffrau und die Dolmetscherin leben noch bei den Eltern, einem wohlhabenden Ehepaar. „Es wäre sozial nicht akzeptabel, wenn wir als unverheiratete Frauen eigene Wohnungen hätten“, sagt Halima. Sie sind gehorsame Töchter, die sich den Normen ihrer Gesellschaft anpassen.

Beide Schwestern wünschen sich einen Ehemann und Kinder, auch wenn sie von vielen Männern keine so hohe Meinung zu haben scheinen: „Viele Männer verstehen den Islam falsch. Sie sehen uns irgendwie als Sklavinnen und glauben, dass eine Frau den Mann nicht kritisieren darf. Aber so ist das im Islam nicht gemeint“, sagt Halima, und ihre Schwester nickt. Könnten sich die beiden vorstellen, Zweitfrau eines Mannes zu sein? Allein die Frage löst schallendes, fast höhnisches Gelächter aus: „Ich würde definitiv sagen: Nein!“, stößt Halima hervor, und ihre Schwester sekundiert: „Ich auch, ich auch, ich auch, ich auch!“ So weit ich das beurteilen kann, sind die jungen Frauen noch nicht auf derlei Anfragen angewiesen.

Der 59-jährige Muhammed Liman Abukabar, Universitätsdozent für Stadtplanung, ist mit zwei Frauen verheiratet und hat 13 Kinder im Alter zwischen zwei und 30 Jahren. Beide Ehefrauen sind hoch gebildet – die eine ist ebenfalls Dozentin, die andere Bibliothekarin – und angeblich verstehen sie sich alle gut und respektieren einander. „Mein Vater hatte vier Ehefrauen. Als Heranwachsender habe ich mir geschworen, dass ich niemals polygam leben würde. Ich hatte Angst vor Streit und Rivalitäten. Aber als ich dann verheiratet war, da hatte ich Freundinnen und ging gerne alleine aus. Bis ich mich fragte: Warum tue ich das? Wenn ich nicht zufrieden bin – warum heirate ich nicht noch einmal?“

Die erste Ehefrau sei mit seiner Entscheidung zunächst nicht einverstanden gewesen: „Ich habe erkannt, dass sie fürchtete, Zuwendung und Ansehen zu verlieren, und ich habe ihr versprochen: Du wirst gar nichts verlieren.“ Jetzt leben alle gemeinsam in demselben Haus und finden das wunderbar. Sagt Muhammed Liman Abukabar.

(Dieser Text ist eine bearbeitete Passage aus dem Buch „Der unterschätzte Kontinent“ (Eichborn, 19,95 Euro). Bettina Gaus bereiste dafür 16 Länder Afrikas und traf Angehörige der Mittelschicht – jenen Teil der Bevölkerung, der in der öffentlichen Wahrnehmung des Auslands weitgehend unsichtbar bleibt zwischen Meldungen über Kriege und Katastrophen.)
Wie die Frankfurter Rundschau berichtet, gibt es auch in England unter Muslimen einen „Trend zur Polygamie“, allerdings sei diese auch Grund für immer mehr Scheidungen – wahrscheinlich von Frauen, die sich nicht damit abfinden wollen, dass ihr Mann sich eine Zweitfrau zulegt.
„Ja zum Flüchtlingsschutz“. Photo: spielart-berlin.de

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