New York. Photo: echte-demokratie-jetzt.de
In scheinbarem Widerspruch zur weltweiten Ausbreitung des Kairo-Virus steht der blog-clicks-Zähler, wenn er anzeigt, dass seit mindestens einem Monat die fortlaufenden Eintragungen zum „Kairo-Virus“ nur noch einen „visitor“ täglich haben.
Statt „Wir sind das Volk“ heißt es nun von New York ausgehend:“Wir sind 99%“, hier und da wird verlangt, die für die ganze Scheiße auf der Welt „Verantwortlichen“ (Banker) vor Gericht zu stellen, vor allem in den USA.
Die „Guy Fawkes“-Maske, auch „Vendetta-Maske“ genannt – hinter der sich nicht wenige Protestierer verbergen, entbirgt gleichzeitig die Spanne der Forderungen: von der Statistik – und der Wahrscheinlichkeit – bis hin zum konkreten Individuum (mit seiner ganzen „Schuld“ und „Sühne“). Da hallt noch der gute alte Humanismus nach – bevor er im Digitalen verrauscht.
Die Sprecher der „Occupy Wall-Street-Crowds“ (-Mengen, per Facebook zusammengetrommelt) könnten aus dem taz-Ausbildungsprogramm stammen, und tatsächlich gibt es in Frankfurt/Main, dem Zentrum der Deutsch-Banken, ihrem Hauptzeltplatz, auch schon ein „Taz-Tent“, sowie auch einen neuen blog für den taz-Praktikanten live und vor Ort.
Guy Fawkes, erklärte mir der taz-Blogwart Broeckers, war ein Freiheitskämpfer bzw. Terrorist, der hingerichtet wurde, weil er am 5. November 1605 das englische Parlament in die Luft sprengen wollte. Im Gedenken an das Scheitern dieses Attentats feiert man seitdem an diesem „Guy Fawkes Day“ eine „Bonfire Night“, auch die taz werde in ihrem Café ihm zu ehren eine Party veranstalten, wo der verfilmte Comic über Guy Fawkes „V wie Vendetta“ gezeigt wird. Noch heute sage man in England: „Guy Fawkes war der einzige, der jemals das Parlament mit ehrlichen Absichten betrat“.
Guy Fawkes‘ Comicgesicht wurde dann als Maske bekannt, mit der die Hackergruppe „Anonymous“ auftrat. Das Internet-Forum “gulli.com” legte in einem Bericht Anfang Oktober aus New York nahe, dass die weltweite Aktion „Occupy Wall Street“ auf eine „Anonymous“-Initiative zurückgeht:
“Die Operation „Occupy Wall Street“ des Hacker- und Aktivistenkollektivs Anonymous hält weiter an. Erneut haben Unbekannte private Daten von berühmten Bankern des amerikanischen Finanzviertels ins Netz gestellt. Die Angreifer bezeichnen den Schritt als Vergeltungsaktion für die Verhaftung von Demonstranten in New York. Betroffen ist der Chef der New York-Community Bank, Joseph Ficalora sowie Kerry Killinger, der die Washington Mutual Bank bis zu ihrem Zusammenbruch 2008 leitete. Wie “Golem” berichtet, stellte die Anonymous-Splittergruppe C@b!n Cr3w die Informationen der beiden Personen ins Netz. Betroffenen sind Mobiltelefonnummern, Anschriften und Bezüge. Allerdings sind Daten aus dem Leak zum Teil zehn Jahre alt, was ihre Aktualität infrage stellt.
Anonymous droht für jede Verhaftung eines Demonstranten in der Wall Street weitere Daten über bedeutende Personen der New Yorker Finanzwelt zu veröffentlichen. Dort wurden bei Protesten bereits zu Beginn der Aktion am 2. September rund 700 US-Bürger von der Exekutive festgesetzt. Von Polizeigewalt war zu diesem Zeitpunkt keine Rede.
Die C@b!n Cr3w machte erst kürzlich auf sich aufmerksam, als sie die persönlichen Daten eines Polizisten publizierte, der eine Demonstrantin mit Pfefferspray attackiert haben soll. Der Chef von JP Morgan Chase und der von Goldman-Sachs zählen auch bereits zu den Opfern der Hacktivisten.“
Der „stern“ erklärte seinen Lesern:
„In Deutschland sah man Fawkes‘ Konterfei nicht nur bei Anti-Scientology-Demonstrationen, sondern auch 2009 bei den Protesten gegen die Netzsperren der damaligen Familien- und Innenminister Ursula von der Leyen. Und auch mancher schwäbischer Wutbürger demonstrierte maskiert gegen „Stuttgart 21″. Das Accessoire des Anarchismus gibt es mittlerweile für wenig Geld im Internet zu kaufen.“
Wikipedia ergänzte:
„Guy Fawkes war viele Jahre lang Soldat und erlangte dabei Kenntnisse im Umgang mit Sprengstoff. 1593 verdingte er sich in der Armee des Erzherzogs Albrecht VII. von Österreich in den Niederlanden und kämpfte dort als Katholik gegen die Protestanten im sogenannten Achtzigjährigen Krieg. 1596 war er an der Belagerung und Einnahme von Calais beteiligt. Bis 1602 war er zwar nicht über den Rang eines Fähnrichs hinausgekommen, war aber als mutiger und entschlossener Soldat ausgezeichnet worden. Guy Fawkes, Robert Catesby und seine Mitverschwörer versuchten am 5. November 1605, das englische Parlament im Palast von Westminster in London in die Luft zu sprengen. Der Grund hierzu lag in der Verfolgung, der Angehörige der katholischen Kirche ausgesetzt waren. Für das Attentat hatte er bereits 36 Fässer mit mehr als zwei Tonnen Schwarzpulver in den Kellern der Gebäude deponiert (daher auch die englische Bezeichnung „Gunpowder Plot“ für das Attentat), die er zu diesem Zweck als Lagerraum gemietet hatte. Fawkes plante, mit dem Anschlag am Tag der Parlamentseröffnung im House of Lords König Jakob I. samt Familie, alle Parlamentsmitglieder, alle Bischöfe des Landes und den Großteil des Hochadels zu töten sowie anschließend einige politische Gefangene aus dem Tower von London zu befreien.“
Im Pynchonwiki heißt es im Index von Thomas Pynchons letzten Roman „Gegen den Tag“ unter „D“ wie „Thomas Derrick“:
„Derrick was a convicted rapist who was pardoned on condition that he become an executioner. He invented the gallows that bears his name. Derrick (allegedly) executed over 3,000 people, including the aristocrat who pardoned him and (perhaps) Guy Fawkes.“
Über Pynchons Roman „Against the Day“ (contre-jour/Gegenlicht/ man kann den Titel aber auch als eingelöstes Versprechen verstehen, tiefer als der Tag zu denken und gegen die Veralltäglichung zu handeln) schrieb der gestern morgen verstorbene Neubegründer der Kulturwissenschaft nach 89 an der Humboldt-Universität: Friedrich Kittler 2007 – in einer Pynchon gewidmeten Ausgabe der Zeitschrift „Literaturen“:
Der nach wie vor medial unbehelligt lebende Autor habe mit „Gegen den Tag“, indem er sich auf die Göttinger Mathematiker um 1900, namentlich auf Hilbert, Rieman und die junge Sonja Kowalewskaja (Yasmeen Halfcourt im Roman genannt) einließ, d.h. auf ihre mathematischen Träumereien, ein „Wunder“ vollbracht. Nämlich, „dass ein Romancier 2000 bis 2006 sich wirklich der Zeit vor dem Ersten Weltkrieg anverwandeln kann.“
So entgegnete dort damals das „Fräulein Halfcourt“ dem Professor – Hilbert – im Göttinger Institut für Mathematik: „Herr Geheimrat, könnte es nicht sein, dass physikalische Eigenschaften des Universums sich bei uns Mathematikern in diesen Nullstellen der Zeta-Funktion anmelden?“
Kittler merkte dazu an:
„Das ist, denke ich, der Grundgedanke des Romans; dass Dinge, die es gibt, sich als Mathematik melden; dass aber die Mathematiker, wie alle professionell Deformierten, taub dafür sind, dass sie in der Mathematik, in ihren Erleuchtungen, neuen mathematischen Einsichten, der Welt ins Angesicht blicken. In jedem Handy, in jedem Fernseher, in jedem Radio, überall begegnet uns das physikalische Korrelat eines Satzes, den ein großer Mathematiker erträumt hat, ohne damals überhaupt Existenzaussagen zu wagen.“
Pynchon habe dagegen mit seinem bisher dicksten Buch „Gegen den Tag“ bewiesen (es braucht Tage, um es gründlich durch zu lesen):
„dass ein Roman also nicht bloß eine simulierte Zeitreise ist, sondern nach so vielen gelesenen Büchern und Quellen und Wissenschaften mehr ist als ein blöder historischer Zeitroman – vielmehr eine Anstrengung des Denkens, in die Zeit zurückzukommen, als Anarchie noch war.
Und vielleicht die Hoffnung zu haben, dass, wenn man die Zeit damals so gut rekonstruiert samt ihren Wundern, die gar nicht eingetreten sind, die aber doch theoretisch, physikalisch, mathematisch hätten sein können, dass dann eine andere Zeit und Geschichte uns gegönnt wäre, in der die Wünsche wenigstens adressierbar, wenn nicht erfüllbar sind, immer. Dass es sich lohnt zu schreiben, anstatt Literatur zu verbrechen.“
Und mit „schreiben“ meinten Friedrich Kittler (und seine „Kittler-Jungs, deren blogs zunächst die „Berlin“-Seiten der FAZ waren) nicht zuletzt „programmieren“, also handeln – die Tat, die u.a. aus dem Kampf der Mathematiker mit den Primzahlen bestand und immer noch besteht:
„Der Beweis für Riemanns Vermutung steht bis heute aus…, schreibt Kittler 2007. Es gibt also noch was zu tun. Aber um was geht es dabei überhaupt? Riemann hatte 1859 die Hypothese aufgestellt, „dass man die Primzahlen viel schärfer in ihrer Verteilung angeben kann, in dem man die nach ihm bereits benannte „Zeta-Funktion“ benutzt – und dann vermutet, dass alle nicht-trivialen Nullstellen der komplexen Zeta-Funktion beim Real-Anteil von 0,5 liegen.“
Kittler wird an dieser Stelle persönlich – quasi physikalisch:
„Ich gestehe, dass ich als Computergrafiker die trivialen Nullstellen der Zeta-Funktion viel mehr geliebt habe, die sind aufregend, grafisch. Aber es geht um die nicht-trivialen.“ (bei Riemann, bei Sonja Kowalewskaja – nach der man übrigens einen hochdotierten Berliner Mathematikerpreis benannt hat, den derzeit die russische Mathematikerin Olga Holtz an der TU „verdenkt“ – und in Pynchons Roman).
Warum ist die Riemannsche Vermutung über die Primzahlenverteilung nun aber so wichtig?
Laut Kittler ist „seit Gauss, seit etwa 1800, klar, dass die Anzahl der Primzahlen von 2 bis x etwa der Gleichung gehorcht: x durch natürlicher Logarithmus von x; das läßt sich mit einem Integral analytisch angeben. Aber natürlich kann man auf diese Weise noch nicht auf einzelne Primzahlen, das Gegenteil aller mathematischen Ordnung, präzise zugreifen – was wir doch [alle, 99%?] wollen, weil wir alle fremden Codes knacken wollen, weil wir doch die ‚National Security Agency‘ sind und weil wir selbst die Einzigen sein wollen, die nicht geknackt werden können. Das ist schließlich das Geheimnis der amerikanischen Informationsmacht. Deshalb sind die Primzahlen kein harmloses Spiel mehr, sondern seit 70 Jahren das wichtigste mathematische ‚Tool‘ der Kryptografie.“
Einer der Schüler, nicht von Riemann, sondern von Pynchon und Kittler, Stefan Heidenreich, hat heute den Nachruf auf Friedrich Kittler in der taz geschrieben. Er, wie auch der ehemalige Kittler-Assistent Peter Berz, hatten ihn bis zuletzt immer wieder im Krankenhaus besucht. Heidenreich hörte so gewissermaßen die letzten Worte des Meisters: „Mehr Licht“, flüsterte er, „reden Sie über Theorie“. Im Nachruf faßt er nun dessen theoretische Leistung zusammen:
„Die sogenannte deutsche Medientheorie, von der in letzter Zeit im Netz so oft die Rede ist, geht wesentlich auf das Werk Kittlers zurück. Doch er selbst ist dabei nicht stehen geblieben. 1995 stellte er im Nachwort zur dritten Auflage seines Buches „Aufschreibesysteme“ fest: „Mediengeschichte wäre nur verkappte Nostalgie, wenn sie auf dem Umweg über Schreibzeuge und Nachrichtentechniken wieder bei Dichterreliquien und Gedanken ankäme. Sie steht und fällt vielmehr mit der Heideggerschen Prämisse, dass Techniken keine bloßen Werkzeuge sind.“ Nirgends zeigt sich das besser als in unserer vom Internet geprägten Zeit. Wenig hätte gefehlt, um die Theorie technischer Medien für die Gegenwart des Netzes fruchtbar zu machen. Doch Kittlers Befürchtung, dass sein Ansatz als Geschichte ins Nostalgische kippen könnte, bewahrheitete sich.“
Kittler selbst gelang es jedoch, seinem eigenen „Ansatz“ zu entkommen, meint Heidenreich, wenn ich ihn richtig verstanden habe – indem er nach einem neuen „Ansatz“ suchte:
„Er sagte sich von seiner zum akademischen Mainstream gewordenen Schule los, um sich einer neuen Wahrheit zuzuwenden: den Griechen, der Liebe, der Musik und der Mathematik. Sosehr er damit Befremden noch unter seinen eigenen Schülern hervorrief, so konsequent dachte er sich selbst damit an einen Ursprung und ein Ende.“ So weit Heidenreich, der Kittler eingangs die angeblich letzten Worte Goethes in den Mund gelegt hatte – womit jener am Ende seiner „Technik-Diskurse“ und seiner Griechenland-Expeditionen dann doch – nolstalgisch wie alle – „wieder bei Dichterreliquien und Gedanken“ angekommen wäre. Das liegt sicher nicht zuletzt daran, dass Kittler schon mit acht Jahren den ganzen Faust auswendig kannte/konnte.
Nebenbeibemerkt: Auch die ganzen Anarchisten und Bombenleger in Pynchons Roman „Gegen den Tag“, so sie die Zeit überlebt haben – zwischen der Chicagoer Welltausstellung und dem Ersten Weltkrieg, da laut Kittler die Anarchie noch war – werden am Ende lyrisch – nostalgisch: Sie heiraten und kriegen Kinder, die sie auf kreative Weise groß ziehen (Ich habe den Roman deswegen gerade einer schwangeren taz-Anarchistin nahegelegt).
In einem Text über den „Anarchismus, der war“ und der vielleicht wieder sein wird, hatte Thomas Pynchon bereits 1984 (!) geäußert:
“Is it O.K. to Be a Luddit?” fragte er sich in der New York Times Book Review. Ludditen – so nannten sich ab 1811 Banden von maskierten Männern, die nächtens in England Maschinen der Textilindustrie zerstörten. Der Name geht auf Ned Lud zurück, der 1799 in Leicestershire “in einem Anfall rasender Wut”, wie es im Oxford Dictionary heißt, zwei Maschinen, mit denen Strumpfwaren gestrickt wurden, zerstörte. Die Einführung der Maschinen beschleunigte den Niedergang des Handwerkertums und die allgemeine Arbeitslosigkeit. Die offizielle Geschichtsschreibung bezeichnet die Ludditen als ebenso fortschrittsfeindliche wie hoffnungslose “Maschinenstürmer”. Marx ging dem gegenüber davon aus, dass die “Totengräber” des Kapitalismus im Schosse desselben heranwachsen: “Sonst wären alle Sprengversuche Donquichotterie”.
Von den “Ludditen” der neueren Zeit erfuhr man bereits 1953 in dem Roman “Das höllische System” von Kurt Vonnegut, in dem es um die Massenarbeitslosigkeit produzierenden Folgen der Computerisierung ging, die den Menschen nur noch die Alternative Militär oder ABM läßt. Schon bald sind alle Sicherheitseinrichtungen und -gesetze gegen Sabotage und Terror gerichtet. Trotzdem organisieren sich die unzufriedenen Deklassierten im Untergrund, sie werden von immer mehr “Aussteigern” unterstützt. Irgendwann schlagen sie los, d.h. sie sprengen alle möglichen Regierungsgebäude und Fabriken in die Luft, wobei es ihnen vor allem um den EPICAC-Zentralcomputer in Los Alamos geht. Ihr Aufstand scheitert jedoch. Nicht zuletzt deswegen, weil die Massen nur daran interessiert sind, wieder an “ihren” geliebten Maschinen zu arbeiten. Bevor die Rädelsführer hingerichtet werden, sagt einer, von Neumann: “Dies ist nicht das Ende, wissen Sie.”
Thomas Pynchons Text in der “Book Review” greift dieses vorläufige “Ende” 1984 wieder auf: “Wir leben jetzt, so wird uns gesagt, im Computer-Zeitalter. Wie steht es um das Gespür der Ludditen? Werden Zentraleinheiten dieselbe feindliche Aufmerksamkeit auf sich ziehen wie einst die Webmaschinen? Ich bezweifle es sehr…Aber wenn die Kurven der Erforschung und Entwicklung von künstlicher Intelligenz, Robotern und der Molekularbiologie konvergieren. Jungejunge! Es wird unglaublich und nicht vorherzusagen sein, und selbst die höchsten Tiere wird es, so wollen wir demütig hoffen, die Beine wegschlagen. Es ist bestimmt etwas, worauf sich alle guten Ludditen freuen dürfen, wenn Gott will, dass wir so lange leben sollten.”
Aber die andere Seite ist auch nicht auf den Kopf gefallen, wie man so sagt – oder wie Kittler in seinem Pynchon-Text in der „Literaturen“ schreibt:
„Wir wollen doch alle fremden Codes knacken, weil wir doch die ‚National Security Agency‘ sind und weil wir selbst die Einzigen sein wollen, die nicht geknackt werden können.“
Der FAZ-Herausgeber Frank Schirrmacher, der inzwischen so links denkt, dass er nicht mehr in der taz als Redakteur anfangen könnte, wie taz-Herausgeber unken, schreibt heute über den Bundesinnenminister Friedrich, der den „Trojaner-Angriff“ seiner Staatssicherheitsorgane auf friedliche Bürger gegenüber der Justiz verteidigte: „Die Meinung einer Regierung, sei halt manchmal anders als die Meinung eines Gerichts. Weiß er noch, was er sagt?“ fragt sich Schirrmacher.
„Man erlebt hier politischen Kontrollverlust angesichts komplexer technologischer Systeme in Echtzeit. Es ist ein Lehrstück. Friedrich kann nicht zugeben, dass die Komplexität digitaler Systeme den Staat ebenso kalt erwischt, wie sie schon vorher die Finanzmärkte erwischt hat. „Wir vertrauten Computern“, hatte Alan Greenspan während seiner denkwürdigen Anhörung vor dem amerikanischen Senat nach der Lehman-Pleite gesagt.
Das tut auch Friedrich. Offenbar setzt er auf die Überforderung der Öffentlichkeit. Anders ist sein Satz nicht zu erklären, dass er nicht wisse, was für ein Trojaner dem Chaos Computer Club zugespielt wurde. Die Wahrheit ist, dass der Code des Spionageprogramms seit dem vorvergangenen Samstag im Netz steht und die Sicherheitsbehörden wenig später wussten, worum es sich handelt. Schon diese Behauptung allein zeigt, dass der Innenminister entweder nicht weiß, wovon er redet, oder dass er ein hohes Risiko eingeht.
Auf dem Gebiet der Überwachungssoftware führt Friedrich einen Angriffskrieg aus dem vergangenen Jahrhundert. Dabei ist sein Vorwurf an den Chaos Computer Club, dieser habe mit seiner Enthüllung, dass der Staatstrojaner gesetzwidrig programmiert sei, nichts als „Chaos“ verbreitet, alles andere als witzig. Denn Hacker haben gezeigt, dass zumindest bei Landesbehörden die Produktion amtlicher Spionageprogramme außer Kontrolle geraten ist. Es ist skandalös genug, dass eine Firma, deren Vorläuferin wegen Bestechung von Zollbeamten verurteilt wurde, immer noch für viele Millionen Euro die Instrumente für die heikelste aller Überwachungsaufgaben herstellen darf.
Nicht weniger skandalös ist das Niveau der Software, wie mittlerweile alle Fachleute bestätigen. Bis heute ist es ein Rätsel, ob sich die Firma selbst eine Hintertür in den Code offenhielt. Völlig unklar ist auch, ob die Beamten überhaupt wussten, was man ihnen an die Hand gab – alles Aufgaben für einen Innenminister, der nicht nur das Recht, sondern auch die Freiheit zu schützen hat.“
In einem der heutigen FAZ-Nachrufe auf Friedrich Kittler erinnert die Kittler-Schülerin Rose-Marie Gropp daran:
Ach . . . „Die deutsche Dichtung hebt an mit einem Seufzer“, so beginnt seine noch immer uneingeholte Habilitationsschrift „Aufschreibesysteme 1800/1900“, auch damit arbeiten wir alle weiter. (…)
Irgendwann einmal hat er mir seine Mitschrift einer „Begegnung mit Jacques Lacan“, wie er das Typoskript selbst überschrieb, gegeben, vom 26. Januar 1975, ich glaube in Straßburg. Lacans, des französischen Häretikers der Psychoanalyse und Philosophie, komplizierte Ausführungen, die vom Ursprung des Begehrens handeln, das – weiß Gott! – mehr und anderes ist als blödes Habenwollen, gipfeln in Kittlers Notat dieser Sitzung so, wie er selbst Lacans Suada ins Deutsche übersetzte: „Man schließt den Kreis, wie man kann. Darum hat Freud übrigens seine ,Traumdeutung‘ mit der Formel begonnen, die Sie kennen: ,Wenn ich die Götter nicht bewegen kann, nehme ich den Weg‘ – worüber? ,über die Hölle‘, eben. Wenn es irgendetwas gibt, was Freud offenkundig macht, so dies, dass aus dem Unbewussten resultiert, dass das Begehren des Menschen die Hölle ist und dass man nur so etwas begreifen kann. Darum gibt es keine Religion, die ihr nicht einen Platz einräumte. Die Hölle nicht zu begehren ist eine Form des Widerstands.“ Friedrich Kittler hat seinen eigenen Kreis geschlossen, und er hat seinen Widerstand geleistet…“
In einem weiteren FAZ-Nachruf auf Friedrich Kittler – von Jürgen Kaube – heißt es:
„Sterben hieß, hört man, für die Römer „ad plures ire“, zu den Meisten gehen.“ (den 99%?)
„…Lebend gehörte er jedoch „auch in der sogenannten Medienwissenschaft zu den Wenigsten. Nicht nur, weil für ihn schon das griechische Alphabet und die Mathematik zu ihrem Gegenstandsbezirk gehörten. Für Kittler waren „Medien“ überhaupt kein eigener Gegenstand, sondern eine, und zwar die entscheidende Dimension jeglicher Kultur. (…) Zu den Wenigsten gehörte er nämlich auch insofern, als er stets in Dinge verliebt war, die er sich erst mühsam aneignen musste und auf seltsamen Wegen anverwandelte: Altphilologie, Musiktheorie, Algebra.“
Aber: „Kittler hatte Schüler, und zwar eigensinnige, deren Produktion heute Pflichtlektüre für den ist, der beispielsweise Computerspiele, das wissenschaftliche Zeichnen, die Geschichte der Kybernetik, die Begeisterung der Romantik für den griechischen Befreiungskrieg oder das Radio als Gerät und Sendeverfahren verstehen will.“
Den Trost müssen wir jedoch heute woanders suchen. Z.B. in „La Tunisie“, das neue Tunesien, das, wenn man dem Madrider taz-Korrespondenten Reiner Wandler in seinem heutigen Bericht folgt, „weiblich ist“:
„Ich heulte nicht. Ich schaute dem Polizisten einfach in die Augen“, erinnert sich Marwa Rekik an den Tag, als sie auf der Hauptstraße von Tunis, der Avenue Habib Bourguiba, zuerst zusammengeschlagen, dann an den Haaren mehrere hundert Meter bis zu einem Mannschaftswagen geschleift wurde, wo sie festgehalten und bedroht wurde. Blutüberströmt saß die Reporterin des oppositionellen Internetradios Kalima da. Ein Polizist setzte sich neben die zierliche Frau und beschimpfte sie. „Dann wollte er immer wieder wissen, warum ich auf die Demos gehe und für Kalima berichte“, erinnert sich Rekik. „Weil ich Tunesien liebe, weil mein Tunesien lebt und eures tot ist. Ich verachte euch und mit euch das ganze Regime“, gab sie zur Antwort, starr, gefasst, ohne eine Gefühlsregung zu zeigen. Schließlich wurde sie freigelassen, die Platzwunde am Kopf musste mit fünf Stichen genäht werden.
Das war im Mai, vier Monate nach dem Sturz von Präsident Zine el-Abidine Ben Ali. Die Demonstration führte schließlich zum Rücktritt der Übergangsregierung aus alten Parteigängern der Diktatur. „Es war das einzige Mal, dass ich in all den Jahren von der Polizei so angegangen worden bin“, erinnert sich die junge Frau. Sie sitzt im Straßencafé neben dem Stadttheater der Hauptstadt und zieht wenige Tage vor den ersten freien Wahlen Resümee.
Marwa Rekik ist 25 Jahre alt. Sie gehört damit zu der Generation, die fast ihr ganzes Leben unter der Diktatur von Ben Ali verbracht hat. Und sie gehört zu denen, die seiner Herrschaft nach 23 Jahren, am 14. Januar 2011, ein Ende bereitete. „Es war die Revolution der jungen Menschen, und es war die Revolution der jungen Frauen“, sagt Rekik selbstsicher. Den vorsichtigen Blick über die Schulter hat sie sich abgewöhnt. Zwar sei noch immer Zivilpolizei im Stadtzentrum unterwegs, aber die Angst ist weg.
„Ich habe schon auf dem Gymnasium meinen Respekt vor der Diktatur verloren“, erinnert sich Rekik. Das System war damals überall präsent. Als Schülerin in Fax, der zweitgrößten Stadt Tunesiens, engagierte sie sich beim Schulradio und wurde schließlich dessen Chefredakteurin. So stand ihr „die große Ehre“ zu, am 7. November, dem Jahrestag der Machtübernahme von Ben Ali, die vom Bildungsministerium verfasste Grußbotschaft an den Präsidenten im Namen der Schüler über die Lautsprecheranlage zu verlesen und patriotische Gesänge abzuspielen, berichtet die junge Frau. „Ich hielt das nicht aus.“ Die ersten Jahre meldete sie sich einfach krank. Im Abiturjahr dann weigerte sie sich und sprach offen aus, was sie vom Regime hielt. Der Direktor war entsetzt. „So redet man nicht“, schimpfte er und gab ihr den Ratschlag, „meine Haltung zu überdenken“.
Rekik ließ sich nicht irritieren und ging zum Studieren nach Tunis an die Filmhochschule. „Das war meine persönliche Explosion“, erinnert sie sich. Schnell bekam sie Kontakt zu der Studentengewerkschaft UGET, trat vorübergehend der geduldeten oppositionellen Demokratischen Fortschrittspartei (PDP) bei und lernte 2008 die Bürgerrechtlerin Sihem Bensidrine kennen. „Eine wirklich mutige Frau“, sagt sie über Bensidrine, Gründerin und Chefredakteurin der oppositionellen Onlinezeitung „Kalima“ und des gleichnamigen Internetradios. Rekik arbeitete fortan als Straßenreporterin für Radio Kalima.
„Die Polizei verfolgte mich auf Schritt und Tritt. Schließlich drohte man mir, dass ich meinen Hochschulabschluss nicht machen kann.“ Rekik legte eine Pause ein. Statt auf der Straße nach Themen für das Radio zu suchen, begann sie mit Dokumentarfilmen über kritische Stimmen in Tunesien und stellte die Kurzfilme auf Festivals vor. „Den letzten von drei Filmen haben wir nie fertiggestellt“, erzählt sie.
Es war Anfang Januar 2011. Mitten in die Dreharbeiten platzten die Demonstrationen gegen Ben Ali in Tunis. „Das ganze Team war nur noch auf der Straße“, erinnert sich Rekik. Als der Diktator nach Saudi-Arabien floh, kam bei Kalima plötzlich die Idee auf, den Sender auszubauen, auf UKW zu gehen. „Ich war sofort wieder dabei“, sagt Rekik.
Mittlerweile hat die Journalistin ein eigenes Programm mit einer kritischen Presseschau, in dem sie außerdem Facebookseiten vorstellt und Interviewpartner aller Couleur einlädt, „auch solche, die fest hinter dem Regime standen“. In die Parteienlandschaft will sich Rekik auch jetzt nach der Revolution und vor den Wahlen nicht einmischen. Sie sieht ihren Ort weiterhin in der Zivilgesellschaft. „Im Radio kann ich so frei reden wie sonst nirgends.“
„Es sind Frauen wie Marwa, die dieses Land so besonders machen“, ist sich Nejiba Bakhtri sicher. Die 62-jährige Sportlehrerin ist schon ihr ganzes Leben lang in der Gewerkschaft UGTT aktiv. Dort betreut sie auch jetzt nach der Pensionierung noch die Lehrer der Mittel- und Oberstufe in Tunis. „Die UGTT war einer der wenigen Freiräume im Regime“, sagt die kleine, kräftige Frau, die nach einem Ausflug in die Welt der Parteien – erst war sie bei der PDP, dann gründete sie „als engagierte Ökologin“ in der Illegalität die Grüne Partei Tunesien mit – sich wieder ganz der Gewerkschaftsarbeit widmet.
Nejiba Bakhtri und Marwa Rekik lernten sich in Rekiks Phase als Filmemacherin kennen. „Grün Orange“ heißt die kurze Reportage, die Rekik ihr gewidmet hat. Wer Bakhtri in ihrem Haus in Hammam-Lif, 20 Autominuten südlich der Hauptstadt, besucht, weiß, warum. Alles steht voller Pflanzen, die Türrahmen, die Wände und große Teile der Wohnungseinrichtung sind orange gestrichen. „Mein kleines Paradies“, sagt die geschiedene Frau stolz. Hierher zieht sie sich zurück, wenn ihr draußen alles zu viel wird. Das kommt oft vor. „Denn als Frau musst du ständig gegen den Machismus ankämpfen. Doch wir tunesischen Frauen sind stark und dominant“, sagt sie bei Kaffee und Zigarette am kleinen Tisch mitten in ihrem kleinen botanischen Innenhof.
Für Marwa Rekik ist Nejiba Bakhtri ein Vorbild, so etwas wie die politische Mutter. Bakhtri gehört zu der Generation, die nach der Unabhängigkeit ihres Landes 1956 aufgewachsen ist. „Wir waren die erste Generation von Frauen, die freien Zugang zu Schulen und Universitäten hatte“, sagt sie. Der erste Präsident des freien Tunesiens, Habib Bourguiba, hatte Gesetze erlassen, die die Frau rechtlich dem Mann gleichstellte. Ein Novum in der arabischen Welt. In den Nachbarländern Algerien und Marokko ist dies bis heute nicht so.
„Aber auch in Tunesien brauchen wir noch mindestens zwei Generationen, bis die Frau tatsächlich völlig gleichgestellt ist, vielleicht sogar Präsidentin werden kann“, sagt Bakhtri. Bei den kommenden Wahlen machen die Frauen einen weiteren wichtigen Schritt. Alle Parteien sind per Gesetz angehalten, paritätische Listen aufzustellen.
Dennoch ist Bakhtri angespannt. Sie hat wie viele ihrer Geschlechtsgenossinnen Angst, es könne zurückgehen. Der Grund ist der große Zulauf, den die islamistische Partei Ennahda genießt. Sie wird bei den Wahlen wohl am besten abschneiden. 30 Prozent, 40 Prozent, keiner weiß es zu sagen. Meinungsumfragen sind in Tunesien während des Wahlkampfs nicht erlaubt. Zwar reden die Islamisten Ennahdas von den Rechten der Frauen, von Gleichstellung und Toleranz, doch wie viele befürchtet auch die Gewerkschafterin Bakhtri, dies sei „nur ein doppelter Diskurs, um Stimmen zu gewinnen und die Menschen zu beruhigen“.
„Selbst in meinen Kreisen, in der Gewerkschaft und in den fortschrittlichen Parteien herrscht der doppelte Diskurs. Offiziell sind alle für die Gleichberechtigung, aber mit der Realität hat das nur wenig zu tun“, sagt sie. Deshalb könne eine traditionellere, islamistische Politik durchaus auf Zustimmung stoßen. „Doch wir sind wachsam, wir werden dagegenhalten“, sagt Bakhtri selbstsicher.
„Die Islamisten sagen immer wieder, dass das Gesetz der persönlichen Freiheiten, das die Frau gleichstellt, nicht heilig sei“, sagt auch Maya Jribi, Generalsekretärin der PDP, jener Partei, die einst Rekik und Bakhtri als Freiraum diente. „Wir werden es nicht zulassen, dass es verändert wird. Unter anderem deshalb bin ich Kandidatin für die verfassunggebende Versammlung“, fügt Jribi hinzu. Sie ist die einzige Frau, die in Tunesien einer Partei vorsteht. Im gesamten Nordafrika gibt es nur eine weitere, Louisa Hanoune von der Arbeiterpartei in Algerien.
Jribi ist zuversichtlich: „Wer sich umschaut, sieht, wir leben in der Ära der Frau. Nicht nur in Tunesien, auch in anderen Ländern spielt die Frau bei den Protesten eine wichtige Rolle. Selbst im Jemen. Dort sind sie verschleiert, aber gehen auf die Straße“, sagt die 51-Jährige. Ein weiterer Beweis seien die Regierungschefinnen überall auf der Welt. Sie selbst wird es vorerst nicht so weit bringen. Selbst wenn der PDP so ein wichtiges Amt oder gar das des Präsidenten zufallen würde, hätte der Parteigründer Vorrang.
Dass die Männer auch in Jribis Partei noch immer mehrheitlich die wichtigen Ämter besetzen und nur 3 von insgesamt 33 regionalen Kandidaturen der PDP von Frauen angeführt werden, ist für Jribi „normal“. „Das ist ein Abbild der Realität. Die Diktatur hat alle unterdrückt, aber die Frauen ein Stück mehr. Die Frau steht so in der Politik Tunesiens mehrheitlich an zweiter Stelle“, sagt Jribi. „Das ist übrigens nicht nur in der arabischen Welt so“, gibt sie zum Abschied zu bedenken.
Aus Algerien kommend erklärte dazu der diesjährige Friedenspreisträger des deutschen Buchhandels Boualem Sansal:
„Im Jahr 2000 wurde hier meine Landsfrau Assia Djebar geehrt, die viel für die Durchsetzung des eigentlich selbstverständlichen Gedankens getan hat, dass auch bei uns in den arabisch-muslimischen Ländern die Frau ein freies Wesen ist, und dass es ohne Frauen im Vollbesitz ihrer Freiheit keine gerechte Welt geben kann, sondern nur eine kranke, lächerliche und gehässige Welt, die ihr Dahinsterben nicht wahrnimmt. Ich kann hier sagen, dass ihr Kampf Früchte getragen hat: Echter Widerstand, also ein Widerstand voller Würde und Zähigkeit, wird in Algerien heute hauptsächlich von Frauen geleistet.
Während des Bürgerkriegs in den neunziger Jahren, dem schwarzen Jahrzehnt, wie wir jene Zeit nennen, waren Frauen eine bevorzugte Zielscheibe der islamistischen Horden, aber zugleich sah das andere Lager, also die Machthaber und ihre Klientel, in ihnen die Wurzel all unserer andauernden Übel und suchte sie mit aller Kraft des Gesetzes und der Propaganda zum Schweigen zu bringen. Die Frauen aber haben großartigen Widerstand geleistet, und mit ihrem Bemühen, einen permanent schwierigen Alltag zu bewältigen, bauen sie unsere Zukunft auf. Und überhaupt sind sie wie stets unsere letzte Zuflucht.“
Aus „Griechenland“ (F.Kittler) meldet die taz von morgen:
„Mit dem größten Streik seit vielen Jahren habe mehrere zehntausend Beschäftigte in Griechenland das öffentliche Leben lahmgelegt. Zum Auftakt ihres zweitägigen Generalstreiks gegen das Sparprogramm der Regierung haben Arbeiter und Angestellte in Griechenland für weitgehenden Stillstand im öffentlichen Leben gesorgt.
Der Flugverkehr kam am Mittwochvormittag komplett zum Erliegen. Auch mehrere Dutzend Flüge aus und nach Deutschland wurden verschoben, tausende Reisende waren betroffen. Neben dem griechischen Luftverkehr wurden Ministerien und staatliche Unternehmen sowie viele Banken, Apotheken, Tankstellen und Bäckereien bestreikt. Schulen, Geschäfte und Praxen waren geschlossen, der Nahverkehr litt unter Beeinträchtigungen.“
Die Süddeutsche Zeitung ist noch aktueller – was die Berichterstattung über den „griechischen Befreiungskrieg“ angeht:
„Es ist die Rede vom „größten Streik seit Jahrzehnten“, von der „Mutter aller Streiks“. Premier Panpandreou warnt vor einem „Kriegszustand“. Auf dem zentralen Platz vor dem Parlament in Athen versammeln sich mehr als 100.000 Menschen, zunächst verlaufen die Demonstrationen friedlich. Doch dann liefern sich mehr als hundert Vermummte Auseinandersetzungen mit der Polizei, sie schleudern mehrere Brandsätze auf die Einsatzkräfte. Mit Hämmern und Brechstangen schlagen die Demonstranten auf Gebäude ein, abgebrochene Marmorstücke werfen sie auf die Polizisten.
Die Beamten setzen Tränengas und Blendgranaten ein, die Demonstranten pfeifen die Randalierer aus. Über dem zentralen Syntagma-Platz hängt dicker Rauch, die Stimmung ist aufgeheizt, doch die Lage beruhigt sich wieder. Auch in Saloniki, der zweitgrößten Stadt des Landes, werden die Schaufenster von mehreren Läden eingeworfen, die trotz des Streiks geöffnet haben.
Zu Massendemonstrationen kommt es auch in anderen Städten: In Thessaloniki gehen 15.000 Menschen auf die Straße, in Patras 20.000.
„Wir haben die Grenzen unserer Geduld erreicht, und, was noch schlimmer ist, es gibt keinen Schimmer Hoffnung“, zitiert das Wall Street Journal (!) einen Sprecher der Gewerkschaft GSEE. „Wir wollen eine starke Botschaft senden, dass der drakonische Sparkurs eine Katastrophe für Griechenland ist.“
Der Grund für die Wut: Am Donnerstag wird das Parlament erneut über die radikale Sparpolitik entscheiden und über einen weitreichenden Gesetzentwurf des Finanzministers abstimmen. Der sieht unter anderem massive Einschnitte für die Griechen vor.“
Aus Spanien meldet die Junge Welt:
„Seit der Großdemonstration am vergangenen Samstag halten Aktivisten der Bewegung der »Empörten« im Zentrum der spanischen Hauptstadt das bislang leerstehende Hotel »Madrid« besetzt (Foto). Ziel der rund 100 Menschen ist es, das Haus in unmittelbarer Nähe der Puerta del Sol zu renovieren, damit dort obdachlose Familien leben können. Das Gebäude gehörte ursprünglich der auf Luxusimmobilien spezialisierten Immobilienfirma Monteverde, die 2010 Konkurs angemeldet hatte.
Auch in Barcelona hat am Dienstag eine Hausbesetzung fünf obdachlosen Familien eine neue Wohnung verschafft, die ihre bisherige Bleibe aufgrund von durch Banken veranlaßte Zwangsräumungen verloren hatten. Unterstützt werden sie in dem armen Viertel Nou Barris von mehr als 300 Empörten. Die Plattform der Hypothekenopfer (PAH) erklärte dazu: »Es gibt Millionen leere Häuser, doch sie ersticken uns mit Hypotheken und Mieten. Die Wohnung muß ein öffentliches Gut sein«.“
Aus Berlin kommt folgende Meldung, die weitergeleitet werden soll:
Vom 2. bis 7.11.2011 veranstaltet das Theater Hebbel am Ufer das Programm: CONFLICT ALT ESC – News aus Bagdad, Beirut, Jaffa und Kairo
Kurztext Programm
Gerade ist die Aufmerksamkeit für die Revolution in Kairo geringer geworden. Die Euro-Krise hat alles verdrängt, wir sind zum Alltag übergegangen. Mubarak ist nicht mehr an der Macht, aber die Herrschaftsstrukturen haben sich nicht wirklich verändert. Auch in Madrid und London hat es Aufstände gegeben: Während in London zunächst nur vom „Mob“ die Rede war, hat sich langsam ein anderer Blick darauf entwickelt, und plötzlich verweisen die Aufstände auf den Hintergrund einer übergreifend verlorenen Generation.
Eröffnet wird das Programm „Conflict Alt Esc“ mit der Inszenierung „Irakese Geesten/Irakische Geister“ von Mokhallad Rasem (2. und 3. Nov.). „Without the war I could not be in this show. Thanks to the war. Without the war I could not make you applaud in the end…thanks to the war.” 2006 kommt Mokhallad Rasem von Bagdad nach Brüssel. Im Gepäck hat er den Krieg, das Trauma und die Knarre Theater.
Ebenfalls am Eröffnungsabend wird der ägyptische Regisseur Tamer el Said kleine Ausschnitte aus seinem gerade entstehenden Film „In the Last Days of the City“ zeigen. 2006 begann er daran zu arbeiten, gegen Ende der Dreharbeiten, Anfang 2011, wurde die Utopie/Apokalypse des Films wahr. Im Artist Talk mit Tamer El Said und in der Präsentation des von ihm ausgewählten Filmes „Afaq“ (Infos zum Film demnächst online) von Shadi Abdel Salam (1970) geht es um das Verhältnis von Künstler und Staat.
Im Jahre 2006 kam die Premiere von Rabih Mroués „Who’s Afraid of Representation?“ beim Context-Festival im HAU heraus. Seither war die Arbeit viel auf Tour und hat sich dabei sehr verändert. Mroué ist fasziniert von den Werken westlicher Body Art und ihren Selbstverletzungen, aber in der libanesischen Gesellschaft treffen sie auf einen völlig anderen Zusammenhang (am 3. und 4. Nov.).
Laila Soliman ist eine junge Regisseurin aus Kairo, die als Dramaturgin an Stefan Kaegis „Radio Muezzin“ mitgearbeitet hat. Jetzt hat sie, schnell und rau, eine dokumentarische Serie zu den Ereignissen auf dem Tahir Platz zusammengestellt. Soliman lässt in „No Time for Art“ (am 4. und 5. Nov.) vor allem hören: Notizen aus Tagebüchern, persönliche Berichte und ein Märtyrer-Body-Count hat sie verdichtet zu einem eigenen Prozess.
„Emergency as Routine“ ist der Titel eines Film- und Literaturprogramms am 5. November, das Irit Neidhardt zusammengestellt hat. In den letzten Jahren hat sich in der arabischen Welt eine Künstlergeneration etabliert, die in die Krisen der Region hineingeboren wurde. In ihren Arbeiten befasst sie sich mit Notlagen, die weder Anfang noch Ende haben sowie mit der Surrealität ihrer Realität. Mit großer Liebe zu ihren Figuren, stoßen sie einen anhaltenden stummen Schrei aus. Emergency as Routine: Filmvorführungen von „Port of Memory“ (Kamal Aljafari) und „Everyday is a Holiday“ (Dima El-Horr), Lesung aus „Der Schlafräuber. Gharib Haifawi“ von Ibtisam Azem sowie eine Podiumsdiskussion mit den drei KünstlerInnen, die das Programm aus unterschiedlichen Blickwinkeln beleuchtet.
„I like London and Kairo: Facebook Revolten“ ist Titel eines Gesprächs, in dem am 7. November Chalid Al-Chamissi, Elias Koury und James Miller diskutieren werden, ob die Aufstände in der arabischen Welt und in Westeuropa nicht doch mehr miteinander zu tun haben als man auf den ersten Blick glaubt.
(„Conflict Alt Esc“ wird gefördert durch die Bundeszentrale für politische Bildung und das Goethe-Institut)
Anonymouslogo. Photo: gulli.com