vonHelmut Höge 02.05.2011

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In Berlin wurde der Kairo-Virus „Heraus zum 1.Mai“ nur von einigen linken Gruppen beschworen, in Wien diskutierte man die ganze Zeit um ihn herum. Dort fand eine internationale Konferenz „(Re)Locating Orientalism“ über den Begriff des „Orientalismus“ statt, wie ihn Edward Said in abwertendem Sinne für die westliche Orientforschung quasi durchsetzte. (*)

„Wie emanzipiert man sich von Edward Said?“ Unter dieser Frage wurde dort diskutiert – folgt man dem FAZ-Autor in seinem heutigen Feuilleton-Artikel darüber.

„Durchgehend, so viel ließ sich doch schon bald feststellen, wurde das Unbehagen der Kulturen deutlich.“

Der FAZ-Autor denkt dabei nicht an Freuds Begriff vom „Unbehagen in der Kultur“ im Singular, sondern an Judith Butlers Wort vom „Unbehagen der Geschlechter“….Hätte ich doch bloß dieses ihr gleichnamiges Buch letzte Woche gelesen. Wikipedia klärte mich notdürftig auf:

Der englischsprachige Originaltitel Gender Trouble (erschienen 1990) verweist präziser auf den Ausgangspunkt, von dem aus Butler die Reproduktion von Geschlechterverhältnissen beschreibt: das Wort „gender“ lässt sich nur schwierig direkt ins Deutsche übersetzen; vielleicht etwa mit „soziales Geschlecht“. Es bezeichnet somit in der feministischen Theorie eine Geschlechtskategorie, die nicht natürlich gegeben ist, im Unterschied zum biologischen Geschlecht (im Englischen „sex“). Die Grundannahme hierbei lautet meist: „Gender“ sei eine Geschlechtsidentität, die mit dem biologischen Geschlecht nicht ursächlich in Verbindung steht (so wie der grammatikalische Artikel „die“ in dem deutschen Wort „die Tür“ nicht darauf schließen lässt, dass das Objekt Tür etwas Feminines an sich habe). Butler jedoch geht einen Schritt weiter. Sie führt aus, dass auch das „Körpergeschlecht“ („sex“) diskursiv erzeugt ist. Die Einteilung der Menschen (und der Welt) in die Zweigeschlechtlichkeit, in die Kategorien „männlich“ und „weiblich“, wäre demnach ein diskursives Konstrukt, das eine angebliche, natürlich-biologische Tatsache zum Vorwand nimmt, Herrschaft und Macht auszuüben. Dies ist ein wesentlicher Aspekt der feministischen Theorien der philosophischen Postmoderne, die im Gegensatz zum klassischen Feminismus nicht mehr für die „Rechte der Frau“ kämpfen, sondern an der Abschaffung der Geschlechterkategorien Frau/Mann arbeiten, da schon das Denken in diesen Kategorien Grundlage für die sexistische Unterdrückung sei. Diese Aufbrechung von Denkstrukturen soll gelingen, indem vermittelt wird, dass weder „das Konstrukt ‚Männer‘ ausschließlich dem männlichen Körper zukommt, noch dass die Kategorie ‚Frauen‘ nur weibliche Körper meint.“

„Zwei theoretische Grundlagen Butlers sind wichtig, um ihren Standpunkt zu verstehen:

– Zum einen hält sie sich an Michel Foucaults These, dass Sexualität und Macht deckungsgleich sind. Das heißt, durch die kulturelle Einteilung der Gesellschaft in Geschlechter wird Macht konstruiert und aufrechterhalten.

– Die zweite Grundannahme lautet: Identität ist performativ konstruiert. Das bedeutet, die Geschlechtskategorien „männlich/weiblich“ sind nicht naturgegeben, sondern werden kulturell geformt und müssen immer wieder bestätigt werden, indem ständig gemäß diesen Kategorien gehandelt wird. Wenn diese unendliche kulturelle Performanz der Geschlechtereinteilung anders gespielt werden würde, könnte die Macht gebrochen werden.“

Zufällig verbrachte ich den 1.Mai in einem türkischen Café neben einem jungen Mann, der die „Geschlechtereinteilung“ für sich anders spielte. Er war mir schon vor Jahren aufgefallen, weil er große Brüste hatte. Plötzlich hieß es, er sei jetzt eine Frau und habe auch schon seinen Namen dementsprechend verändert. Dann, dass er sich Hormonbehandlungen unterzogen habe. Zwei Mal traf ich ihn in der Straßenbahn, die auch Nachts zwischen Nordbahnhof und Warschauer Brücke verkehrt. Wir begrüßten uns jedoch beide Male nur kurz und ich lauerte auf sichtbare Zeichen seines neuen Geschlechts, fand jedoch nur Disparates. Dann erfuhr ich, dass er unter Depressionen litt. Nun sah er wieder anders aus – hatte eine Jungenfrisur, ein rosiges Gesicht und wirkte entspannt, während er die flanierenden Massen und grimmig aussehenden Polizeitruppen vor dem Café beobachtete und ein paar freundliche Worte mit mir wechselte. Meine Begleiterin, die ihn öfter traf,  bestätigte mir hernach, dass es ihm wieder besser gehe („You’re pretty as you feel,“ wie Grace Slick sang), dass ihm sein Zurückgehen wieder hin zu etwas mehr Männlichem vielleicht gut getan habe.

Auf eine gewisse Unumkehrbarkeit hat sich der englische Künstler Genesis P-Orridge in diesem Mythologem eingelassen, indem er sich man möchte sagen: systematisch – mittels Hormonen, Goldkronen, Implantaten und chirurgischen Operationen in eine Frau verwandelte, während seine Frau – Jackie Breyer – sich umgekehrt in einen Mann umbauen ließ. Sie soll diese chirurgisch-chemische Tour de Force jedoch nicht überlebt haben, wie ich kürzlich erfuhr.Wenn das stimmt, dann ist dieses Experiment der Umdrehung der Geschlechter und damit ihrer technisch bewerkstelligten (Psyche- nicht Eros-) Verschmelzung gescheitert.

Worum geht es dabei? Platon versicherte uns, dass Mann und Frau ursprünglich eins waren, aber dann gewaltsam in zwei Körpern getrennt wurden. Seitdem suchten sie verzweifelt die Vereinigung.Sie umarmten sich, konnten aber so nicht ineinander gelangen, woraufhin Zeus sich ihrer erbarmte und die Geschlechtsorgane nach vorne verlegte. Die Mikrobiologin Lynn Margulis nennt das, was seitdem mit Samen und Eizelle im Körper der Frau beim Geschlechtsverkehr mit einem Mann passiert: „Verschmelzungssex“. Mit Glück und Intensität kommen die Beteiligten dabei auch dem nahe, was Freud das „ozeanische Gefühl“ nennt, das die Ich-Begrenzung überwindet. Ferenczi sprach in diesem Zusammenhang von der Sehnsucht nach einer Rückkehr in den Mutterleib. In einem Vergleich zwischen Islam und Buddhismus schrieb Claude Lévi-Strauss:

„Wenn der Buddhismus, wie der Islam, versucht, der Maßlosigkeit der primitiven Kulte Herr zu werden, so dank der einigenden Befriedung, die dem Versprechen auf die Rückkehr in den mütterlichen Schoß innewohnt; auf diesem Umweg reintegriert er die Erotik, nachdem er sie von Raserei und Angst befreit hat. Der Islam dagegen entwickelt sich in eine männliche Richtung. Indem er die Frauen einschließt, versperrt er den Zugang zum mütterlichen Schoß: aus der Welt der Frauen hat der Mann eine verschlossene Welt gemacht. Gewiß hofft auch er, auf diese Weise zur Ruhe zu kommen; aber er versichert sich ihrer  durch Ausschlüsse: dem der Frauen aus dem gesellschaftlichen Leben und dem der Ungläubigen aus der geistigen Gemeinschaft; während der Buddhismus diese Ruhe eher als eine Verschmelzung begreift: mit der Frau, mit der Menschheit, in einer geschlechtslosen Darstellung der Göttlichkeit.“

Roland Barthes sprach über das glückliche „Paar, das sich findet“: Es ist von einem Wahn befallen  – einer wie mit Zement verbundenen “Folie à deux”:

“Wir verbringen unser Leben damit, uns von jemandem verzücken zu lassen,” versuchen mit dem anderen zu verschmelzen. Aber dann kommt “das Zusammenleben” – und dazu braucht es eine “Ethik der Distanz”, ein “Schweigen des Begehrens, Gleichgültigkeit”. Doch indem ich das “Begehren des anderen abtöte, töte ich das Begehren zu leben. Wenn mich der Körper des anderen nicht erregt oder wenn ich den anderen niemals berühren kann – wozu dann noch leben. Der Kreis der Aporie – der Auswegslosigkeit – ist damit geschlossen.”

Von Ovid ist noch eine andere Form der „Rückkehr“ überliefert – in der mythologischen Überlieferung des „Hermaphroditos“: Ursprünglich war er eine besonders in Zypern als Gottheit verehrte männliche Form der Aphrodite. Bei Ovid besitzt der Jüngling die Gesichtszüge seiner beiden Elternteile. Eine Nymphe verliebt sich in seine Erscheinung, Wikipedia schreibt über das, was dann geschah:

„Als sich Salmakis am See den Anschein gab, sich zurückzuziehen, entledigte sich der Jüngling seiner Kleidung und stieg ins Wasser des Teiches. Durch seine Nacktheit ihm noch mehr verfallen, riss sich die Nymphe, die versteckt im Gebüsch sein Auskleiden beobachtet hatte, die Kleider vom Leib und sprang zu ihm ins Wasser. Er wurde von ihr gegen seinen Willen umarmt, ständig mal von der einen, mal von der anderen Seite geküsst und schließlich wie von einer Schlange heftig umschlungen. Als er sich daraufhin trotzdem weiter gegen sie wehrte, bat sie die Götter Hermes und Aphrodite, kein Tag möge sie von ihm und ihn von ihr trennen. Dem Wunsch wurde entsprochen, und beide verschlungenen Körper verschmolzen zu einem einzigen, eine Zwittergestalt, sowohl Mann als auch Frau und doch eigentlich keines von beidem.

Als Hermaphroditos bemerkte, dass ihn das Wasser des Teiches, in das er hinabgestiegen war, zum Zwitter gemacht und verweiblicht hatte, stieß er den Wunsch mit seiner nunmehr nicht mehr männlichen Stimme in Richtung seiner Eltern aus, jeden Mann, der in diesen Teich steige, möge dasselbe Schicksal wie ihn selbst ereilen, er möge zum Zwitter und weibisch werden. Die Eltern ließen sich rühren und legten einen Zauber, der das bewirkte, über das Wasser des Teiches.“

In Kreuzberg gibt es immer mehr Lokale, die Schilder an der Tür haben, auf denen sie ihren Gästen versichern, dass sie hier Schutz vor rassistischen und machistischen Überfällen finden und dass sie keine homo- sowie transphoben Anmachen in ihren Räumen dulden. In dem türkischen Café, in dem ich mich am 1.Mai aufhielt, stand das sogar in Gold an der Wand.

Spricht das nun für eine Zunahme der „Transen“ in meinem „Problembezirk“? Für eine Aufweichung der Geschlechtergrenzen? Für ein Modisch-Werden des Hermaphroditen? In der Schwulenscene sind die „Transen“ jene, die Weiblichkeit erkennen lassen. Die versuchen, einen Mann zu spielen, der eine Frau spielt, die einen Mann spielt. (**)

Auf dem Mariannenplatz erwarb ich am 1.Mai den Roman „Im Land der Männer“ von Hisham Matar. Der heute in London lebende libysche Schriftsteller  veröffentlichte ihn 2006. Er handelt von seiner Kindheit in Tripolis, wo er mit seiner Mutter in einem Haus am Stadtrand aufwuchs. Der Vater war viel auf Geschäftsreise, die Mutter trank. Sie war mit 14 verheiratet worden und sehnte sich nach einer sinnvollen, erfüllten Existenz, sie wünschte sich, aus ihrem öden Leben auszubrechen, gelegentlich malte sie in ihrem Garten Stilleben. Ansonsten spricht sie viel mit ihrem Sohn, beide sind einander sehr zugetan. (***)

„Einmal begann sie ihre Geschichte mit den Worten: ‚Du bist mein Prinz. Eines Tages wirst du ein Mann sein, und dann holst du mich mit deinem weißen Pferd‘.“ Es war die Zeit, 1979, als Gaddhafi die Macht übernahm und – ähnlich wie im Iran – keiner sich mehr vor den „Revolutionskomitees“ sicher fühlen konnte. Der 9jährige Ich-Erzähler stellt sich immer wieder vor, wie er seine Mutter – als 14jährige, die verheiratet werden soll – rettet und mit ihr flüchtet. Besonders vor dem Einschlafen gab ihm das ein „warmes Gefühl der Hoffnung“. Um sie vor dem Alkohol und dem Bestraftwerden wegen Alkoholbesitz zu retten, leert er ihre Flaschen im Ausguß. „Jede Phantasie über die Zukunft belebte meinen ursprünglichen Traum neu: die Rettung des Mädchens, das sie einmal gewesen war.“ Sein Vater wird eines Tages verhaftet und gefoltert. Nachdem er entlassen ist, findet seine Mutter den Lebenssinn in ihrer Liebe zu ihm. Den Sohn schicken sie auf eine Schule nach Kairo.

Diese libysche Liebes-Geschichte las ich am 1.Mai. Derweil in Libyen einige Angehörige des Gaddafi-Clans von Nato-Bomben getötet wurden. Daneben auch noch der Al-Quaida-Anführer Osama bin Laden – was die Amerikaner in einen regelrechten Freudentaumel versetzte. So möchte man dort auch Gaddafi ausschalten, und wahrscheinlich auch Saddad.

Ich habe noch vergessen zu erwähnen, was in etwa in Freuds Abhandlung über das „Unbehagen in der Kultur“ steht. Dazu heißt es bei Wikipedia:

„Die Abhandlung beginnt mit einem Nachtrag zu Freuds Aufsatz Die Zukunft einer Illusion von 1927. Freud bekräftigt die dort entwickelte These von der Vatersehnsucht als Grundlage der Religion. Romain Rolland hatte dagegen eingewandt, die letzte Quelle der Religion sei das „ozeanische Gefühl“. Freud rekonstruiert dieses Gefühl als primären Narzissmus ohne Grenze zwischen Ich und Außenwelt, und er räumt ein, dass dieser Narzissmus in Beziehung zur Religion geraten sein könne. Seine Bedeutung für die Religion sei allerdings sekundär.

Danach geht Freud zum Thema der Abhandlung über, dem Verhältnis von Kultur und „Unbehagen“, also Unlust, Leid, Unglück. Er beginnt mit einer Erörterung der verschiedenen Quellen der Unlust. Der Lebenszweck wird faktisch durch das Lustprinzip gesetzt, das Streben nach Lustvermehrung. Dieses Prinzip ist jedoch nicht realisierbar; die Außenwelt, die sozialen Beziehungen und der eigene Körper sind Quellen von Unlust. Das Lustprinzip wird deshalb durch das Realitätsprinzip ersetzt, das Streben nach Unlustvermeidung durch Beeinflussung der Quellen der Unlust. Aber auch dieser Weg stößt auf Grenzen.

Eine wichtige Quelle des Unglücks ist die Kultur. Die Kultur ist auf der Versagung von Triebbefriedigung aufgebaut. Damit steht sie im Gegensatz zur individuellen Freiheit, was Kulturfeindschaft hervorruft. Auf den ersten Blick sieht das anders aus, denn die Grundlage der Kultur ist, neben der Arbeitsteilung, die Liebe und damit die Triebbefriedigung. Die Liebe führt historisch zur Bildung der Familie, nicht nur die Liebe in ihrer sexuellen Form (Beziehung zwischen Mann und Frau), sondern auch in ihrer „zielgehemmten“, zärtlichen Gestalt (Beziehung zwischen Mutter und Kind). Zwischen Liebe und Kultur gibt es jedoch zugleich einen Gegensatz. Die Familie widersetzt sich dem Ziel der Kultur, der Bildung immer größerer sozialer Einheiten. Und die Kultur unterwirft das Sexualleben starken Einschränkungen, so dass die Sexualität des Kulturmenschen schwer geschädigt ist.

Die Kultur stützt sich auf die Energie des Sexualtriebs, die Libido. Dabei verwendet sie die Libido überwiegend in „zielgehemmter“ Form, um nämlich durch Identifizierung größere soziale Einheiten zu erzeugen. Diese Art der Libidoverwendung geht jedoch auf Kosten des Sexuallebens, und die Versagung der Sexualbefriedigung führt zur Neurose. Warum ist die Kultur auf den zielgehemmten Sexualtrieb angewiesen? Um damit einen anderen Trieb zu unterdrücken: die Neigung zur Aggression. Der Kulturmensch hat ein Stück Glücksmöglichkeit gegen ein Stück Sicherheit eingetauscht.“

Dies gilt auch noch für die Sicherheit – nach einem anständigen Leben in den Himmel zu kommen. Und dieses anständige Leben wurde am Nachdrücklichsten den Menschen im politisierten Islam eingebläut. Nicht zuletzt mit der Einrichtung einer „Religionspolizei“. Aber auch für die Frauen, die sich, weil gläubig, „freiwillig“ allen religiösen Beschränkungen unterwerfen, ist die „Sicherheit“ trügerisch. Eine der gläubigen verschleierten Studentinnen in Azar Nafifis Literaturzirkel („Lolita lesen in Teheran“) sagte es so: „Wenn ich eines Tages meinen Glauben verliere, ist das wie sterben und wieder neu anfangen, in einer Welt ohne Sicherheit.“ Claude Lévi-Strauss schreibt – in „Traurige Tropen“:

„Wenn eine Polizeiwache religiös sein könnte, würde sich ihr der Islam als die ideale Religion anbieten: strenge Einhaltung des Reglements (fünfmal täglich Gebete, wobei jedes einzelne fünfzig Kniebeugen erfordert); Musterung und Körperhygiene (rituelle Waschungen); männliche Promiskuität sowohl im geistigen Leben wie bei den organischen Verrichtungen; keine Frauen.“

In Hisham Matars Roman aus Libyen „Im Land der Männer“ wird an einer Stelle aus einem Gedicht von Salah Abd al-Sabur zitiert:

„Der Himmel spiegelt die Erde wider,(…) die Augen des Gendarmen die blinkenden Minarette.“

Die Nachrichtenagenturen melden heute:

Während die Aufständischen in Libyen befürchten, dass Gaddafi Giftgas gegen sie einsetzt – ähnlich wie man das im Iran von Sadam Hussein in den Achtzigerjahren befürchtete, werden die Regimegegner in Syrien massenhaft von Assad-Truppen verhaftet. Die Türkei erwägt, „Schutzzonen“ für syrische Flüchtlinge einzurichten. Auch im Jemen gab es wieder Tote auf Seiten der Demonstranten – gegen das Saleh-Regime. In Ägypten wurde gestern für soziale Gerechtigkeit demonstriert und in Marokko gegen den „Terror“.


Anmerkungen:

(*) Antonia Herrscher hat sich in einem längeren Text in ihrem blog (siehe: http://wieneulich.blogspot.com/) mit der Schleierverbots-Debatte in der EU befaßt. Wegen des kürzlich durchgesetzten Schleierverbots in Frankreich aktualisiert sie ihn gerade. An einer Stelle heit es darin:

„Der palästinensische Autor Edward Said bezeichnet in seinem Hauptwerk „Orientalismus“ das Bild des Orients mit seinen Haremsphantasien als eine Erfindung des „kolonialen“ Westens. Zuletzt nahmen Christina von Braun und Bettina Mathes diese Gedanken noch einmal auf und beschäftigten sich in dem Buch „Verschleierte Wirklichkeit“ anlässlich der „Kopftuchdebatten“ mit dem Zusammenhang von Schleier und Machtverhältnissen. Auch sie sehen in dem Bild, dass sich der Westen vom Orient gemacht hat, den „kolonialen Blick“. Im Kolonialismus hatte die Photographie eine entscheidende Rolle gespielt. Sowohl bei der Herausbildung westlicher Haremsphantasien als auch bei der gewaltsamen Entschleierung der muslimischen Frau. Im Fotografen sehen sie eine Entsprechung der „Verschleierten“, die sieht, ohne gesehen zu werden. Die Verschleierte „ist ein Angriff auf seine Autorität“. In den Photostudios von Algier, Kairo oder Istanbul wurden gestellte Haremsszenen abgelichtet, sowie verschleierte Frauen in lasziven Posen. Diese Bilder fanden als Postkarten reißenden Absatz in den Kolonialstaaten. Die Bilder aus dem Innern eines türkischen Harems hingegen, die die Engländerin Grace Ellis aufgenommen hatte, wurden abgelehnt, da sie zu unrealistisch erschienen.

Die Debatte um Kopftuch und Schleier eignet sich für die Autorinnen vor allem zur „Entschlüsselung unterschwelliger Redeströme zwischen Ost und West, weil sie von der Rolle des Sehens in der westlichen Kultur erzählt, deren Definitionsmacht und Herrschaft über andere auch auf der Macht des Sehens beruht.“ Man könnte den westlichen Blick auch als „Okulartyrannis“ bezeichnen. Für die Autorinnen symbolisiert der entblößte Frauenkörper (die nackte Wahrheit) spätestens seit der Renaissance die Erkenntnis und somit die „Errungenschaften der Moderne – wie ‚Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit’ oder die ‚Republik’“. Der entblößte weibliche Körper macht diese Abstrakta greifbar. „Auf den Barrikaden der Französischen Revolution kämpft Marianne mit entblößtem Oberkörper.“ Nur so konnten die europäischen Frauen die rasante Entblößung ihres Körpers „als Zeichen der Freiheit verstehen.“ Dabei stellen sie der Gewalt, der die verschleierte Frau ausgesetzt ist, die Gewalt des voyeuristischen Blicks im Westen gegenüber. Sie bestreiten nicht die hierarchische Geschlechterordnung des Islam, sondern wollen zeigen, dass unser Blick auf die Muslimin auch mit der westlichen Kultur zu tun hat.

Die Geschichte ist voller Beispiele, in denen der Schleier der Frau zur Etablierung neuer Herrschaftsstrukturen herangezogen wurde. Im Iran geschah dies im 20. Jahrhundert gleich zweimal: Reza Schah verfügte in den dreißiger Jahren eine Zwangsentschleierung der Frauen nach dem Vorbild der Türkei, die 1979 im Zuge der Iranischen Revolution mit dem Schleierzwang wieder beendet wurde. Frauen, die ihren Protest gegen den Schah Ausdruck verleihen wollten, taten dies, indem sie den Schleier anlegten.“ Frauen, die ihren Protest dann gegen das „Mullah-Regime“ Ausdruck verleihen wollten, taten dies, indem sie besonders lässig mit dem Verschleierungsgebot umgingen oder es sogar ignorierten.“

Angefügt sei hier, dass der Kampf um die Verschleierung im Iran noch lange nicht zu Ende ist: Die Schriftstellerin Azar Nafisi schildert ihn in ihren Erinnerungen „Lolita lesen in Teheran“ vom Beginn der islamischen Revolution an bis zu ihrer Ausreise in die USA 1997; die  Deutsch-Iranerin Barbara Naziri in ihrem Buch “Grüner Himmel über schwarzen Tulpen” bis zur Grünen Revolution 2009. Die Autorin bereiste mehrmals den Iran, um dort die Familie ihres Vaters zu besuchen und  das Land kennen zu lernen. Dabei geriet sie – zwangsverschleiert – immer wieder mit den islamischen Moralwächtern des “Schadorlandes” in Konflikt. Das führte bei ihr ebenso wie bei ihren Freundinnen zu einem sich radikalisierenden Widerstand gegen das “Mullah-Regime”.

(**) Diese modische Tendenz zum Hermaphroditismus und die hohe Akzeptanz der Homosexualität in den auf die „kreative Klasse“ setzenden westlichen Industriestädten könnte eine Reaktion der Jungmänner auf das „Mothering der Economy“ dort sein, in Berlin haben wir uns bereits mehrmals mit diesem Phänomen befaßt:

„Umherschweifende Produzentinnen“ hieß ein Theaterprojekt in den Berliner Sophiensaelen. Den beiden Regisseurinnen, Claudia Hamm und Jelka Plate, ging es dabei um freischaffende Künstler als  Ich-Avant-Garde  (-AG) der Dienstleistungsgesellschaft, in der nun auch noch die letzten – quasimütterlichen – Werte ausgebeutet werden: soziale Empathie, emotionale Intelligenz,  kommunikative Kompetenz…

Stücke über die neue Arbeitswelt beschäftigen seit der neoliberalen Wende viele Theatermacher. Erinnert sei an die Berliner „Messe über Geldbeschaffungsmaßnahmen“ 1999, Christoph Schlingensiefs Arbeitslosenpartei „Chance 2000“, den Volksbühnen-Kongreß „Das Recht auf Faulheit“ (mit einer szenischen Beratung der Wiener „Arbeitsmannequins“, die darauf hinauslief, daß alle Leute zu einem sagen „Die Arbeit steht Ihnen aber gut!“), sowie die Theaterakademie in Bochum von Hannah Hurtzig zum Thema „Neue Leute, neue Arbeit – die Zukunft der Arbeitsgesellschaft“. Über letzteres machten sich dann auch etliche Sachbuch-Autoren – angefangen von Richard Sennett – mehr oder weniger kritische Gedanken. 2010 lobte die Bundeskulturstiftung umgekehrt einen positiv-praktischen Ideenwettbewerb „Über Lebenskunst“ aus.

Im Kreuzberger Kunstamt Bethanien ging gerade eine große Ausstellung zum Thema „Beyond Re/Production. Mothering“ zu Ende. Auf einer der letzten Begleitveranstaltungen sprach die feministische Sozialforscherin Sarah Speck vom „Gunda-Werner-Institut“ der „Heinrich-Böll-Stiftung“ über die Professionalisierung mütterlicher Fähigkeiten und Tugenden – am Beispiel der SOS-Kinderdorfmütter, von denen es weltweit inzwischen einige tausend gibt. Jede Mutter versorgt dort etwa 10 bis 12 Kinder rund um die Uhr, sie soll möglichst verwitwet oder geschieden sein, aber noch entwicklungsfähig. Eine Trennung des Beruflichen vom Privaten ist nicht erwünscht. Die einzelnen „SOS-Kinderdörfer“, 15 in Deutschland, werden von einem Dorfdirektor geleitet.

Quasi unbeabsichtigt hat diese ursprünglich österreichische Stiftung damit eine Entwicklung vorweggenommen, die in der gewerblichen Verwertung und Profitabilisierung weiblicher Eigenschaften besteht. Spätestens mit Jean-Jacques Rousseau hatten die (männlichen) Aufklärer bereits versucht, den Frauen beizubringen, wie eine natürliche Mütterlichkeit auszusehen habe. Das war bereits ein erster Schritt zur Professionalisierung der Mütter. Inzwischen geht es in den postfordistischen Betrieben, die einst aus den männlichen Militärorganisationen entstanden, darum, auch am Arbeitsplatz „die ganze Persönlichkeit einzubringen“. Toni Negri und Michael Hardt sprechen von einer „affektiven Arbeit“, die sie als Spitze der neuen Arbeitsformen begreifen. Und in dieser Form sind nun besonders die darin bisher ausgeschlossenen weiblichen Tugenden gefragt – ihre Opferbereitschaft und soziales Einfühlungsvermögen, das denen der Männer überlegen sind. Wovon man sich leicht überzeugen kann, wenn man allein die Wohnungen von alleinstehenden Männern und Frauen vergleicht.

Die Pariser Gruppe Tiqqun schreibt: „Die Unterwerfung unter die Arbeit, die eingeschränkt war, da der Arbeiter noch nicht mit seiner Arbeit identisch war, wird gegenwärtig durch die Integration der subjektiven und existentiellen Gleichschaltung [von Jungen und Mädchen] ersetzt.“ Dennoch findet hier eine Feminisierung der einstmals  männlichen Domäne Wirtschaft statt, wobei diese Eigenschaften (arbeits-)marktfähig werden. Die Ausstellung im Bethanien trägt dazu u.a. Photoserien von indianischen und philipinischen Kindermädchen bzw. Putzfrauen und Köchinnen bei. Diese  Professionalisierungen der sogenannten Hausarbeit sind jedoch kein neues Phänomen. Ebensowenig wie die Ausbeutung der weiblichen Fähigkeiten von Flugbegleiterinnen und Sekretärinnen. Wenn die geschlechtsspezifische Arbeitsteilung früher z.B. in den bäuerlichen Betrieben so war, dass der Mann stets in der Horizontalen arbeitete/ackerte, dann war es Aufgabe der Frau, den Ernteertrag in die Vertikale zu übersetzen: einen besseren Platz in der Kirche, eine Stimme in der Schulbuchkommission, d.h.: den Mehr-Gewinn in soziales Ansehen umzumünzen. Heute nennt man das „Networking“. Die Frauen können das (noch) besser – und fast immer auch charmanter.

(***) Immer wieder schlägt die Intention die Intensität aus dem Feld. Ähnlich wie die Parteien die sozialen Bewegungen und der „Profi“ den Amateur (von amator – jemand der liebt, ohne Gegenliebe zu verlangen). Die Intensität ist ein Maß für Gefühle: wenn man starke Gefühle für jemanden hat, dann möchte man was daraus machen. Und schon hat man es mit Strategien, Taktiken und Perspektiven zu tun – die bestenfalls gemeinsam entwickelt werden (Bausparverträge). Man schmiedet also Pläne oder Projekte – injiziert und halluziniert Dauer. Glück will Ewigkeit!

Aber bleiben wir noch einen Augenblick bei der Intensität: Sie bewirkt doch auch noch etwas anderes als ihr eigenes Fading-Away im (haushälterischen) Plan, nämlich eine zunehmende Verrückung, eine Verrücktheit, ein Schizoismus – die Abwehrmechanismen werden dünner, Haare und Haut weicher, die Stimme brüchiger –  kleinlauter, der Körpergeruch eigener. Man könnte von einer Regression sprechen, aber die Liebenden versichern sich mit ihrem unaufhörlichen Gestammel nicht Mama und Papa, sondern hinterlautmalen bloß ihre Symbiose – ihr Werden! Ohne Ziel, nur um dem Sein zu entkommen, es mindestens zu stornieren. Nun gibt es aber ja die Verschmelzung nicht nur als vielleicht unmöglichen Wunsch, sondern auch als realen biologischen Vorgang – „Verschmelzungssex“ genannt, wenn männliche und weibliche Keimzellen zusammenkommen. Gleich danach setzt dann die  Zellvermehrung ein – bei der ein neuer „Staat“ entsteht. Aber das ist zu wenig!

Die Liebenden wollen ganz und gar verschmelzen – und nicht in einer Doppelhaushälfte in Karow-Nord enden, mit einem garantierten Kita-Platz  und einem Plasma-Fernseher im Wohnzimmer. Manche spüren diese allen dräuende Endversorgung derart, dass sie – gewissermaßen auf dem Höhepunkt – „in den Tod gehen“ (der Orgasmus wird auch als „kleiner Tod“ bezeichnet). In Japan springen die Liebespaare  gerne in den Fujiyama: die Glut des Vulkans korrespondiert dort mit ihrer eigenen inneren Glut. Nur so meinen sie, allen Intentionen zu entkommen. Lenin meinte, Verliebte kämpfen bloß mit der Faust in der Tasche, d.h. halbherzig und wie abwesend. Dennoch verlieben sich die Menschen gerade in und bei sozialen Kämpfen und die Revolution kann man auch als eine kollektive Verliebtheit bezeichnen.

Als ein „Aufblühen der Herzen“ hat man z.B. die Französische Revolution beschrieben. John Reed berichtete, wie die russische Revolution einigen Bauern Flügeln verlieh, so leicht wurde ihnen der Marsch durch St.Petersburg. Auch die Verliebtheit macht leicht – bis hin zum plötzlichen Aufbruch, zum gemeinsamen Verschwinden. Das ist das Gegenteil von einer Verschmelzung, die in einen neuen „Staat“ mündet, also fruchtbar wird. Man muß wohl oder übel das Kinderkriegen als eine  Notlösung bezeichnen – bestenfalls als ein ängstliches Ausweichen vor der vollkommenen Verschmelzung, die eine Schizodyssee inmitten von Neurotikern ist.

Wenn gesagt wurde, dass allein die Minderheiten produktiv sind, niemals die  Mehrheit, dann ist es auch der Wunsch zur Verschmelzung. Er „produziert“  – keine Regressionen sondern Reduktionen: ein  Sinnbild dafür ist das Bett als Floß oder leichten Kahn, mit vielleicht ein bißchen Tabak und Tee drumherum. Mehr nicht. Die wahre  Verschmelzung, die immer nur eine tendenzielle (gewollte?) sein kann, reduziert aber auch die Objekt- bzw. Filmstrategien, die gewöhnlich zur Autoerregung und Attraktivierung hinführen.  Blickekreuzen oder eine Berührung tun es nun auch. Die Liebenden sind anti-konsumistisch, auch wenn sie zwischendurch schlemmen. Sie sind sich selbst genug, mehr noch: sogar gänzlich nackt schon zu viel („too much“).

Aber dann und dann? – Kommt das Ich wieder zu seinem Recht. Das kleine miese Ich, das nicht einmal Platz zwischen „Uns“ und dem „Nichts“ hat –  reine Intention sozusagen ist. Und das Beziehungsrésümee lautet dann nicht selten: „Feinde: die Geschichte einer Liebe“ – diese stellt sich retrospektiv als eine einzige „asymmetrische Kriegsführung“ dar, genauer gesagt: als eine kurze Symbiose, die in Asymmetrie zerfiel – und zwanghaft genannt wird, wenn ihre Verlaufsform sich ständig wiederholt. Man könnte hierbei auch – mit Marx – von „Donquichotterie“ sprechen, was der online-dictionary heute  als ein „quixotic project“ bezeichnet. Das ist die Liebe – die auf Intensität insistiert. Sie hat alle odds gegen sich – insofern kann man sie heroisch nennen. Die großen Liebenden gehen deswegen auch in die Geschichte ein – leider meist als gescheiterte.



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