vonHelmut Höge 03.05.2011

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Die Nachrichtenagenturen hüllen sich heute morgen in Schweigen über die Arabischen Aufstände, sie melden lediglich, dass in Libyen tausende den Tod des Gaddafi-Sohnes betrauern, dass hier und da in  den islamischen Ländern über den toten Osama bin Laden getrauert wird, dass die ägyptische Polizei wegen seiner Ermordung durch die Amis ihre Patrouillen in den Touristenzentren des Landes verstärkt hat und Hollywood bereits plant, einen Film über den Topterroristen zu drehen, dessen Ermordung in Amerika zu Jubeldemonstrationen führte. „Die Bilder davon berühren unangenehm,“ schreibt die taz heute und die FAZ: Moskau glaubt den Freudentränen nicht! Dazu zitiert sie den Moskauer Verleger Alexander Iwanow: „Amerika überschätze die Rolle Bin Ladens maßlos. Ihn gewissermaßen als den Herrn des Bösen zu betrachten entspreche dem naiven Hollywood-Denken und der christlich-gnostischen Schwarzweißmalerei. Die wolle die Welt unbedingt in Gut und Böse teilen, meint Iwanow, der das auf radikale intellektuelle Literatur spezialisierte Haus ‚Ad Marginem‘ (Am Rand) leitet. ‚Dabei hassen so viele Leute Amerika,‘ sagt Iwanow, der erwartet, dass das Terrorismusproblem sich jetzt eher verschlimmern wird.“ (*)

Ansonsten setzt die Intelligenzpresse gegen den islamischen Terrorismus weiter auf die Freiheitsbewegungen in den arabischen Ländern, die nach Nationalismus, Kommunismus, Islamismus und Neoliberalismus jetzt mit ihren internetgestützten Aufständen an so etwas wie eine  basisdemokratische Utopie erinnern. Was ist überhaupt ein Aufstand? Wikipedia meint:

„Ein Aufstand, teils auch Rebellion genannt, ist ein offener, gewaltsamer Widerstand mehrerer Personen gegen die Staatsgewalt. Er bedeutet meist eine Widerstandsaktion gegen eine bestehende Regierung, auch bewaffnet; siehe  Straßenschlacht.“  Auf diesen eher allgemeinen Eintrag folgen mehrere Beispiele –  über den Taiping-Aufstand, den Donghak-Aufstand, Bar-Kochba-Aufstand, Ionischer Aufstand, Patrona-Halil-Aufstand, Mau-Mau-Aufstand, den Aufstand in Libyen usw,

Bei der Analyse von Aufständen gibt es nicht nur die deduktive Methode: Wie sind sie global im antiimperialistischen Kampf einzuordnen und wer sind demzufolge ihre möglichen Anlehnungsmächte? Es gibt auch eine induktive Betrachtungsweise, bei der es laut Michel Foucault darum geht, „von der Gegenwart eine dichte, ausdauernde Wahrnehmung zu haben, die es uns erlaubt herauszufinden, wo die Linien der Schwäche und wo die starken Punkte sind, womit sich die verschiedenen Mächte verknüpft haben, wo sie sich eingepflanzt haben; anders ausgedrückt: eine topographische und geologische Aufnahme der Schlacht machen…“

Man kann zwar inzwischen von einem Allarabischen Aufstand reden – bis in den Iran, aber jedes Land hat andere Ausgangsbedingungen: In Tunesien begann der Aufstand gegen das Regime und seine Polizei- sowie Geheimdiensttruppen mit jungen Leuten aus der Unterschicht in der Provinz; in Bahrain waren es ähnliche Gruppen, die jedoch auch als Schiiten gegen das sunnitische Herrscherhaus opponierten; in Ägypten begann es mit der großstädtischen Mittelschichtjugend; in Oman und Libyen protestierten die Jugendlichen, als das Internet abgestellt wurde. Laut dem „Chaos Computer Club“, die ihnen mit Rat und Tat beistanden, übertrugen sie in dem Moment ihre Online-Games bloß auf die Straße; in Gaza verbleibt die Opposition dagegen nach wie vor im Internet, das wiederum in Syrien überhaupt nicht zur Mobilisierung taugte, dort riß die stammesmäßig organisierte Gesellschaft des Südens den individualisierten Städtern das Heft des Handelns aus der Hand. In Saudi-Arabien sind vor allem die Frauen aktiv, sie beschimpfen die Männer als „Feiglinge“. In Jordanien haben die Demonstranten den König unkritisiert gelassen, der  nun als Schlichter zwischen seiner Regierung und den Oppositionellen laviert.

Auch die Rolle des Militärs ist in jedem Land verschieden: In Tunesien stellte sie sich zwischen Demonstranten und Regimeverteidiger, in Ägypten stellte sie sich als größter Landbesitzer über die „Parteien“, in Libyen und im Jemen lief die Volksarmee zu den Oppositionellen über, während ein besonders ausgerüsteter Teil das Regime verteidigt. In bezug auf Libyen ist jetzt immer wieder von einem „Bürgerkrieg“ die Rede. Dabei werden die Nutznießer des Regimes, die diesem die Treue halten, als eine von zwei gegeneinander kämpfenden Volksparteien begriffen. Gerade sagte Dr. Rida Benfayed, Arzt und Sprecher des oppositionellen Nationalrats im Osten Libyens in einem Interview: „Ich lebe in Tobruk, einem Ort mit 120.000 Einwohnern. Hier gab es mitten in der Nacht um ein Uhr eine Demonstration gegen Gaddafi mit schätzungsweise 100.000 Teilnehmern.“ Das ist kein Bürgerkrieg, sondern ein Volksaufstand gegen eine Machtclique. Die Aufständischen haben sich im übrigen genauso organisiert, wie es in Gaddafis „Grünem  Buch“ – seinem  Gesellschaftsentwurf für eine direkte Demokratie ohne Repräsentation – steht, nur dass sie dieses Wissen jetzt gegen ihn anwenden. Gaddafi stützt sich auf der anderen Seite u.a. auf afrikanische Söldnergruppen, wie Dr. Benfayed meint: „Wir wissen durch das Verhör von Kriegsgefangen in unserem Gewahrsam, dass sie aus armen Bevölkerungsschichten aus Ländern Afrikas südlich der Sahara kommen, aus Nigeria oder Guinea. Sie bekommen angeblich 1.500 Dollar die Woche. Im Falle, das sie den Sieg über die Aufständischen erreichen sollten, wurde ihnen von Gaddafi die libysche Staatsbürgerschaft versprochen und ein eigenes Haus für jeden Söldner und seine Familie in Zentan, einer Stadt ganz im Süden des Landes.“

In Bahrain bekommen die Sicherheitskräfte Unterstützung vom kuwaitischen und saudischen Militär, gleichzeitig versichert das Herrscherhaus dort, dass die Aufständischen schon seit Jahren vom schiitischen Iran unterstützt werden. In Gaza versucht die Regierung den Unmut der Bevölkerung von sich auf Israel umzulenken, indem es laufend Angriffe von dort provoziert. In Saudi-Arabien verteilt der König Geldgeschenke, um sie ruhig zu stimmen und verspricht weitere „Sozialleistungen“. In mehreren arabischen Ländern kämpft man  um die Aufhebung des „Ausnahmezustands“, der dort z.T. schon seit Jahrzehnten existiert, während im Jemen und in Bahrain gerade wegen der  „Unruhen“ der Ausnahmezustand verhängt wurde.

Auch dieser Begriff ist ähnlich wie der „Bürgerkrieg“  doppeldeutig: Einmal gilt er  von oben, um in einer Situation, in dem der Staat droht unterzugehen, rigoros durchzugreifen, zum anderen meint er das rechtlose Ausgeliefertsein der Armen an die Willkür der Herrschenden – bis sie diesen ihren „Ausnahmezustand“ von unten mit einem Aufstand beenden und gleichzeitig die Aufhebung des Ausnahmezustands von oben erzwingen.

„Erstens darf man nie mit dem Aufstand spielen, wenn man nicht fest entschlossen ist, alle Konsequenzen des Spiels auf sich zu nehmen,“ schrieb Karl Marx, und „zweitens, hat man einmal den Weg des Aufstands beschritten, so handle man mit der größten Entschlossenheit und ergreife die Offensive.“ (Bevor das Regime die Möglichkeit hat, seine Kräfte zu reorganisieren.)

Das Attentat und der Aufstand spielen in den Befreiungskämpfen bis heute eine zentrale Rolle. Im Zweiten Weltkrieg konzentrierten sich die Kämpfe in den Hauptstädten, die von den Deutschen mehr oder weniger blitzartig eingenommen worden waren. Gelegentlich noch über das Ende des Krieges hinaus vollzog sich dann die Befreiung dieser europäischen Städte. In jeder Stadt kam dabei dem Aufstand eine andere Bedeutung zu. Und nach 1945 ging es außerhalb Europas weiter: mit den „Schlachten“ um Yogyakarta und Algier z.B. – als Holland und Frankreich wieder ihre Kolonien zurückerobern wollten.

In Athen dauerte der Aufstand der kommunistisch dominierten Partisanen sechs Wochen – und richtete sich gegen alle Versuche, die eigenen Verbände (EAM/ELAS ) zu entwaffnen, zugleich aber die Kollaborateure und nationalistischen Partisanen (EDES) in ein neues griechisches Heer zu integrieren. Der Aufstand begann am 3.Dezember 1944 mit einer Protestdemonstration gegen die Entwaffnung der Linken. Der Tag wurde zum Beginn des Bürgerkriegs. Die Polizei eröffnete das Feuer auf die Demonstranten. Allein auf dem Syntagmaplatz blieben 20 Tote und Dutzende von Verwundete zurück. Zu Weihnachten planten die linken ELAS-Kräfte ein Attentat: Das Athener Hotel „Grand Bretagne“, wo die aus dem Exil zurückgekehrte Regierung Papandreous residierte, sollte mitsamt dem englischen Stab in die Luft gesprengt werden, aber im letzten Augenblick wurde das Unternehmen abgeblasen. Ende März 1946 begann „die zweite Runde“ des Aufstands. Er scheiterte ebenfalls. Am 12.März 1947 verkündete Präsident Truman, der Kampf gegen den Kommunismus auf griechischem Boden sei fortan Sache der USA. Erst 1982 wurde die gesetzliche Anerkennung der ELAS als Organisation des nationalen Widerstands durchgesetzt. Aber bis heute werden die Folgen des Bürgerkriegs erbittert diskutiert – und es gibt sogar noch eine Gruppe alter Partisanen, die nach wie vor Attentate verübt.

Derzeit wird auch in Polen wieder über den Warschauer Aufstand, dem ein Jahr zuvor der Warschauer Ghettoaufstand vorausgegangen war, gestritten. Ebenso findet in Italien seit einiger Zeit eine Neubewertung der Resistenza statt. Bei der Beurteilung der kommunistischen Partisanen, die fast überall die Führung der Aufstände inne hatten, geht es zugleich auch um die Rolle der alliierten Anlehnungsmächte – speziell ihrer Geheimdienste – bei der Unterstützung der Widerstandsbewegungen gegen die Deutschen und deren Verbündeten. Wobei letztere gelegentlich umschwenkten – nicht immer freiwillig: Während des „Slowakischen Aufstands“ wurde z.B. die auf deutscher Seite kämpfende Schnelle Division Slowakiens, von der inzwischen große Teile zu den sowjetischen Partisanen, u.a. in den Katakomben Odessas,  bzw. zur Roten Armee übergelaufen waren, auf dem Rückzug von Deutschen entwaffnet und interniert. Ladislav Tatsky hat das Schicksal dieser Soldaten in seinem wunderbaren Roman „Die verlorene Division“ beschrieben. Der spätere Außenminister der CSSR, Bohus Chnoupek, zitiert aus dem Tagebuch eines in der Slowakei kämpfenden Rotarmisten, der am 14.1.1945, als die rumänische Luftwaffe mit deutschen Flugzeugen den slowakischen Aufstand unterstützte, notiert: „Seht mal – Hitler hat ganz Europa gegen den Iwan ins Feuer getrieben, und jetzt ist jeder, der nur kann, mit dabei, die Deutschen zu schlagen“.

Der Befreiung von Prag durch die Rote Armee gingen genaugenommen zwei Aufstände voraus. Auf die Ermordung des Reichsprotektors von Böhmen und Mähren, Reinhard Tristan Heydrich, am 27.Mai 1942, reagieren die Deutschen mit einer riesigen Verhaftungs- und Deportationswelle, die in der Vernichtung des Dorfes Lidice gipfelte. Diese Zeit der Angst – die Jahre 1941 bis 1943, in der die Deutschen für die Tschechen eine „Endlösung“ vorsahen, wird als „Heydrichiade“ bezeichnet, ihr fielen insbesondere kommunistische Sympathisanten und Widerstandskämpfer zum Opfer. Das Attentat wurde von einer Gruppe junger tschechischer Patrioten ausgeführt, die vom englischen Geheimdienst ausgebildet und mit Fallschirmen über Tschechien abgesetzt wurden. Die kommunistische Geschichtsschreibung unterstellt ihren Hintermännern niedere, d.h. eitle und volksverachtende Motive. Das Attentat schwächte die Aufstandsbewegung statt sie zu beflügeln! Nach der kommunistischen Befreiung flüchteten etliche der Fallschirmspringer, die die Heydrichiade überlebt hatten, ins Ausland, einige wurden verhaftet, einer wegen Kollaboration mit den Deutschen erhängt. Ihren Helfern im Land, in der Mehrzahl nichtkommunistische tschechische Patrioten, ist die Analyse des „Attentats auf Heydrich“ von Miroslav Ivanov gewidmet. Auch von ihnen kamen die meisten ums Leben: Sie wurden von den Deutschen umgebracht.

Als die Rote Armee sich von Dresden her in Eilmärschen Prag näherte und der Vorstoß der Amerikaner vereinbarungsgemäß vor Pilsen endete, kam es am 5.Mai 1942 zum Aufstand von unten. Zunächst zeigten die tschechischen Patrioten Flagge. Die deutschen Soldaten, die selbst lieber vom amerikanischen als vom russischen Militär „befreit“ werden wollten, schwankten zwischen gewaltsamer Unterdrückung und sich Ergeben. Am 9.Mai wird der letzten deutschen Besatzung, im Petschekpalais, dem Sitz der Prager Gestapo, freier Abzug nach Westen, zu den Amerikanern, gewährt. Aber kollaboratorische „Tendenzen dieser Art“ (von tschechischen Offizieren z.B.) können zu dem Zeitpunkt „die Ergebnisse des Aufstands nicht mehr gefährden“, schreibt der kommunistische Historiker Karel Bartosek. Denn an diesem Tag erreichen auch die ersten russischen Vorausabteilungen Prag. Die Befreiung der Stadt war die „letzte Operation“ der Sowjetarmee im Zweiten Weltkrieg. Und alles in allem, so Bartosek, „haben die Volkshelden von Prag genauso ihren Beitrag zur internationalen antifaschistischen Bewegung geleistet wie die in Paris, Mailand und Warschau“.

1977 fällt in Westdeutschland noch ein ehemaliger Mitarbeiter Heydrichs im Prager Wirtschaftsstab, H.M.Schleyer, einem Attentat – der „Roten Armee Fraktion“ (RAF) – zum Opfer. In der Tschechoslowakei, und vor allem in Israel, freut man sich öffentlich über die Ermordung dieses ehemaligen SS-Offiziers. Aber der deutsche Staat reagiert wieder äußerst rigoros (gegenüber allen Linken), so daß diese Innere Heydrichiade heute als „Deutscher Herbst“ nachhaltig im Gedächtnis geblieben ist. Die anschließende Vernichtung der Terroristen durch das BKA wird von dieser zentralen Polizeibehehörde heute als ihre größte Leistung bezeichnet: „Ein fast zwanzigjähriges Ringen wurde gewonnen,“ schreibt eine Berliner Zeitung. Aufgebaut wurde das BKA 1951  u.a. von einem ehemaligen deutschen Partisanenbekämpfer in Weißrussland und Norditalien, dem SS-Hauptsturmführer Theo Saevecke. 1999 verurteilte man ihn in Turin wegen der Ermordung von 15 Partisanen zu lebenslanger Haft. Es handelte sich dabei um 15 Geiseln, die am 10.August 1944 auf der Piazza Loreto in Mailand erschossen wurden. Wenig später eskalierten die Kämpfe in Norditalien aber schon derart, daß Giovanni Pesce, „Träger der Goldenen Medaille der Widerstandsbewegung“ in seinem „Tagebuch eines Partisanen“ notierte: „Die Erfahrung bewies, daß, wenn wir unmittelbar auf die Einschüchterungen des deutschen Kommandos mit ununterbrochenen Aktionen antworteten, die Deutschen nicht mehr den Mut hatten, Geiseln festzunehmen und die Einwohner unterschiedslos zu verhaften“. Um den „Massenkampf“ zu forcieren, initiierte man u.a. eine „Woche des Partisanen“. Kurz vor und während des Aufstands wurden sogar Geiseln ausgetauscht.

Gleich nach dem Krieg schrieb der tschechische Musiker Josef Skvorecky einen Roman über den tschechischen Aufstand und die Befreiung – mit dem Titel „Feiglinge“. Es wurde soeben im Wiener Verlag Deuticke wieder neu aufgelegt. Die Helden darin, das ist Skvoreckys Clique: Jazzmusiker und ihre Freundinnen. Er beschreibt, wie gerade die schlimmsten Kollaborateure, Geschäftsleute und Ariseure die ersten waren, die versuchten angesichts des drohenden Machtwechsels patriotische Punkte zu sammeln. Sie trafen Sicherheits-Absprachen mit den Deutschen, hängten die tschechische Trikolore raus und überpinselten deutsche Schilder. Auch sie wünschten sich – wie die Deutschen, lieber von den Amis als von den primitiven Russen befreit zu werden. Für die jungen Leute waren sie „Feiglinge“, Arschkriecher und Verräter – mit denen sie nichts zu tun haben wollten, aber nach und nach erfaßte der „Aufstand“ alle – irgendwie. Das ist der Rahmen dieses autobiographischen Romans, in dem der Ich-Erzähler von Heldentum phantasiert und auch wirkliche Heldentaten begeht, jedoch eigentlich nur aus Dummheit und um seiner Freundin Irena zu imponieren, die standhaft einen anderen liebt. Langsam werden die Nationalisten von den Kommunisten, die rote Armbinden tragen, an den Rand gedrängt, auch der lokale Rundfunksender findet bald schärfere Töne gegenüber den immer kopfloser werdenden Deutschen. Dann überschwemmen befreite KZ-Häftlinge aller Nationalitäten die Stadt, schließlich kommen die Russen: „Ich hörte das erstemal, daß jemand das Wort Genosse mit allem Ernst aussprach…Das war also der Aufstand…Ich fühlte mich stark und gefährlich“. Er soll dann sogar für seinen partisanischen Einsatz in letzter Minute eine Auszeichnung von den Russen bekommen, gibt aber einen falschen Namen an – um später nicht „von einer Ruhmesfeier zur anderen“ geschleppt zu werden…

Es ist der 9.Mai: „Die Revolution war vorbei. Und jetzt fängt das Leben erst an, dachte ich, wußte aber gleich, daß es nicht anfing, sondern gerade jetzt endete. Mein junges Leben in Kostelec“. Ihn erwartete nun ein Studium in Prag, das er wegen seiner Zwangsarbeit in einem Rüstungsbetrieb nicht früher hatte aufnehmen können. „Jetzt ist Frieden, und überall wird es Jazz und Bars und all das geben…Gegen den Kommunismus hatte ich nichts.“ Aber „wichtig waren die Mädchen und die Musik“. Dann begannen die Siegesfeiern, auch seine Jazzband war dabei, es durfte Swing getanzt werden. Von den befreiten KZ-Häftlingen, die die Stadt übervölkerten, reiste als erstes eine Gruppe Engländer ab, um die der Ich-Erzähler sich ein paar Tage lang gekümmert hatte. Einer fragt ihn zum Abschied: „Freuen Sie sich, daß die Russen hier sind? Oder wären Ihnen die Engländer lieber?“  Er antwortet: „Warum stellen Sie diese Fragen? Sie haben meine Familie gesehen. Sie wissen, wir hätten lieber die Engländer hier“. Nach dem niedergeschlagenen Prager Aufstand von 1968 konnte Skvorecky die Sowjets wirklich nicht mehr länger ertragen – und ging nach Toronto. Einer der befreiten Engländer hatte zu dem Ich-Erzähler aus gutem Hause bereits am 11.Mai 45 gemeint: „Wir Arbeiter sehen das anders – den Kommunismus und die Russen“.

In vielen osteuropäischen Ländern führten sie – „die Russen“ – den Aufstand an. In der Slowakei, wo sich die Kämpfe um die „Hauptstadt“ Banska Bystrica konzentrierten, wurde der sowjetische Partisanen-Kommandeur Asmolow eingeflogen, um die aufständischen Kräfte zu koordinieren. Am 8.Dezember 1944 heißt es in  seinem „Befehl Nr.30“: „In den Tälern befinden sich viele versprengte Gruppen. Die meisten haben die Waffen nicht weggeworfen, entwickeln jedoch auch keine Aktivität, sondern sitzen nur herum und warten auf das Eintreffen der Roten Armee. Ein anderer Teil, der sich selbst als Partisanen bezeichnet, begeht Plünderungen. Ich fordere die Kommandeure kategorisch auf, den Befehl über die Gruppen zu übernehmen…Wer Widerspruch äußert, ist als Deserteur zu betrachten, zu degradieren, zu versetzen, anderen zu unterstellen, an seiner Stelle ist ein neuer Kommandeur zu ernennen…Die Vereinigung mit der Roten Armee werde ich nur dort gestatten, wo diese den gegebenen Abschnitt befreit hat“. In seinem „Befehl Nr.32“ beklagt Asmolow sich über den Kommandeur einer Kompanie des 2.Partisanenregiments Kusner: „Er hat sich regelmäßig betrunken, ihm unterstellten  Personen Uhren und Wertsachen mit dem Versprechen abgenommen, er würde sie befördern. Eine ihm Unterstellte zwang er, ein Verhältnis mit ihm einzugehen. In gesetzwidriger Weise nahm er Bewohnern der Gemeinde Jesenie Geld ab…Ich befehle, Kusner vor der angetretenen Einheit zu erschießen“. An einen anderen Kommandeur, Glider, schrieb er: „Angehörige Ihrer Brigade, die zu uns kommen, wissen über diese Brigade beträchtlich mehr als Sie und sprechen offen über Unzuträglichkeiten in der Brigade. Wie konnten Sie überhaupt dulden, daß die Leute hungern müssen? So etwas können nur Kommandeure zulassen, die jeglichen Sinn für Verantwortung eingebüßt haben. Verändern Sie unverzüglich Ihren Arbeitsstil, sonst wird es ein böses Ende mit Ihnen nehmen.“ Am 14.Februar 1945 warnt er alle Partisanenabteilungen in Mähren, daß rechte Antipartisanenkräfte der sogenannten Hlinka-Garde versuchen, sich in die Bewegung einzuschleusen, um sie zu verraten. Dies geschah dann später auch tatsächlich, wobei anschließend das Dorf Plostina und seine Bewohner durch deutsche Jagdkommandos unter der Führung von Skorzeny vollständig vernichtet wurden. Einzelheiten darüber berichtet Ladislav Mnacko in seinem Roman „Der Tod heißt Engelchen“. Die slowakischen Aufständischen, darunter auch Asmolow, mußten sich zunächst vor der deutschen Übermacht in die Berge flüchten – der Aufstand war gescheitert. Erst einige Wochen später gelang es ihnen, zusammen mit der Roten Armee, die Slowakei zu befreien. Im Juni 1945 zeichnete man Asmolow auf der Prager Burg mit dem höchsten tschechoslowakischen Orden – dem Weißen Löwen – aus.

In Paris endete die Vertreibung der deutschen Besatzer mit einem großen Fest – am 26.August 1944. Die Westalliierten hatten mit dem deutschen Stadtkommandanten ausgemacht, die Hauptstadt nicht zu verheeren. Aber die kommunistische Widerstandsbewegung hatte am 19.8. zu einem allgemeinen Aufstand aufgrufen – infolgedessen die Rathäuser besetzt und Straßenbarrikaden errichtet wurden. Der General im Exil De Gaulle drängte daraufhin die Alliierten, Paris einzunehmen – dabei sollten sie jedoch den französischen Exiltruppen unter General Leclerc den Vortritt lassen. So geschah es dann auch am 25.8. Dennoch kam der kommunistische Partisanenchef Henri Tol-Tanguy ihnen zuvor – indem er die Kapitulationserklärung der Deutschen entgegennahm. Und auch in der quasi-offiziellen Philosophie der Résistance nach dem Krieg – im Existentialismus – blieb der Widerstand von Links gut aufgehoben. Im letzten Kriegsjahr hatten J.P.Sartre, Simone de Beauvoir, Maurice Merleau-Ponty u.a. zusammengesessen und „Einzelattentate“ – auf Kollaborateure zunächst – diskutiert. Dann schrieben sie jedoch stattdessen die meiste Zeit oder inszenierten Theaterstücke – bis zur Befreiung. Simone de Beauvoir berichtet in ihren Memoiren „Die besten Jahre“ über die Ankunft der ersten Amerikaner: „Den ganzen Tag bummelte ich mit Sartre durch das beflaggte Paris…Was für ein Aufruhr in meinem Herzen…Von nun an wollte ich mich über die Enge meines persönlichen Lebens erheben und in der Weite des Kollektivs schweben“. Zusammen mit den amerikanischen Truppen, aber sich eher dabei an der Seite der französischen Partisanen aufhaltend, die zur selben Zeit in Paris einmarschierten, eroberte der Kriegsreporter Ernest Hemingway die Stadt. Am 7.Oktober 1944 berichtete er in der US-Zeitung „Collier’s“ über dieses historische Ereignis: „‚Denken Sie, daß wir noch viele Möglichkeiten haben werden, uns zu schlagen?‘ fragte der Maquisard. Ich sagte: ‚Sicherlich. Es müssen doch noch Deutsche in der Stadt sein‘. Mein eigenes Kriegsziel war zur Zeit, nach Paris hineinzukommen, ohne etwas abzukriegen… ‚Sind gute Kerle‘, sagte Archie. ‚Der beste Haufen, den ich je erlebt habe. Keine Disziplin, das gebe ich zu, und die ganze Zeit die Trinkerei. Auch zugegeben. Aber schlagen tun sie sich…Und keiner schert sich drum, ob einer umkommt oder nicht, Compris?‘ ‚Ja,‘ sagte ich. Ich konnte im Moment jetzt nicht mehr sagen. Ich hatte etwas Komisches im Hals und mußte mir die Brillen putzen, denn jetzt lag die Stadt vor uns, Paris, grau und schön wie immer“. Angeblich befreite Hemingway wenig später mit einigen dieser Maquisards die Buchhandlung „Shakespeare & Company“ am Rive Gauche.

Ähnlich wie in Italien gibt es jetzt auch in Frankreich eine neue Debatte über die alten Helden. Zumal inzwischen eine Fülle neuer Studien über die Résistance veröffentlicht wurden. Dabei dringt man von den vielen Erzählungen der Teilnehmer unmittelbar danach über die großen Mythen des Volksaufstands bis zu den letzten Details eines Bürgerkriegs vor, wie er in allen von den Deutschen besetzten Ländern ausbrach – zwischen den Klassen, die mit der sich nach Stalingrad immer mehr abzeichnenden Niederlage der Deutschen eine Restauration der Vorkriegsverhältnisse anstrebten und den Kräften, die für eine neue, gerechtere Gesellschaft kämpften. Bei der Wiederbeschäftigung mit der Résistance kommt man nun auch zu neuen Erkenntnissen über die Okkupanten.

Die Deutschen waren daran interessiert, den französischen Widerstand als Kampf isolierter jüdisch-kommunistischer Kleingruppen darzustellen. Im Herbst 1941, kurz nach dem deutschen Überfall auf die Sowjetunion, kam es jedoch zu mehreren Attentaten, denen deutsche Militärangehörige zum Opfer fielen. Der Militärbefehlshaber Otto von Stülpnagel reagierte darauf mit Geiselerschießungen. Noch Jahrzehnte danach lobten seine Untergebenen Carlo Schmidt und Ernst Jünger dagegen Stülpnagels „Menschlichkeit“ und vor allem die „freigeistige“ Atmosphäre im Generalstab. Jünger bekam den Auftrag, die Abschiedsbriefe der erschossenen Geiseln literarisch auszuwerten. Und es wurde ein Musterformblatt für „Geisellisten“ herausgegeben. Auf der anderen Seite erstarkte langsam der Widerstand. Von Stülpnagel trat nach der „Geiselkrise“ zurück: „Ich selbst habe genügend gewarnt vor polnischen Methoden in Frankreich,“ schrieb er. Die Zahl der erschosssenen „Freischärler“ und „Spione“ nahm danach weiter zu.

Noch brutaler schraubten sich die Kämpfe in Belgrad hoch, wo es ebenfalls zu Attentaten und Geiselerschießungen kam. Am 14. Oktober 1944 vereinigte sich vor der Stadt die Dritte Ukrainische Front der Roten Armee – von Bulgarien her kommend – mit einem Teil der Tito-Partisanen, der inzwischen Erste Armeegruppe der Volksbefreiungsarmee Jugoslawiens hieß – um die Hauptstadt zu befreien. Kurz danach verlegte auch der Oberste Stab der Volksbefreiungsbewegung seinen Sitz von der Insel Vis nach Belgrad. Statt eines Aufstands kam es hier zu einer militärischen Einnahme der Stadt, die mehrmals von Deutschen bombardiert worden war und 1943 zum Sitz des Oberbefehlshabers Südost erklärt wurde, weswegen die Alliierten sie 1944 noch einmal bombardierten. Über die am „Sturm auf die Festung Belgrad“ beteiligten deutschen Partisanen, die entweder aus den Strafbataillonen in Griechenland geflohen oder als Frontagitatoren des Nationalkomitees Freies Deutschland mit der Roten Armee gekommen waren, haben kürzlich der DDR-Partisanenforscher Heinz Kühnrich und der ehemalige DDR-Jugoslawienbotschafter Franz-Karl Hitze ein Buch veröffentlicht: „Deutsche bei Titos Partisanen 1941-1945“.

Neben Jugoslawien gab es die stärkste Partisanenbewegung in Weißrußland – Weißruthenien von den Deutschen genannt. Hier herrschten noch wieder andere deutsche Sitten als z.B. in Polen. Es ging hier nicht nur um die Bekämpfung der Widerstandsbewegung und ihres Sympathisanten-Umfeldes, sondern um die systematische Vernichtung der „unnützen Esser“ – also um Völkermord. Wie der Berliner Historiker Christian Gerlach in seiner umfangreichen Studie über die deutsche Wirtschafts- und Vernichtungspolitik in Weißrußland mit dem Titel „Kalkulierte Morde“ gerade nachwies, wurden gefangene Partisanen, sofern man sie als noch arbeitsfähig einstufte, sogar mitunter am Leben gelassen. Im Gegensatz zu den Bewohnern ganzer Regionen, die man zu „toten Zonen“ erklärte und „flurbereinigte“. Nur „etwa 10 bis 15 Prozent aller Opfer der deutschen Aktionen waren Partisanen“.

Bei der Verfolgung und Deportation der weißrussischen Arbeitslosen, Juden, Zigeuner und Kinder taten sich merkwürdig viele der späteren Hitler-Attentäter hervor: von Stauffenberg, von Weizsäcker, Yorck Graf von Wartenburg, von Gersdorff, von Tresckow, von Boeselager, Graf von Schulenburg, Arthur Nebe, Otto Bräutigam, Adolf Heusinger etc…

Der Vernichtungsfeldzug unter wirtschaftlichen Gesichtspunkten in Weißrußland erforderte das Zusammenwirken vieler Dienststellen und Experten. Christian Gerlach hebt außerdem hervor, daß die West-Alliierten nach dem Krieg diese quasi-wissenschaftliche Form der deutschen Widerstandsbekämpfung auswerteten – und hernach in Algerien, Malaysia, Griechenland, Vietnam, auf Zypern und auf den Philipinen erneut praktisch umsetzten. Im Nürnberger Kriegsverbrecher-Prozeß hatte der US-Ankläger Kempner den zu Arthur Nebes Verteidigung bestellten „Sachverständigen der Widerstandsbewegung“ von Schlabrendorff erbost gefragt: „Wieviele Juden darf man denn ermorden, wenn man das Endziel hat, Hitler zu beseitigen – wieviele Millionen?“

Es war vorgesehen, die sowjetische Bevölkerung um etwa dreißig Millionen zu reduzieren (primär durch einen „Hungerplan“). Eine US-Journalistin bezeichnete Weißrußland 1946 als das „am meisten verwüstete Land der Erde“. Seit 1942 entstanden dort aber auch 1108 Partisaneneinheiten und -abteilungen – und es gab riesige „befreite Gebiete“.

Am 3. Juli 1944 wurde die Hauptstadt Minsk durch die Rote Armee befreit. Berühmt wurden jedoch die Bilder von den anschließend durch die Stadt paradierenden Partisanen-Brigaden, bei denen die Kämpferinnen – von den Deutschen stets „Flintenweiber“ genannt – vorneweg marschierten. Und bis heute gibt es in Minsk eine umfangreiche Partisanenforschung. Die den Aufstand vorbereitenden Partisanen wurden in Weißrußland am weitestgehendsten mit der Dorfbevölkerung identisch – während die Städte von den Deutschen hier am weitestgehendsten entvölkert wurden. Dennoch hielt sich auch in der zerbombten Hauptstadt Minsk eine Widerstandsgruppe. Am 22.September 1943 gelang ihr ein Bombenattentat, dem der Generalkommissar für Weißruthenien Wilhelm Kube zum Opfer fiel. Die Attentäterin war sein Zimmermädchen Jelena Masanik, ihr gelang die Flucht zu den Partisanen aus der Stadt heraus. Die Deutschen konnten hier ihre anschließenden Vergeltungsmaßnahmen kaum mehr steigern. Aber auch die Partisanenbewegung umfaßte inzwischen einen großen Teil der Wehrfähigen.

Der Berliner Journalist Paul Kohl hat die Attentäterin Masanik noch 1994 für eine SFB-Rundfunksendung über das Attentat interviewt. Außerdem veröffentlichte er gerade einen Roman, mit dem Titel „Schöne Grüße aus Minsk“, in dem Jelena Masanik den Sprengstoff von einem deutschen Journalisten bekommt, der bei der „Minsker Zeitung“ arbeitete. Dieser fiktive Plot erlaubt dem Autor jede Menge innere Monologe eines Anderen Deutschen. Diese Konstruktion hat sich bereits bei Spielbergs Film „Schindlers Liste“ bewährt und gerade wird sie noch einmal von Costa-Gavras angewandt, der Rolf Hochhuths „Stellvertreter“ verfilmt, in dem es um den frommen SS-Mann Kurt Gerstein geht, der gegen die Judenvernichtung opponierte. Gedreht wird dieser Politthriller – mit Ulrich Tukur in der Hauptrolle – in Ceuausescus Budapester Palast, in den anschließend der Vatikan eingescannt wurde. Ähnlich ist es bei dem Film „Der Pianist“, den Roman Polanski – in der Babelsberger „Sonnenallee“- Großkulisse – drehte. Diesem „Eurofilm“ liegen die Erinnerungen von Wladyslaw Szpilman zugrunde, der von einem deutschen Wehrmachtsoffizier gerettet wurde.

Der westdeutsche Historiker Bernd Bonwetsch schreibt – in Zusammenfassung einer Aufstandsforschungsarbeit: „Ganz allgemein läßt sich wohl feststellen, daß alle Motive und Formen des Verhaltens gegenüber der Besatzungsmacht wie gegenüber der Sowjetmacht in Gestalt der Partisanen vorgekommen und belegbar sind und daß die Unterstützung der Partisanen dort am schwächsten war, wo die Kollaborationsneigung sich als relativ stark erwies“. Die wissenschaftliche Durchdringung von Attentat und Aufstand nähert sich der völligen Indifferenz von Gut und Böse – Kollaboration und Widerstand. Ein Zwischenschritt dahin war der Täter-Opfer-Dualismus. Zur gleichen Zeit wurden in der Neuen Ökonomie aus Gegnern plötzlich Partner, wie bereits J.F.Lyotard bitter bemerkte. Anscheinend muß man dem nun auch in Film und Forschung Rechnung tragen.

Noch einen (radikal-deutschen) Schritt weiter geht der Oldenburger Politikwissenschaftler Ahlrich Meyer: „Eine Beschreibung des kommunistisch-jüdischen Widerstands gegen die nazistische Okkupation kann nicht unsere Sache sein, weil uns die subjektive Seite dieses Widerstands verschlossen bleiben muß.“

Anmerkung:

(*) Zur Schurkendämmerung

„Er ist zwar ein Schurke, aber er ist unser Schurke“ (US-Außenminister Baker über Saddam Hussein)

Die ägyptische und die tunesische Staatspartei von Mubarak bzw. Ali wurden verboten. Zuvor hatte man die „Ben-Ali-Partei RCD“ und die „Nationaldemokratische Partei NDP“ bereits aus der „Sozialistischen Internationale“ ausgeschlossen. Sie waren die tragenden Säulen dieser „Schurkenstaaten“ gewesen. Ein Begriff, den die US-Regierung bis dahin auf Staaten wie Syrien und Libyen bezogen  – und über den der Philosoph Jacques Derrida dann ein ganzes Buch geschrieben hatte. Darin heißt es:

„Der Schurke (englisch rogue französisch voyou) ist immer der andere, stets derjenige, auf den der rechtschaffene Bürger, der Vertreter der moralischen oder rechtlichen Ordnung, mit dem Finger zeigt.“ Bereits 1865 „erfand“ Flaubert den Begriff der „voyoucratie“ – der Schurkenherrschaft. Das Wort „voyou“ steht in entscheidender Beziehung zum Weg (voie). Derrida erwähnt dazu „vom Wege abgekommen“  und „auf den Strich gehen“. All das gehöre „gleichsam in den Fußstapfen eines Baudelaire, Benjamin oder Aragon,“ in deren Werken das urbane  Leben, ihre ersten Blüten, (sinnlich) wahrgenommen werden. Inzwischen sind unsere öffentlichen Plätze fast reine Treffpunkte und Arbeitsplätze von „Schurken“ geworden. Diese sind heute laut Derrida „beschäftigungslos, manchmal arbeitslos, und zugleich aktiv damit beschäftigt, die Straße zu okkupieren, entweder nichtstuend, ‚das Pflaster zu treten‘ oder etwas zu tun, was man normalerweise, nach den Normen, nach Gesetz und Polizei nicht tun darf auf den Straßen und allen anderen Wegen – die durch die Macht der Schurkenherrschaft unwegiger und unsicherer werden.“

Und diese Schurkenherrschaft, das ist „eine Art Gegenmacht“, ein „Milieu“. Am Alexanderplatz hat man es z.B. von oben mit „Beachball-“ und „Baseball“-Spielern angereichert, von unten kamen dazu der „Babystrich“ am Brunnen, für den in allen „Sexführern“ geworben wird, sowie die „Skater“ unter der Kaufhof-Passage. „Übrigens ist der Schurke auch ein Querulant,“ schreibt  Derrida – und auf solche trifft man dort ebenfalls zuhauf. Sie drücken einem Flugblätter mit den letzten Parteitagsbeschlüssen der KP Chinas oder von der Falun-Gong -Sekte oder von leidenden Iranern oder von der World Christian Society in die Hand. Daneben ist der „voyou“ aber laut Derrida auch ein „Macker, ein Frauenheld“ und die „voyoute“ eine „Frau von schlechtem Lebenswandel“.

Er kann aber auch einer jener ‚großen Verbrecher‘ sein, die Walter Benjamin so faszinierten, weil sie – wie er in seiner ‚Kritik der Gewalt‘ erklärt – den Staat herausfordern…Indem er sich eine Gegensouveränität anmaßt, stellt sich der schurkische ‚Großverbrecher‘ mit dem souveränen Staat auf gleiche Augenhöhe, er wird zum Gegenstaat…“ In Russland hat man solche Großschurken immer verherrlicht – und gegen das Zarentum in Anschlag gebracht: beginnend mit  dem Volksaufständen der Kosaken Stepan Rasin und Jemeljan Pugatschow und dem einstigen tschetschenischen Anführer Imam Schamil. Alexander Solschenizyn meint, dass die  fortdauernde literarische Verherrlichung dieser und vieler anderer Verbrecher beginnend mit Puschkin und erst recht dann dann durch die kommunistischen Schriftstellern, denen die Schurken – im Gegensatz zu den Intellektuellen und Künstlern – sogar als „klassennahe“ galten, habe wesentlich mit zu dieser anschwellenden Flut von Schurkentum beigetragen, unter dem das Land bis heute leide – das für die US-Regierung einmal der größte „Schurkenstaat“ war: die Nummer 1.

Mit der Auflösung der Sowjetunion ist dieser Begriff jedoch laut Derrida überflüssig geworden: „künftig werden wir es nicht mehr mit dem klassischen Krieg zwischen Nationen zu tun haben, weil kein Staat der übrig gebliebenen Großmacht USA  den Krieg erklärt hat oder als Staat gegen sie zu Felde zieht; wo aber kein Nationalstaat beteiligt ist, kann auch nicht mehr von Bürgerkrieg die Rede sein, ja nicht einmal mehr von ‚Partisanenkrieg‘, da es nicht mehr um Widerstand gegen eine Besatzungsmacht, um einen revolutionären oder Unabhängigkeitskrieg zur Befreiung eines kolonisierten Staates und zur Gründung eines anderen geht. Aus denselben Gründen verliert der Begriff ‚Terrorismus‘ seine Triftigkeit, weil er stets und zu Recht mit ‚revolutionären Kriegen‘, ‚Unabhängigkeitskriegen‘ oder ‚Partisanenkriegen‘ verbunden war: mit Auseinandersetzungen, die immer um einen Staat, in dessen Horizont und auf dessen Boden geführt werden. Es gibt also nur noch Schurkenstaaten und gleichzeitig keine Schurkenstaaten mehr. Der Begriff ist an seine Grenze gestoßen, seine Zeit ist zu Ende.“ Bereits am 19.Juni 2000 habe  Madeleine Albright der Öffentlichkeit mitgeteilt, das ‚State Department‘ halte diese Bezeichnung nicht mehr für angebracht, man werde künftig neutraler und zurückhaltender von ‚States of concern‘ sprechen. Derrida übersetzte dies mit „‚Sorgenstaaten‘ (Etats préoccupants), Staaten, die uns viele Sorgen bereiten, aber auch Staaten, um die wir uns ernsthaft besorgen und kümmern müssen – behandlungsbedürftige Fälle, im medizinischen wie im juristischen Sinn.“

Das geschieht derzeit mit Libyen, während man sich bei Syrien noch um die Diagnose streitet. Eine Verurteilung des syrischen Regimes als „Schurkenherrschaft“ scheiterte im UN-Sicherheitsrat am Veto Russlands, dessen Außenamtsvertreter jedoch anschließend von der syrischen Regierung verlangte, dass sie die für den Tod von mindestens 500  Demonstranten verantwortlichen Regierungsorgane bestrafe. England lud zur Strafe den syrischen Botschafter bei der Hochzeit von Prinz William aus.

Wenn es auch keine Schurkenstaaten mehr gibt, so lebt doch der „Schurke“ weiter. Als Partisan neuen Typs hat Derrida in den Neunzigerjahren, zusammen mit Paul Parin, Michel Certeau und vielen anderen Autoren, die „Computer-Hacker“ und „Datenpiraten“ ausgemacht. Während die  aufständischen Araber neuen Typs nun von den Westmedien unter die „Facebook-Generation“ subsumiert werden. Große Hoffnungen werden auf sie gesetzt – von links bis rechts.

Gleichzeitig arbeitet  man auch hier an neuen „Protestformen“. Der DGB hatte extra eine linke Warmupperin für seine zentrale Kundgebung am 1.Mai vor dem Brandenburger Tor verpflichtet, die „Hoch die Internationale Solidarität“ mit den Arbeitermassen skandieren sollte. Schließlich beschwor die DGB-Hauptrednerin geradezu die etwa 5000 gelangweilt wirkenden „Gewerkschafter“: Dies sei ihr Tag – und nicht der der Chaoten! Damit meinte sie die Autonomen, die für ihre militante 1.Mai-Demo in Kreuzberg wenig später locker 15.000 mobilisierten. Aber auch sie sind auf der Suche nach weichen Alternativen zu ihrer bisherigen harten Linie. Und das nicht nur, weil „die Bullen“ immer entschiedener gegen sie vorgehen. Auf der DGB-Veranstaltung war dagegen die „Gewerkschaft der Polizei“ stark vertreten und es gab eine „Hüpfburg“.

Die „repressive Entsublimierung“ der arbeitenden Massen macht aber auch vor den linken Jobbern und Jobcenter-Klienten in Kreuzberg nicht halt: Hier wurde man am 1.Mai alle zehn Meter mit neuer Musik zugeschissen, so dass man unversehens zum energetischen Amüsierpöbel herunterkam. Eine energische Störung dieser Scheiße wie angekündigt, was ganz andere Ge-räusche produziert hätte, blieb leider aus.

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