Der „Kairo-Virus“ bringt es inzwischen auf 40.000 Eintragungen im Internet, desungeachtet werden die Subjekte der Arabischen Aufstände in den Westmedien immer mehr zu Objekten. Überhaupt nicht berichtet wird derzeit z.B. über die Aufständischen im Jemen, ebensowenig über die „anatolische Revolte“ – ein Sternmarsch von Gegnern gegen die Privatisierung von Wasser und den Bau von Staudämmen in der Türkei, der am 10.4. begann und am 20.5. in Istanbul enden soll. Auch die jugendlichen Demonstranten in der Mongolei, die in der vergangenen Woche mit Pferden und Kamelen in Ulan-Bataar einritten, um gegen ihre soziale Misere zu demonstrieren, war keiner Nachrichtenagentur eine Zeile wert.
Seit der Ermordung Osama Bin Ladens finden derzeit vermehrt Selbstmordattentate im Irak statt. AFP meldet heute:
Bei einem Selbstmordanschlag auf eine Polizeiwache im Irak sind mindestens 21 Menschen getötet worden. Mindestens 75 Polizisten wurden nach Behördenangaben am Donnerstag verletzt, als sich der Attentäter vor der Polizeiwache in Hilla südlich von Bagdad mit einem Auto in die Luft sprengte. Aus Angst vor Racheakten nach dem Tod von El-Kaida-Chef Osama bin Laden wurden die Sicherheitsmaßnahmen landesweit verstärkt.
In Tus Khurmatu im Norden des Irak starben bei einem Bombenanschlag auf einen örtlichen Sicherheitschef nach Polizeiangaben zwei Leibwächter. In Bagdad wurden durch eine Bombenexplosion ein Zivilist getötet und drei weitere Verletzt.
In der taz berichtet heute Inga Rogg aus Bagdad:
Mittwochvormittag im Irak. In Kerbala fordern zwei Anschläge drei Tote, in Kirkuk werden drei Verkehrspolizisten verletzt, als unter ihrem Wagen ein Sprengsatz explodiert, in Bagdad erschießen Unbekannte einen Polizisten und einen Ministerialbeamten, Militante greifen eine amerikanische Basis und ein Polizeihauptquartier, in dem auch US-Soldaten stationiert sind, mit Mörsergranaten an. Am Abend zuvor kommen in einem schiitischen Quartier in Bagdad neun Personen ums Leben, als vor dem Teehaus, in dem sie sich das Halbfinale der Champions League zwischen dem FC Barcelona und Real Madrid anschauten, eine Autobombe explodiert.
Die irakische al-Qaida hat Rache für den Tod von Osama bin Laden geschworen. Dass die Anschläge eine direkte Reaktion auf den Verlust des Terrorpaten sind, ist fraglich. Die Orte und die Zahl der Opfer sind verschieden, aber im Irak vergeht kaum ein Tag, ohne dass es Bombenanschläge und politisch motivierte Morde gibt. Die Sicherheitskräfte befürchten jedoch eine Zunahme der Gewalt. Zellen von al-Qaida könnten Selbstmordanschläge und andere Verbrechen verüben, sagte der Generalmajor Kassem Atta, Sprecher des Operationsstabs in Bagdad. In der gesamten Hauptstadt wurden die Sicherheitsvorkehrungen verschärft, noch mehr Polizisten und Soldaten patrouillieren in den Straßen.
Politiker aller Fraktionen haben über ihre ethnischen und konfessionellen Gräben hinweg die Nachricht vom Tod bin Ladens begrüßt. Staatspräsident Dschalal Talabani, ein Kurde, gratulierte seinem amerikanischen Amtskollegen Barack Obama und erklärte, dass die Welt damit das größte Symbol des Bösen und des Hasses auf die Menschheit losgeworden sei. Zugleich bekräftigte Talabani, dass die Iraker ein Verbündeter im Kampf gegen den Terror seien. Der schiitische Abgeordnete Aziz Egali sprach von einem glücklichen Tag für den Irak. Mit dem Tod von bin Laden ende ein dunkles Kapitel, sagte Parlamentspräsident Osama Nujeifi, ein Sunnit. Er hoffe, dass dies der Anfang vom Ende jeglicher Form des Extremismus sei und der Konfessionalismus überwunden werde.
Die Genugtuung der Iraker ist verständlich. In keinem Land der Welt hat der Terrorismus in den letzten Jahren so viele Todesopfer gefordert wie zwischen Euphrat und Tigris. Im Irak zeigt sich freilich auch, wie schwierig der Weg zum definitiven Sieg über die Extremisten ist. Mit Sorge blicken zurzeit viele auf Syrien und Jemen, aber auch nach Bahrain. Denn in allen drei Ländern wird das Bestreben der vornehmlich jungen Bürger von dem konfessionellen Konflikt zwischen Sunniten und Schiiten überschattet, der im Irak der al-Qaida erst zum Aufstieg verhalf. Syrien ist dabei ein Spiegelbild des Irak mit umgekehrten Vorzeichen. Dort herrscht die Minderheit der Alawiten, die wiederum eine Minderheit innerhalb der Schiiten bilden, über eine sunnitische Mehrheit; im Irak war es das sunnitische Saddam-Regime, das die Schiiten unterdrückte. Und wie im Irak leben in Syrien viele Kurden sowie Christen und andere Minderheiten. Viele Iraker wollen den Sturz des Assad-Regimes in Syrien. Zugleich befürchten sie aber, dass dieser zu einem erneuten Aufflammen des Konflikts zwischen Schiiten und Sunniten im eigenen Land führen und dass ein Regimewechsel der al-Qaida neuen Atem verschaffen könnte.
Die Demonstranten in Syrien beschwören derzeit die nationale Einheit und wollen die konfessionelle Spaltung überwinden. Aber im Irak weiß man nur zu gut, wie wenig solche Beteuerungen wert sein können. Auch sie hatten die Brüderlichkeit beschworen, als die perfide Saat des irakischen Al-Qaida-Chefs, Abu Mussab al-Sarkawi, längst aufgegangen war.
In einem Kommuniqué, das später den Amerikanern in die Hände fiel, hatte der aus Jordanien stammende Terrorist den Plan zu einem Bürgerkrieg ausgearbeitet. Mit Anschlägen auf Schiiten wollte er den Zusammenbruch des Staats herbeiführen, um dann auf dessen Trümmern einen islamischen Staat zu errichten. Der Plan war innerhalb der Al-Qaida-Führung umstritten. Das sinnlose Morden von schiitischen Zivilisten schade dem Ansehen von al-Qaida, kritisierte Aiman Sawahiri, der Stellvertreter von bin Laden. Es war freilich nur eine taktische Stellungnahme, denn es änderte nichts an der Dämonisierung der Schiiten als Ungläubige noch an dem Ziel, einen sunnitischen Gottesstaat zu errichten. Als Sarkawi im Juni 2006 bei einem Luftangriff der Amerikaner nördlich von Bagdad getötet wurde, war der Bürgerkrieg bereits voll im Gang. In Teilen des Landes und der Hauptstadt hatte er die mittelalterliche Version eines islamischen Staats verwirklicht, in dem es weder Schulen noch Strom geben darf. Nach Sarkawis Tod sanktionierte bin Laden den Mord an jedem, der die Amerikaner unterstützte, ob Sunniten, Schiiten oder Kurden.
Den Niedergang der irakischen al-Qaida läutete die Abkehr der Sunniten vom Terrorismus und ihr Bündnis mit den Amerikanern ein, was schließlich auch ihre schiitischen Gegenspieler zur Niederlegung der Waffen nötigte. Von Ende 2006 bis Anfang 2009 nahm die Gewalt drastisch ab. Obwohl die staatlichen Strukturen inzwischen gewachsen sind und die Sicherheitskräfte Dutzende von Al-Qaida-Führern festgenommen haben, ist das Gewaltniveau seit zwei Jahren mehr oder weniger konstant. Verglichen mit früher ist die irakische al-Qaida heute nur noch ein Schatten ihrer selbst. Aber es gelingt ihr weiterhin, in regelmäßigen Abständen Bombenanschläge zu verüben, die jeweils Dutzende von Toten fordern. Nicht alle Gewalt geht auf das Konto von al-Qaida. Gezielte Mordanschläge auf Beamte, die sich zurzeit häufen, werden Abrechnungen im Stil der Mafia zwischen den Parteien zugerechnet.
Die Terroristen seien jedoch nicht mehr in der Lage, die staatlichen Fundamente zu erschüttern, sagte der schiitische Abgeordnete Abbas Bayati im Gespräch. So sehen es auch die Amerikaner, die nicht müde werden, die irakischen Sicherheitskräfte zu loben. Diese sind bei der Aufklärung und auch logistisch auf die Amerikaner angewiesen. Dass die Probleme bis zum Abzug der letzten US-Truppen Ende dieses Jahres gelöst werden könnten, wird sehr skeptisch beurteilt. Die größte Herausforderung sei trotz aller Fortschritte nach wie vor die Sicherheit, sagte Bayati, der dem parlamentarischen Sicherheitsausschuss angehört.
Wie viele Iraker blickt er dabei auch auf die Entwicklungen in den Nachbarländern. „Wir mischen uns nicht in die Angelegenheiten der Nachbarländer ein“, sagte Bayati. „Wir haben selbst unter der Einmischung unserer Nachbarländer gelitten. Statt anderen Sorge zu bereiten, wollen wir ein Faktor der Stabilität in der Region sein.“ Andere Politiker werden deutlicher. „Wenn sich der konfessionelle Konflikt in den Nachbarländern verschärft, bleiben auch wir nicht verschont, sagte Kabinettsmitglied Mohammed Allawi.
Dieser Konflikt wird derzeit vor allem in Bahrain geschürt, wo das sunnitische Herrscherhaus mit Unterstützung von Saudi-Arabien erbarmungslos gegen die Schiiten vorgeht, die für Bürgerrechte und Demokratie auf die Straße gegangen sind. Die Solidaritätsbekundungen von schiitischen Politikern haben viele Sunniten im Irak verärgert und ihren Argwohn gegen die heute Mächtigen bestärkt, die für sie häufig nicht mehr als der lange Arm des Iran sind. Anders als während der Hoch-Zeit der al-Qaida sind die Sunniten heute in der Regierung vertreten. Sunniten leiden unter der Gewalt mindestens so wie die Schiiten. Viele Iraker sind jedoch pessimistisch. Die Beben in der Regionen verstärken das konstante Gefühl der Unsicherheit nur noch. Daran ändert auch der Tod von bin Laden nichts.
Reuters meldet aus Syrien:
Nach Beginn ihres Abzugs aus Deraa konzentriert sich die syrische Armee jetzt auf andere Hochburgen der Demokratie-Bewegung. So stürmten die Soldaten Bewohnern zufolge am Donnerstag den Damaszener Vorort Sakba. Außerdem zogen sie in Erwartung neuer Proteste nach den Freitagsgebeten den Ring um Rastan und das Sunniten-Viertel in der Stadt Banias enger. In Deraa sei der Auftrag der Armee nach zehntägigem Einsatz beendet, meldete die staatliche Nachrichtenagentur Sana. Einwohnern zufolge blieben Soldaten jedoch am Stadtrand in Bereitschaft.
Hunderte Armeeangehörige stürmten nach Angaben einer Bewohnerin den Vorort Sakba. Die Soldaten seien in Häuser eingedrungen und hätten wahllos Menschen festgenommen. „Dutzende Menschen wurden eingesperrt“, sagte die Frau der Nachrichtenagentur Reuters. Die Menschenrechtsorganisation Isan sprach von mindestens 260 Festnahmen in Sakba, in Deraa seien es während des gesamten Armee-Einsatzes mehr als 800 gewesen. Sicherheitskräfte und Anhänger von Präsident Baschar al-Assad töteten Menschenrechtlern zufolge während der seit sechs Wochen andauernden Proteste mindestens 560 Demonstranten.
Zwei andere Vororte von Damaskus seien ebenfalls umstellt worden, hieß es in Berichten von Anwohnern. In der bislang relativ ruhigen Hauptstadt sorgen sich die Menschen vor einem Überschwappen der Unruhen. Angst machten vor allem die Freitage, an denen es anderswo nach den Gebeten zu Protesten komme. Der arbeitsfreie Tag sei zu einem Alptraum geworden, sagte ein Student.
Die Jungle World interviewte einen syrischen Aktivisten:
Der 34jährige Ahmad Omari aus Damaskus, dessen Namen die Redaktion aus Sicherheitsgründen geändert hat, ist Aktivist der syrischen Freiheitsbewegung rund um das über Facebook initiierte Netzwerk »Syrian Revolution«. Von Beruf ist er selbständiger Innenarchitekt.
Viele sagen, die syrische Revolution habe mit Facebook angefangen. Stimmt das?
Ja, bei uns in Syrien war Facebook ebenso die treibende Kraft wie in Tunesien und Ägypten. Am Anfang war es das wichtigste Medium, um zu mobilisieren. Mittlerweile sind BBC-TV und die Fernsehsender al-Arabiya und al-Jazeera ebenfalls sehr wichtig geworden. Auch sie berichten, wenn eine Demonstration geplant ist. Allerdings beziehen auch sie ihre Informationen oft von den verschiedenen Facebook-Seiten. Mittlerweile gelangen fast alle Informationen und Videofilme über das Internet an die Öffentlichkeit. Ohne Internet wäre unser Aufstand in dieser Form nicht möglich.
Die für die Mobilisierung in Syrien wichtigste Facebook-Seite »The Syrian Revolution 2011« hat mittlerweile über 165 000 »Fans«. Hat der syrische Staat versucht, Ihre Seite zu stoppen?
Die Seite hätte viel mehr Freunde, wenn es in Syrien schon länger möglich gewesen wäre, auf Facebook zuzugreifen. Bis vor zwei Monaten konnte Facebook nicht legal genutzt werden, das ging nur über technische Umwege. Dass das Regime sich entschlossen hat, den Zugang zu Facebook zu legalisieren, hat jedoch nichts mit einer Liberalisierung zu tun. Es geht allein darum, Internetnutzer effektiver zu kontrollieren und zu verfolgen. Es wurden bereits zahlreiche Personen festgenommen, weil sie zu Hause oder im Internetcafé regimekritische Seiten angesehen haben. Ich kenne Leute, die zu Hause vom Geheimdienst abgeholt worden sind. Der Geheimdienst hat die Leute samt ihrem PC mitgenommen und extra viel Aufmerksamkeit erregt, damit alle Nachbarn sehen, was passiert, wenn man sich die falschen Seiten ansieht. Dieses Vorgehen soll abschreckend wirken.
Wie ist es überhaupt möglich, in einem Überwachungsstaat wie Syrien eine Seite wie die »Syrian Revolution« zu machen?
Es ist sehr schwierig. Gleichzeitig nutzen Millionen das Internet. Allein aufgrund dieser Masse von Nutzern hat der Staat nicht die Möglichkeit, jeden Einzelnen zu überprüfen. Wie gesagt, wenn die Geheimdienste doch herausfinden, dass regimekritische Seiten besucht werden oder dass jemand sogar selbst kritische Inhalte ins Netz stellt, werden die Leute festgenommen und zumeist gefoltert.
Wie kommt es, dass gerade in den zwei größten Städten Syriens, in Damaskus und Aleppo, bislang vergleichsweise wenige Menschen gegen das Regime demonstrieren?
Zum einen ist die Mittelschicht noch nicht bereit, sich am Aufstand zu beteiligen. Die Mittelschicht, die in diesen beiden Städten stark ist, hat etwas zu verlieren. Sie denkt an ihren Profit, will ihre Geschäfte und Unternehmen nicht schließen oder deren Existenz gefährden, um sich an Demonstrationen zu beteiligen. Ein Teil hat sich zudem mit den Herrschenden arrangiert und profitiert direkt vom Regime. Gleichzeitig ist der Geheimdienst in diesen zwei Städten überdurchschnittlich präsent. In jeder Straße stehen Mitarbeiter irgendeines Dienstes, das schüchtert die Menschen natürlich ein. Als in Damaskus die Studenten protestiert haben, wurden sie innerhalb von Minuten auseinandergetrieben und geschlagen, viele sind festgenommen worden. Man könnte meinen, dass es an der Universität Damaskus inzwischen mehr Geheimdienstler als Studenten gibt. Sobald sich irgendwo an einem wichtigen Ort in Damaskus oder Aleppo eine Gruppe von drei, vier Leuten versammelt, ist der Geheimdienst da. Es hat in beiden Städten immer wieder Versuche gegeben zu demonstrieren, aber der Geheimdienst hat sofort eingegriffen.
Hat der Geheimdienst denn so viele Mitarbeiter?
Ein Freund von mir arbeitet bei einer Behörde, unter seiner Aufsicht stehen um die 1 500 Beamte. Seit Wochen sind diese Beamten verpflichtet, am Freitag und Samstag auf die Straße zu gehen. Dabei handelt es sich nicht um einen Einzelfall. Tatsächlich werden die meisten Beamten in Damaskus gezwungen, sich freitags und samstags, wenn sie eigentlich frei hätten, an ihrem Arbeitsplatz einzufinden. Von dort werden sie mit Bussen abgeholt und vom Geheimdienst zu bestimmten Orten gebracht. Sie werden mit elektrischen Knüppeln aus dem Iran ausgestattet, und wenn es eine Demonstration gibt, müssen sie zuschlagen und die Leute auseinandertreiben. Einige weigern sich und werden festgenommen. Trotz dieser Repression steigt die Zahl der Demonstranten auch in Damaskus und Aleppo.
Es wird zuweilen behauptet, Bashar al-Assad habe gar nicht die Kontrolle über den Geheimdienst, er sei daher nicht verantwortlich für die brutale Niederschlagung des Aufstandes.
Ich glaube nicht an dieses Märchen. Bashar ist bestens informiert und für den Tod der Menschen verantwortlich. Es ist nichts als Propaganda seines Apparates, dass er eigentlich modern und reformbereit sei. Das ist Unsinn! Die Haltung der Armee ist weniger eindeutig. Viele Soldaten wollen nicht auf Demonstranten schießen, in Deraa wurden bereits einige von ihnen vom Geheimdienst umgebracht. Ein Bekannter von mir dient bei der fünften Einheit, die in Deraa stationiert ist. Er hat bei seinen Eltern angerufen und ihnen gesagt, dass ihre Einheit sich bisher weigert, auf Demonstranten zu schießen. Auch er will das nicht. Er sagt, es könne passieren, dass er deshalb umgebracht wird.
Wie wird es in Syrien weitergehen? Wird Bashar al-Assad zurücktreten?
Es wird noch sehr blutig werden. Bashar al-Assad wird nicht so schnell seinen Platz räumen. Dieses Regime ist gewillt, noch viele Menschen umzubringen, um sich selbst zu retten. Aber zum Schluss wird Bashar al-Assad gehen müssen.
Welche Rolle werden die jungen Menschen, die die treibende Kraft der Revolte sind, in einem neuen Syrien spielen?
Sie werden eine wichtige Position einnehmen. Mehr als 65 Prozent der Gesellschaft besteht aus Menschen unter 25 Jahren. Viele von ihnen sind jetzt politisiert, sie werden es sich nicht nehmen lassen, bei der Neugestaltung der syrischen Gesellschaft eine Rolle zu spielen.
Und werden auch radikale Islamisten eine Rolle spielen? Wie mächtig sind die Muslimbrüder? In Europa wird befürchtet, dass es nach einen Sturz Assads zu ethnischen oder religiösen Konflikten kommen wird.
Das ist Unsinn. Der Apparat verbreitet diese Gerüchte. Es ist doch der Staat selbst, der seit vielen Jahren radikale Gruppen protegiert. Wer unterstützt denn die Hamas in Palästina und die Hizbollah im Libanon? Viele radikale islamistische Gruppen, die Selbstmordanschläge und andere Aktionen im Irak durchführen, erhalten bis heute Unterstützung. Viele dieser radikalen Gruppen unterhalten Trainingslager in Syrien oder im Libanon, die sozusagen unter der Schirmherrschaft des syrischen Staates stehen. Insbesondere die Rolle der Muslimbrüder wird übertrieben. Sie sind nicht so stark, wie gerne getan wird. Die treibende Kraft dieser Revolution sind die jungen Leute und nicht irgendeine politische Richtung oder Partei. Und diese jungen Leute haben überall im Land dieselben Ziele. Bei allen Demonstrationen wird gerufen: »Syrien ist eine Hand« und »Syrien ist eine Einheit«. Diese Slogans sind dieselben, ganz egal, ob man sich in überwiegend syrisch-alawitischen, sunnitischen oder kurdischen Städten befindet.
Diese Slogans sind nicht sehr konkret. Welche Forderungen haben die Demonstranten?
Sie wollen Freiheit und Gleichheit. Sie wollen Demokratie. Dieser Staat ist durch und durch korrupt und ein Unrechtsstaat. Wir haben mindestens 13 Geheimdienste. Jeder Mitarbeiter des Geheimdienstes kann dich aus einem nichtigen Grund mitten auf der Straße, zu Hause, einfach überall, beleidigen, schlagen, mitnehmen. Und du kannst nichts dagegen machen. Es gibt keine Menschenwürde in diesen Staat. Dieser Staat ist ein Staat der Geheimdienste und der Familie Assad und ihrer Freunde. Sie beuten ihn für sich aus. Junge und Alte, alle wollen endlich ein freieres und gerechteres System.
Aus Deraa ist immer wieder zu hören, dass das Ausland intervenieren soll. Wie soll eine solche Intervention aussehen?
In Deraa sterben täglich Menschen. Entweder durch Schüsse des Geheimdienstes und des Militärs oder aufgrund der Einkesselung der Stadt durch Armee und Geheimdienste. Es gibt seit fast zwei Wochen keine Strom- und keine Wasserversorgung. Im Moment ist aber niemand in Syrien dafür, dass ausländisches Militär ins Land einmarschiert oder aus der Luft angreift. Die westlichen Regierungen sollten Bashar zusichern, dass er, wenn er jetzt das Land verlässt, später nicht vor ein internationales Gericht gestellt wird. Er ist noch jung, steht nicht kurz vor dem Tod wie Mubarak. Er soll mit seinen Kinder und seiner Frau den Rest seines Daseins in einem schönen Land verbringen. Sollte er auf diesen Vorschlag nicht eingehen, sollte ihm unmissverständlich klar gemacht werden, dass er für die Ermordung von Tausenden von Menschen zur Verantwortung gezogen werden wird. Ich glaube, eine solche Strategie würde Wirkung zeigen. Wenn nicht, und wenn auch klassische Sanktionen wie ein Embargo, Reisebeschränkungen oder das Einfrieren von Geldern nicht helfen, dann sollte auch über eine militärische Intervention nachgedacht werden.
Aus Libyen meldet dpa heute:
Die internationale Libyen-Kontaktgruppe will einen Hilfsfonds zur finanziellen Unterstützung der Gaddafi-Gegner einrichten. Darauf verständigten sich die Außenminister aus mehr als 20 Ländern am Donnerstag in Rom. In den Treuhand-Fonds soll Geld aus dem Vermögen von Machthaber Muammar al-Gaddafi einfließen, das im Ausland eingefroren wurde. Allein in Deutschland sind Konten des Gaddafi-Regimes mit Guthaben in Höhe von etwa 6,1 Milliarden Euro gesperrt. Unterdessen traf ein Schiff mit über 1000 Flüchtlingen aus der belagerten westlibyschen Stadt Misrata in der Aufständischen-Hochburg Bengasi ein.
Aus Ägypten berichtet AFP:
Drei Monate nach dem Umsturz in Ägypten ist es im Zentrum Kairos erneut zu Zusammenstößen zwischen Anhängern und Gegnern des früheren Präsidenten Husni Mubarak gekommen. Dutzende Menschen wurden verletzt, als beide Seiten sich am Mittwoch mit Steinen bewarfen, wie ein Sicherheitsvertreter der Nachrichtenagentur AFP sagte. Ausgelöst worden sei die Gewalt von Anhängern Mubaraks, die ihn anlässlich seines 83. Geburtstags als „nationales Symbol“ gefeiert und Straffreiheit gefordert hätten. Den Angaben zufolge forderten Gegner des Ex-Staatschefs daraufhin dessen Hinrichtung. Die Armee habe die Gewalt letztlich beendet.
Das Handelsblatt meldete gestern aus dem Jemen:
Terroristen der Al-Kaida im Jemen haben am Mittwoch in der südlichen Stadt Sindschibar bei einem Anschlag sieben Menschen getötet. Vier Soldaten und drei Polizisten starben, als ein Sprengsatz unter einem Militärfahrzeug mitten auf einem belebten Markt in der Hauptstadt der Provinz Abjan explodierte. Neun weitere Menschen wurden verletzt, berichteten die staatliche Agentur Saba und Augenzeugen. Ein Al-Kaida-Kämpfer wurde bei einem anschließenden Feuergefecht mit Sicherheitskräften verletzt.
Die FAZ berichtet, „Im Jemen haben die Frauen die Initiative ergriffen“:
Tawakul Kamran widerlegt alle Vorurteile. Der Jemen ist eines der konservativsten Länder der arabischen Welt, in der Öffentlickeit sind fast nur Männer sichtbar. Und doch ist gerade die 32 Jahre alte Mutter von drei Kindern Stimme der jemenitischen Jugend geworden – und ihr Gesicht. Sie gehört zum kleinen Kreis der Aktivisten, welche die Bewegung koordinieren. Für viele junge Frauen, die sich den Protesten angeschlossen haben, ist sie ein Vorbild. Seit dem ersten Tag der Proteste gegen Staatspräsident Ali Abdullah Salih lebt sie in der Zeltstadt vor der Universität von Sanaa, in der sie früher Verwaltungswissenschaft studiert hat. Auf diesem Platz, den die Jugend in den „Platz des Wandels“ (Sahat al Taghiir) umbenannt hat, wendet sich die eloquente junge Frau von einem Podest regelmäßig an die Jugend. Sie ermutigt sie, ihr Land jetzt neu zu schaffen, und sie rüttelt die Frauen auf, sich nicht allein für sogenannte Frauenthemen zu interessieren. Selbstbewusst fordert sie Salih heraus: „Es ist unsere Entscheidung, wann er geht, und nicht seine“, sagt sie entschieden. „Wir wollen und wir werden ihn zum Rücktritt zwingen.“
Nein, sie widerlege keine Vorurteile, stelle nur alte Traditionen wieder her, sagt die charismatische Aktivistin. Am ersten Tag der Proteste, am 15. Januar, waren unter den vielen Männern nur drei Frauen mitmarschiert. Das sei das Ergebnis von Jahrzehnten der Herrschaft von Salih. Heute kommen jeden Tag mehrere zehntausend Frauen auf den „Platz des Wandels“, an Freitagen mehrere hunderttausend. „Damit knüpfen wir an Epochen in der Geschichte des Jemen an, in denen die Frauen Führung und Verantwortung übernommen hatten.“ (…)
Der 15. April war ein Wendepunkt. An jenem Freitag wollte Salih die Proteste gegen ihn ausbremsen, indem er die Beteiligung der Frauen als Verstoß gegen das islamische Gesetz verurteilte und sie aufforderte, doch lieber wieder zu Hause zu bleiben. Das Gegenteil trat ein. Mehr und mehr Frauen folgten Takawul Kamran, die einen weiteren Beweis für ihre These gefunden hatte, dass Salih die Frauen stets aus der Öffentlichkeit habe drängen wollen. Das Gegenteil von dem , was der Präsident gewollt habe, sei eingetreten, frohlockt sie. Eine gesellschaftliche und kulturelle Revolution sei schon eingetreten. Nun müsse die politische Revolution Gleichheit vor dem Gesetz, gleiche politische Rechte schaffen und den Präsidenten stürzen.
Die Aktivistin freut sich darüber, dass es im Protestcamp mit seinen mehr als 2000 Zelten viele „Vereinigungen“ und „Verbände“ gibt, die nebeneinander agieren und sich nicht einem Sprecher unterstellen. So lerne jeder, sich zu engagieren und Verantwortung zu übernehmen, doziert sie. Die Jugend aus allen Schichten und Landesteilen solle so zusammenkommen.
Tawakul Kamran gehört zu den wenigen jemenitischen Frauen, die ihr Gesicht nicht verschleiern. Aber auch die Frauen mit Schleier sind nicht weniger entschlossen. „Diese Revolution hat den Jemen bereits grundlegend verändert“, sagt die 24 Jahre junge, unverheiratete Journalistin Afra. „Ich will, dass die Welt versteht, dass wir Frauen unseren Platz nicht mehr im Haus sehen, sondern im öffentlichen Leben.“ Das will auch die 19 Jahre junge Buthaina, die hofft, bald studieren zu können. Seit sechs Wochen geht sie zu den Kundgebungen und Protesten. Ihre Familie hatte es ihr zunächst verboten. Dann setzte sie sich durch, und heute sind auf dem weitläufigen Platz auch ihr Vater und ihre Brüder. Neben der jungen Frau steht die 29 Jahre alte Zainab, die islamische Theologie studiert hat, arbeiten will, aber keine Arbeit findet. Nun will sie verhindern, dass der Jemen einen Präsidenten auf Lebenszeit hat. Natürlich könnte ich zu Hause bleiben, sagte sie. „Aber hier, hier kann ich doch etwas verändern.
In seinem Buch „Traurige Tropen“ schrieb Claude Lévi-Strauss 1955:
„Möge der Westen nach den Quellen seiner Zerrissenheit forschen: indem sich der Islam zwischen den Buddhismus und das Christentum schob, hat er uns islamisiert, nämlich als der Westen sich von den Kreuzzügen verleiten ließ, sich dem Islam entgegenzustellen und damit ihm ähnlich zu werden, statt sich, als hätte der Buddhismus nie existiert, zu jener langsamen Osmose mit ihm bereitzufinden, die uns noch mehr christianisiert hätte, und zwar in einem umso christlicheren Sinn, als wir zu den Wurzeln des Christentums selbst vorgedrungen wären. Damals hat der Westen die Chance verspielt, Frau zu bleiben. (…)
„Ich verzeihe es dem Islam kaum, daß er mir unser eigenes Bild vor Augen führt und mich zu erkennen zwingt, wie sehr Frankreich im Begriff steht, mohammedanisch zu werden. Bei den Mohammedanern beobachte ich die gleiche buchgläubige Haltung wie bei uns, den gleichen utopischen Geist sowie jene hartnäckige Überzeugung, daß es genüge, die Probleme auf dem Papier zu entscheiden, um ihrer alsbald los und ledig zu sein. So wie der Islam starr in die Betrachtung einer Gesellschaft versenkt bleibt, die vor sieben Jahrhunderten real gewesen war und für deren Probleme er damals wirksame Lösungen fand, gelingt es auch uns nicht mehr, außerhalb der Kategorien einer seit anderthalb Jahrhunderten versunkenen Zeit zu denken, jener Zeit, da wir uns mit der Geschichte in Einklang zu bringen wußten; nur war sie viel zu kurz, denn Naopoleon, jener Mohammed des Westens, ist dort gescheitert, wo der andereErfolg hatte. Ähnlich wie die islamische Welt erleidet das Frankreich der Revolution das Schicksal, das reumütigen Revolutionären beschieden ist, nämlich sich zu nostalgischen Bewahrern jenes Zustands zu entwickeln, in dem sie sich einst zur Veränderung bekannt haben.“
Der Freitag-Herausgeber Jakob Augstein schreibt heute über „Bruder Bin Laden“:
Im Oktober 2001 schrieb Arundhati Roy, dass Osama bin Laden „der dunkle Doppelgänger des amerikanischen Präsidenten“ sei. Sie nannte George Bush und bin Laden „Zwillinge“ und erklärte sie für „austauschbar“. Zur selben Zeit – da hatte der Krieg gegen den Terror noch gar nicht richtig begonnen – schrieb Botho Strauß, jetzt breche der „Kampf der Bösen gegen die Bösen“ an, und „die Blindheit der Glaubenskrieger und die metaphysische Blindheit der westlichen Intelligenz“ bedingten einander. Das waren schwer erträgliche Worte so kurz nach den Angriffen auf New York und Washington, als die Leichen noch unter den Trümmern lagen. Aber es war die Wahrheit.
Zehn Jahre danach wissen wir, wie das ist, wenn das Böse mit dem Bösen bekämpft wird, das Unrecht mit dem Unrecht. Wir haben die Gefolterten von Abu Ghraib gesehen, die Entführten aus den Gulfstreams der CIA, die Gefangenen von Guantánamo, die Getöteten des Drohnenkrieges. Diese Bilder werden für immer neben denen der brennenden Zwillingstürme von New York stehen und neben denen der zerfetzten Eisenbahnen von Madrid und London.
Während der Westen seinen Feind bekämpfte, wurde er wie er. Wir haben uns die Logik der Rache und die Rhetorik der Gewalt aufzwingen lassen und haben dem viel zu wenig entgegengesetzt.
„Orient vergegnet Okzident“. Photo: fr-online.de