vonHelmut Höge 11.05.2011

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“Das syrische Regime tötet sein Volk,” titelt die taz heute und interviewte einen prominenten syrischen Schriftsteller:

“Yassin Haj Saleh lebt im Untergrund und wechselt regelmäßig sein Versteck. Der prominente Dissident hat Angst, dass ihn die Sicherheitsdienste festnehmen, schließlich hat der heute 50-Jährige bereits 16 Jahre seines Lebens in Haft verbracht.

Freie journalistische Berichterstattung aus Syrien ist derzeit unmöglich – weder Pressefotos noch gesicherte Informationen gelangen aus dem Land heraus. Der taz ist es gelungen, mit Saleh zu sprechen. Er schildert seine Eindrücke aus dem abgeschotteten Land, schätzt Stärke und Möglichkeiten der Opposition ein. Und er berichtet von seinen ganz persönlichen Erfahrungen und Ängsten: “Ich rechne in jedem Moment damit, dass sie mich erwischen”, sagt er.

Die Demonstrationen in dem Land gehen unterdessen weiter: Hunderte Frauen demonstrierten gestern in Banias gegen die jüngste Verhaftungswelle des Regimes. Sie verlangten die sofortige Freilassung aller Gefangenen, berichteten Aktivisten. Der Protest folgte einer ähnlichen Aktion in der Nacht zuvor, als rund 200 Menschen in Damaskus gegen die “Belagerung” mehrerer Städte durch das Militär demonstrierten. Die Sicherheitskräfte trieben sie auseinander und nahmen mehrere Teilnehmer fest, meldete die Exilorganisation Syrische Menschenrechts-Beobachtungsstelle.

Syrische Truppen sind in den vergangenen Tagen mit gepanzerten Verbänden in mehrere Vorstädte von Damaskus sowie in die Städte Homs, Banias und Daraa eingerückt. Sie sichern eine massive Verhaftungswelle durch Polizei und Geheimdienst ab, bei der mutmaßliche Teilnehmer und Sympathisanten der seit fast zwei Monaten währenden Proteste bei Hausdurchsuchungen abgeholt werden. Laut Menschenrechtsaktivisten wurden bislang 8.000 Menschen verhaftet oder verschleppt.”

taz: Herr Saleh, Sie sind ein renommierter politischer Autor in Damaskus. Nun leben Sie bereits seit Wochen im Untergrund. Wer ist hinter Ihnen her?

Yassin Haj Saleh: Ja, es stimmt, ich verstecke mich. Am 30. Januar habe ich meine Wohnung verlassen. Tatsächlich war zu diesem Zeitpunkt wohl noch niemand hinter mir her. Doch ich entschied mich unterzutauchen, damit ich frei sprechen kann. Inzwischen muss ich davon ausgehen, dass der Geheimdienst mich sucht. Ich rechne in jedem Moment damit, dass sie mich erwischen. Denn über mein Mobiltelefon könnten sie mich ausfindig machen. Ich will es aber nicht abschalten, damit ich weiter erreichbar bin.

Können Sie schildern, wie Ihr Alltag im Moment aussieht?

Ich befinde mich an einem sicheren Ort, zumindest hoffe ich das. Ich bleibe nie lange in ein und demselben Versteck. Ich habe meinen Laptop bei mir, darauf schreibe ich jeden Sonntag einen Beitrag für die Zeitung al-Hayat. Ich versuche, mit meinen Freunden in Verbindung zu bleiben. Ab und an gehe ich raus, um mich mit Leuten zu treffen, aber nicht öfter als alle zwei oder drei Tage.

Das, was Sie beschreiben, klingt sehr bedrückend. Wie gehen Sie persönlich mit der Situation um?

Natürlich mache ich mir Sorgen. Ich habe Angst, dass sie mich verhaften, denn ich war 16 Jahre lang als politischer Häftling im Gefängnis und weiß, was das bedeutet. Doch ich bereue meine Entscheidung nicht. Denn Syrien steht an einem kritischen Punkt: Wir müssen diesen Kampf gewinnen und der schwierigen Herausforderung begegnen, ein freies Land aufzubauen.

Sie gehören zu einer Generation von Dissidenten in Syrien, die seit Jahrzehnten ohne nennenswerten Rückhalt in der Bevölkerung für demokratische Reformen eintreten. Nun gehen Tausende von unbekannten, überwiegend jungen Leuten auf die Straße und fordern Freiheit und Demokratie. Inwieweit sind Sie in die gegenwärtigen Proteste eingebunden?

Ich denke, unsere Rolle besteht darin, eine Vision für ein neues Syrien zu entwerfen. Wir versuchen zu vermitteln, was draußen auf den Straßen passiert, dass es den Demonstranten um Freiheit und nationale Einheit geht. Das ist es, was in den Slogans auf ihren Bannern gefordert wird. Viele Menschen glauben, dass der Aufstand von Islamisten getragen wird. Doch das stimmt nicht: Die Protestbewegung ist demokratisch und säkular geprägt, und das ist es, was wir erklären wollen.

Doch warum gelingt diesen jungen Aktivisten, was Sie und die anderen Oppositionellen vergeblich versucht haben – nämlich Tausende zum Aufstand gegen das autoritäre Regime zu mobilisieren?

Ich denke, das ist das Ergebnis mehrerer Faktoren. Erstens stehen den Demonstranten die neuen Werkzeuge der Kommunikation zur Verfügung. Sie wissen, wie sie das Satellitenfernsehen, ihre Mobiltelefone und das Internet nutzen können. Zweitens hat das Beispiel der friedlichen Revolutionen in Tunesien und Ägypten sie inspiriert. Und drittens ist diese junge Generation viel pragmatischer in ihren Forderungen. Sie sind weniger abstrakt, weniger ideologisch, als wir es waren.

Am Wochenende hat die Opposition erstmals einen Katalog von Forderungen vorgelegt. Die Facebook-Seite “Syrian Revolution 2011” tritt nicht für den sofortigen Sturz von Präsident Baschar al-Assad ein, sondern für freie Wahlen in sechs Monaten. Doch lässt sich überhaupt mit Bestimmtheit sagen, ob diese Gruppe die Mehrheit der Aufständischen repräsentiert?

Dieser Katalog ist nicht als offizielles Programm der syrischen Opposition zu verstehen. Es ist ein Forderungsbündel unter vielen. Ich denke, wenn wir in sechs Monaten freie Wahlen erreichen, wäre uns die Revolution gelungen. Doch wir werden uns nicht auf Versprechen verlassen. Denn eines steht fest: Wir wollen nicht mehr in einem Einparteiensystem leben, wir wollen dieses repressive Regime und seinen Sicherheitsapparat nicht mehr.

Die Protestbewegung hat nach wie vor keine politische Führung. Vor einigen Tagen hieß es, das Regime wolle verhandeln, wisse aber nicht, mit wem. Besteht also die Gefahr, dass die Energie des Aufstands verpufft, weil es keine klaren organisatorischen Strukturen gibt?

Ich denke nicht, dass das ein Problem ist. Auch bei den Protesten in Tunesien und Ägypten gab es ja keine politische Führung. Zudem ist dieses Fehlen einer tragfähigen Opposition eine der bitteren Früchte, die dieses Regime hervorgebracht hat. In Syrien kann jeder politische Aktivist, jeder Dissident und jeder Menschenrechtler ständig verhaftet werden. Jetzt stellen sie sich hin und behaupten: Wir können nicht ersetzt werden, weil es keine Alternative gibt. Erst haben sie die politische Landschaft in Syrien zerstört, dann benutzen sie dies als Argument für ihren Machterhalt.

Doch tatsächlich bleibt unklar, wie eine Zukunft in Syrien nach al-Assad aussehen könnte. Zudem ist die Bevölkerung aus vielen verschiedenen Konfessionen zusammengesetzt. Viele fürchten daher, dass ein Sturz des Regimes den Ausbruch religiöser Konflikte nach sich ziehen könnte.

Das denke ich auf keinen Fall. Ich bestreite ja nicht, dass schwere Zeiten vor uns liegen. Niemand sagt, dass wir in wenigen Monaten eine stabile Demokratie aufbauen könnten. Doch das Regime erpresst die syrische Bevölkerung und die internationale Gemeinschaft, indem es sagt: entweder wir oder das Chaos. Das ist ein wichtiger Teil der Mythologie, die das Regime zu seiner eigenen Rechtfertigung aufgebaut hat. Das Gegenteil trifft zu: Je länger das Regime an der Macht bleibt, desto stärker ist die nationale Einheit des Landes bedroht. Man muss sich doch die Demonstranten nur anschauen: Das sind keine islamischen Extremisten, sondern normale Leute, die friedlich für die Freiheit demonstrieren. Die Einzigen, die ständig von religiösen Konflikten reden, sitzen in der Regierung.

Nach wie vor versucht die Armee in den Protesthochburgen Daraa, Banias und Homs die Proteste mit aller Gewalt niederzuschlagen. Haben Sie eine Vorstellung davon, wie es dort vor Ort aussieht?

Ich erhalte keine direkten Informationen mehr aus Daraa und Banias. Diese Städte stehen unter militärischer Besatzung, es gibt keinen Strom, kein Telefon, nicht mal fließendes Wasser. Dieses Regime tötet sein Volk, es tötet sein Land. Heute wurde einer humanitären UN-Mission der Zugang nach Daraa verweigert, man kann sich also nur ausmalen, wie die Situation dort derzeit ist.

Wie kommen Sie in Ihrem Versteck überhaupt an Informationen?

Ich habe ein großes und zuverlässiges Netzwerk von Freunden, die mich auf dem Laufenden halten. Nur Daraa und Banias sind inzwischen vollständig von der Außenwelt abgeschnitten.

Doch was haben die Demonstranten Panzern und scharfer Munition entgegenzusetzen? Wie lange können die Proteste angesichts dieser Übermacht aufrechterhalten werden?

Seit sieben Wochen demonstrieren die Menschen, seit sieben Wochen wird auf sie geschossen. Bislang haben sie rund 800 Menschen getötet. Trotzdem gibt es weiterhin Proteste. Ich denke nicht, dass sie Zehntausende töten können. Es gibt eine Grenze, und die haben wir bald erreicht. Das mag Wunschdenken sein, doch ich bin sicher, dass das Ende des Regimes eingeläutet ist. Sie haben den Menschen nichts anzubieten, deswegen werden sie letztendlich verlieren.

Viele sind überrascht, weil Baschar al-Assad so brutal durchgreifen lässt. Der junge Präsident galt bislang eher als Reformer. Haben die Menschen ihn falsch eingeschätzt?

Assad ist ein Modernisierer, kein Reformer. Das bedeutet: Er hat das System an die Moderne angepasst. Nun gibt es Privatbanken, die Wirtschaft wurde liberalisiert, eine neue Elite hat sich herausgebildet. Das Land sieht anders aus als während der Regierungszeit seines Vaters. Das ist aber auch schon alles. Es gibt nicht mehr Freiheit, nicht mehr Würde, nicht mehr Offenheit. Ich denke nicht, dass dieses Regime fähig zu Reformen ist. Denn die Machtstrukturen beruhen nicht auf dem Willen des Volkes. Und das lässt sich nur ändern, wenn man die Strukturen selbst ändert.

Seit einigen Wochen zeichnet sich eine Eskalation ab: Das Regime verstärkt die Repressionen, gleichzeitig schwellen die Proteste an. Wird sich diese Spirale der Gewalt weiterdrehen?

Das befürchte ich. Das Regime versucht, mit dem Einsatz seiner Muskeln ein Problem zu lösen, das gedanklicher Natur ist. Eine politische Einigung haben sie bislang nicht vorgeschlagen. Ich kann nur hoffen, dass der interne Druck steigt und Leute innerhalb des Machtapparats zum Umdenken bringt. Nur so kann der Teufelskreis der Gewalt durchbrochen werden.

Sie selbst haben bereits 16 Jahre lang im Gefängnis gesessen. Woher nehmen Sie die Kraft?

Vielleicht ist gerade meine Zeit im Gefängnis der Grund. Ich habe meine gesamte Jugend im Gefängnis verbracht, die Zeit, in der andere ihren Universitätsabschluss machen. Es ist schwer zu erklären, doch auf eine bestimmte Art hat diese Erfahrung mich befreit. Denn die Freiheit ist zum Dreh- und Angelpunkt meines Lebens geworden. Und nun hoffe ich, dass mein Volk, vor allem die junge Generation, ein besseres Leben vor sich hat, als wir es hatten.

In der Jungen Welt schrieb Karin Leukefeld gestern über Syrien, ihr letzter Satz lautet:

“Seit Wochen werden die Proteste fortgesetzt und sind damit zum Fanal für viele andere Unzufriedene im Land geworden. Angefacht werden die Aktionen von im Ausland stationierten Web- und Facebookseiten, darunter die »Syrische Revolution 2011«, die am Wochenende einen politischen Forderungskatalog veröffentlichte. Die Webseite wird von einem in Schweden lebenden Vertreter der Muslim-Bruderschaft betrieben.”

Obwohl die Autorin ansonsten davor warnt, die Funktion des Internets im Allarabischen Aufstand allzu wichtig zu nehmen, gesteht sie dieser einen Webseite eine Art Rädelsführerschaft im syrischen Aufstand zu. Sie ist bereits mehrmals in ihren JW-Artikeln darauf zurückgekommen.

In der Neuen Zürcher Zeitung vom Wochenende hat der Iraner Farhad Khosrokhavar, Forschungsdirektor an der Ecole de hautes études en sciences sociales (EHESS) in Paris, zwei Artikel veröffentlicht. Im ersten geht es um islamische Idole:

“…Für die in Europa lebenden jungen Muslime der zweiten und dritten Generation – die häufig aus bescheidenen Verhältnissen stammten und die sich wurzellos und von der Gesellschaft abgelehnt fühlten – war bin Ladin zudem ein Antidot gegen Rassismus und Symbol einer neu entdeckten Würde. Sie fühlten sich weder als Orientalen noch als Europäer, weder als Algerier noch als Franzosen, weder als Pakistaner noch als Engländer, und ihre Identität ging an dem ständigen Weder-noch zu Fetzen. In diesem Zustand der doppelten Negation – sie konnten weder die Identität ihrer Eltern noch die der neuen Heimat beanspruchen – entdeckten sie in bin Ladin etwas grundlegend Affirmatives: Indem sie Furcht und Hass erweckten, konnten sie sich bei den Europäern zumindest Respekt verschaffen. Eine Logik der Angst, bei der Achtung um den Preis von Ablehnung erworben wurde.

Die Angst wirkte zudem als ausgleichende Kraft: Der Europäer, der sich dem jungen Muslim überlegen fühlte, war nun gezwungen, ihm auf Augenhöhe gegenüberzutreten – nicht gutwillig allerdings, sondern mit Furcht und Zittern. So griffen Jugendliche nur zu gern nach der revolutionären Symbolik, die bin Ladin verkörperte: Manch einer streifte ein T-Shirt mit seinem Porträt über, eine geringe Zahl schloss sich auch extremistischen Gruppierungen an; so fühlten sie sich gefeit gegen die kaum verhohlene Missachtung, der sie allenthalben begegneten. Aber diese Strategie hat natürlich ihre Achillesferse: Je mehr man sich Respekt durch Furcht verschafft, desto kleiner wird die Chance, sich an dem Ort zu integrieren, wo man – trotz allem – lebt und leben muss. (…)

In der arabischen Welt ist die Ära bin Ladin vorbei; zwar existieren im Maghreb, im Irak und auf der Arabischen Halbinsel noch Splittergruppen, die den Namen der Kaida auf dem Banner tragen, aber ihre Anziehungskraft verblasst rasch angesichts der neuen Hoffnungen auf Volkssouveränität, soziale Gerechtigkeit und ein Ende der Diktatur. In der arabischen Welt starb Usama bin Ladin schon in dem Moment, da der junge Tunesier Mohammed Bouazizi, statt andere zu töten, sein eigenes Leben den Flammen opferte und damit das Fanal der jungen Demokratiebewegung entzündete. Er hat sich der Gewalt verweigert und Hand an sich selbst gelegt, um gegen Unrecht zu protestieren; von dieser Geste ging eine Bewegung aus, die zum Sturz der Diktatoren Ben Ali und Mubarak führte und als mächtige Demokratiewelle die gesamte arabische Welt erfasste. Damit war Usama bin Ladins Ende symbolisch besiegelt, lange bevor er im Kreuzfeuer eines amerikanischen Einsatzkommandos starb. – Was die Amerikaner angeht, könnte man angesichts der neuen Erkenntnisse sagen, dass sie es waren, welche die Logik der Gewalt fortsetzten, indem sie den offenbar Unbewaffneten erschossen, statt ihn gefangen zu nehmen. Vor ein internationales Gericht gestellt, wäre bin Ladin ein Verbrecher gewesen; gewaltsam getötet, wird er in den Rang eines Märtyrers erhoben.”

In seinem zweiten NZZ-Artikel “Keine Ankunft im Paradies” geht es Farhad Khosrokhavar um die Situation muslimischer Emigranten in Europa:

“…Die eigene kulturelle Prägung erschwert dieser Immigrantengruppe in vieler Hinsicht den Umgang mit Europäern und europäischen Lebensformen. Reibungsflächen sind etwa die Geschlechterbeziehungen und der Umgang mit der Sexualität, der im Westen freizügig gehandhabt wird, in der islamischen Welt jedoch in den religiösen Kodex eingebunden ist; weiterhin die patriarchale Familienstruktur, die in Europa zunehmend hinterfragt wird, und das Verhältnis zwischen den Generationen – in der islamischen Kultur ist Respekt gegenüber den Eltern geboten, und Körperstrafen sind weniger tabuisiert. Nicht zuletzt wäre die Glaubenspraxis selbst zu nennen: Der Islam bestimmt Verhalten und Alltagsleben in einem für säkularisierte Europäer nur schwer nachvollziehbaren Mass.

Für Immigrantinnen der ersten Generation wird das Geschlechterverhältnis in der Regel noch nicht zum Problem, da sie dem patriarchalischen Modell des Herkunftslandes verhaftet bleiben: Die Frau führt den Haushalt, der Mann geht zur Arbeit, und die Beziehungen zwischen den Ehegatten und den Kindern unterstehen der Autorität des Mannes. Er ist das Familienoberhaupt, auch wenn die Frau innerhalb ihrer Domäne weitgehend unabhängig wirtschaftet. In der zweiten oder dritten Generation allerdings verdichten sich die Probleme: Die Mentalität der Kinder ist zunehmend von der Kultur des Gastlandes geprägt, und der Konflikt zwischen dem europäischen und dem traditionellen patriarchalischen Modell führt zu einer Infragestellung der familiären Strukturen und Werte, welche die Jugendlichen in eine schwer zu bewältigende Krise stürzen kann. Oder es kommt sogar zum endgültigen Zerfall der Familie, wobei die Jugendlichen, die unter der Obhut nur eines Elternteils aufwachsen, in eine verfrühte Unabhängigkeit und nicht selten in die Delinquenz abgedrängt werden.

Auch die Beziehung zwischen Mann und Frau wird bei den Immigranten der zweiten und dritten Generation zum Problem. Ein Mädchen mit europäischer Schulbildung wird sich schwer damit tun, die männliche Vorherrschaft als unverrückbare Gegebenheit zu akzeptieren – und für die Männer bedeutet dies einen Angriff auf eine tragende Säule ihres Selbstverständnisses.

Während diese Probleme in den französischen Banlieues fast zur Norm geworden sind, versuchen die türkischen Immigranten in Deutschland, solchen Zerfallserscheinungen vorzubauen, indem sie für ihren Nachwuchs Ehepartner im Herkunftsland suchen und auf diese Weise die patriarchale Familienstruktur erhalten; dies leistet der Isolation Vorschub und blockiert die Integration in die Gesellschaft des Gastlandes. Selbstverständlich gibt es zahlreiche Mischformen zwischen diesen Varianten familiärer Entwicklungsprozesse; immer aber ist die Familie ein zentraler Schauplatz, auf dem Immigranten aus weniger privilegierten Schichten die Konflikte der Anpassung an ihre neue Heimat auszutragen haben.

Die Religion, und besonders der Islam, kann ebenfalls zu einem Brennpunkt von Spannungen und Konflikten werden. Die erste Generation von Einwanderern nimmt die Verachtung der Einheimischen – die sich meist auch auf ihren Glauben erstreckt – zumindest bis zu einem gewissen Grad als den für das Gastrecht zu entrichtenden Preis in Kauf; ihre Nachkommen aber sind nicht mehr bereit, den Rassismus derart selbstverständlich zu akzeptieren. Die Immigranten der zweiten und dritten Generation haben keinen sicheren Rückhalt mehr in der Identität ihrer Herkunft; sie fühlen sich nicht mehr als Algerier, Marokkaner, Türken oder Pakistaner. Aber ebenso wenig fühlen sie sich wirklich als Franzosen, Deutsche, Briten oder Holländer akzeptiert. In dieser Situation kann die Religion zum Substitut für die doppelt negierte kulturelle und nationale Zugehörigkeit werden. Selbstverständlich sind längst nicht alle Nachkommen von Immigranten von diesem Konflikt betroffen; vielen gelingt die kulturelle und wirtschaftliche Integration ohne allzu grosse Schwierigkeiten. Aber vor allem für diejenigen, die sich marginalisiert und ohne Perspektive auf Wohlstand und gesellschaftliche Anerkennung sehen, mag der radikale Islamismus als verlockende Alternative erscheinen.”

Auf der Webseite von Al Dschasira befaßt sich der in Schweden lehrende Orientforscher Mark LeVine mit den Kräfteverhältnissen in den von Aufständen beherrschten arabischen Ländern:

“What’s the biggest difference between pre-revolutionary Cairo and the situation eleven weeks after Hosni Mubarak was forced from office?

No one answers their phone anymore.

During my past four days in Cairo, the ratio of attempted calls or text messages to successful connections hovered around 15 or 20 to one. I thought it was just me, as a foreign friend or, worse, journalist, who was getting the cold shoulder from activists inside the various arms of the pro-democracy movement. But it turns out that my Egyptian friends and colleagues are having just as much trouble reaching each other.
Everyone is so busy running from meeting to meeting, interview to interview, that they have “almost no time to breathe”, as one activist put it.

The breathlessness felt by so many activists is ultimately one of the most positive aspects of the change that has enveloped Egypt since February 11. “I used to have a nice life, but now I’m working 20 hours every day,”
one of the founders of the April 6 movement explained – with a mix of pride and exasperation. Activists and ordinary Egyptians are not merely expressing their opinions publicly, but participating in civil society in unprecedented numbers. Two million people might have joined Facebook since Mubarak left office, but far more have joined the real world conversations and gathering, without which the revolution would have never occurred.

Chaos and counter-revolution

“It’s chaos,” explained one of Egypt’s most perceptive sociologists. “But of course it’s a good thing in and of itself that people are getting involved. To see young bourgeoise college girls waking up early in the morning to go to working class and poor neighbourhoods and distribute money and aid to families of the killed or detainees is so heartening.”

Of course, the continuing murderous attacks on Coptic Christians, and the sectarian violence that rocked Egypt over the weekend reveal a much darker side to the chaos. It could easily derail the messy process of political change by giving the army an excuse to crack down hard on all forms of dissent and protest, not just violence perpetrated by armed groups. This is one reason why the lack of organisational and ideological coherence among these forces worries the more secular and progressive activists who were the backbone of the eighteen days of protest.

The effect of such weakness was illustrated by the drubbing they suffered at the hands of the Muslim Brotherhood and other conservative and regime-aligned forces in the March 19 constitutional referendum.

With the latest violence fresh in mind, it’s not surprising that activists feel that, as one of the leading figures of the youth movement explained, “we’re moving towards Algeria”. The army will let the Brotherhood gain power, and use this as an excuse to crush democracy, he explained, recounting in his mind the events that led to the Algerian civil war in 1992.

Ahmed Ezzat, a human rights lawyer and founder of the recently established Workers’ Democratic Party, most eloquently summed up the frustration these activists feel towards the Brotherhood. “They switched from revolutionaries to counter-revolutionaries in the space of 24 hours.” Almost as soon as the protests ended, the movement began to play a role increasingly at odds with the goals of the youth and workers’ movements.

I saw this with my own eyes in Tahrir, when, during a victory concert on February 12, a group of several dozen conservative religious men and women pushed their way to the front of the audience – the men creating a cordon around the hijab-wearing women so they could have the best view without having to stand next to men – hijacked the stage, and spent the better part of the next hour haranguing the audience about their lack of Islamic behaviour, despite incessant shouts to stop.

But, however culturally and politically at odds the Brotherhood leadership remains from the youth movement that led the protests, the fear of a religious takeover of Egyptian politics and society are most likely exaggerated. The religious tendency is far from unified, ranging from hardcore conservatives to progressives. The Brotherhood’s newly created Freedom and Justice Party is putting up a moderate front, while hardcore Salafis are intensely disliked by everyone from moderate Islamists to secular forces and, crucially, the majority of Egypt’s peasantry, whom they have long tormented for their supposedly improperly Islamic behaviour.

The split in the religious tendency cuts through the Brotherhood as well. Older leaders might have a middle class conservatism and willingness to make a deal with the military to increase their power. But as Ezzat pointed out, the increasingly important younger cadre of Brotherhood activists “are like most other young guys: they have educations and can’t find jobs”.

If forced to choose between articulating a religious identity with their politics, and supporting a party that actually focuses on empowering workers against a still unequal and oppressive economic system, Ezzat is betting they will choose the latter, especially if the workers’ movement does its job at educating people. This process in fact began before the uprising, as several leading young Brotherhood members moved away from the movement in the period before the recent unrest. From this perspective, the most important thing the Brotherhood can do to demonstrate its democratic credentials would be to stand firmly and publicly against the violence against Christians, which many in Egypt blame at least partly on the religious-political ideology rooted in the Brotherhood’s past. Dispensing platitudes about standing together and starting football teams to burnish its moderate credentials are not going to do the trick.

Yet as long as a fairly democratic electoral process is established, one could argue that a strong Brotherhood showing in the parliamentary elections could work to the advantage of progressive forces. It is hard to imagine the first post-Mubarak parliament and leadership being able to address the serious and endemic structural problems with the economy and social and political life more broadly. If the Brotherhood – or any other party which takes power – can’t create a lot of jobs quickly and address other concerns of the majority of Egyptians, they will lose popularity, and then power – as long as the military ensures that elections remain free and fair.

Counter-revolution will quickly produce its own antithesis if it can’t deliver the goods.

Women and freedom

There are several other areas where perceptions and reality remain at odds in the emerging narrative of the 2011 Egyptian uprising. The first surrounds the position of women in the wake of the revolution. Much was made of how, in a country known for the routine harassment of women, such activities were all but non-existent inside the Tahrir protest zone, until the rape of CBS News reporter Lara Logan on February 11. The reality is that detained women were routinely abused during the uprising, and since then the situation has arguably become worse, as evidenced by the now well-known case of virginity testing of female activists.

More broadly, many young and seemingly secular women are angry, not merely at their marginalisation in the emerging political system, but at the even greater harassment they are suffering at the hands – sometimes literally – of their conservative countrymen. One young and unveiled singer, who fought at the front lines against Mubarak’s thugs in the violent early days of the uprising, explained that in the weeks since Mubarak’s departure “it suddenly occurred to me, I am protesting on the wrong side. Mubarak never did anything to me. It’s the people who are the enemy”.

She has been cursed at, had her boyfriend and bandmate physically attacked merely for being in the same taxi together. “I just want the freedom to walk around my country without being harassed, to be able to breathe. When can I have that?”

Indeed, women activists at a March 8 protest at Tahrir were verbally and physically attacked by armed men, clearly members of various conservative religious forces.

Yet not all secular female activists are as dispirited or surprised at this situation as she. “The revolution was never about women’s rights,” two women human rights monitors responded when I told them my friend’s story. “What did she expect? The struggle is still not on the agenda, and has yet to begin.”

Even for many female activists, women’s issues shouldn’t be separated from democracy and human rights more broadly, which is precisely what happened under Mubarak when his wife Suzanne became a “champion” of women on such issues as female genital mutilation or children’s health, which they consider “soft” because they could be addressed – at least on the surface – without challenging the larger power system in the country.

Rather, the goal must be to channel Tahrir into a broader new political reality, to institutionalise it across the board in civil and political societies. “The issue isn’t women’s rights, it’s human rights,” adds Bassem Fathy. “If we had one, the other would come more naturally.”

But what happens if women are seen merely as “mothers” of a still male-dominated nation, at best shaming men into taking to the streets, as Asmaa Mahfouz did with her now famous video declaring her intention to go to Tahrir on January 25 and daring others to join her? Or if the “dignity” for which they’ve struggled remains the preserve of men to “protect”?

It’s hard to see how either women’s or human rights will be achieved any time soon in such a scenario. Far from being an effect of a successful human rights discourse, a focus on women’s rights could be seen as the sine qua non for the spread of human rights and democracy more broadly.

Claiming undue credit

One of the most contentious issues in the narrative of the Egyptian and Tunisian revolts has been how significant a role was played by US government-funded organisations such as the National Democratic and Republican institutes, the National Endowment for Democracy and Freedom House, in “training” the young activists who spearheaded the uprising. Similarly debatable is how influential the now celebrated writings of the University of Massachusetts non-violence theorist Gene Sharp on non-violence, or the strategies employed by the Serbian pro-democracy movement Otpor, were in the successful tactics and strategies employed by Egyptian protesters.

Not surprisingly, more hardcore left and religious activists dismiss such claims of a substantial US role as baseless. “It’s the most ludicrous claim I’ve ever heard,” exclaimed prominent blogger and labour activist Hossam El Hamalawy, as we stood in the midst of an increasingly agitated anti-Assad protest at the Syrian embassy in Dokki. A constant presence at Tahrir who has spent years organising Egyptian workers, El Hamalawy was equally dismissive of the notion that the uprising was essentially non-violent, a la Gene Sharp’s work.

“When the police attacked us we fought back, with rocks and molotov cocktails. Protesters burned down the NDP headquarters and police stations and in the case of northern Sinai, even blew up State Security facilities using RPGs. This is not a non-violent revolution.”

He certainly has a point. A certain type of violence played a pivotal role early on in establishing the control of protesters over Tahrir, scaring off the police, and letting the army know that people were ready to fight to the death to take down Mubarak. But it’s also true that the overall strategy was one of mass protest and strike actions to break down the regime, not armed rebellion.

Indeed, as we discussed this issue a squad of Egyptian riot police in full body armour showed up, ready to pounce on the increasingly rowdy demonstrators, who were shaking the gates of the Syrian embassy and beginning to throw things over the wall.

But then something fascinating happened. Organisers began shouting “Silmiyya, Silmiyya!” [“Peaceful”], a chant I first heard in Tahrir, and the local police officer trying to control the protest literally ran up to the riot police and implored them to back off, which they did, after which the protest continued without escalating. As several people commented to me, it’s hard to imagine this scene, or the success of the uprising more broadly, had non-violence not been a primary strategic and moral choice of the protesters.

What is clear is that the larger claim of US influence is clearly much exaggerated. As a Belgian journalist friend pointed out to me, “There was a story that photocopies of Gene Sharp’s books were being passed around in Tahrir. I certainly never saw it.” Neither did I, nor anyone else I’ve spoken too.

Lenin’s revenge

Bassem Fathy, now with the Egyptian Democracy Institute, is still angry at how the New York Times imposed this narrative over his words, which created a lot of anger among other activists. “Look, how can I say that Gene Sharp, or meeting Optur activists didn’t affect us at least somewhat? I read a lot, searching for a ‘magic stick’ that would help us succeed. And we’ve received support from the NED and NDI.

“But we didn’t need Americans to teach us how to use Facebook, and they’re not responsible for the revolution. It’s too big to be owned by anyone, especially an outside force. It was the ordinary people who came out en masse on January 25 through 27 who are the heroes.”

In previous articles, I have written about the influence of Lenin on the thinking and strategies of the organisers. Continued discussions with Revolutionary Socialist activists who played a crucial role organising Tahrir and now in the workers movement confirm this assessment. Certainly Lenin outdid the CIA in influencing young activists before, during, and since the uprising. The clarity of vision and organisational strategy provided by the Leninist model is one reason why, according to El Hamalawy, “the only social movement right now that is continuing the struggle is the labour movement [and not the Brotherhood]… There are strikes daily and they are over bread and butter and political issues”.

“Lenin’s ‘What is to be Done’ and ‘April Notes’ helped shape our strategy, as did Marx’s theories,” Ahmed Ezzat explained. Organising revolutionary committees, uniting labour leaders from various sectors of the economy, creating independent trade unions and launching strikes – despite regime violence against them, were all and remain among the most powerful tools in the ongoing struggle against the still military-dominated economic and political system.

Even the more mainstream wing of the democratic resistance, led by people like Google executive Wael Ghonem, understood intuitively that without the poor and working class, the pro-democracy movement would never succeed. And so they organised “test runs” of the protest tactics and slogans that would define Tahrir in the period leading up to January 25, and took the enthusiastic response to slogans focusing on economic issues by people in popular quarters as proof that the protests would have legs, once launched.

A new Egypt, and a new world?

A few days before Mubarak left, I spoke with a young activist who – merely by virtue of his being in Tahrir from the start of the protests – had found himself in a leadership position at the Square. “We were just sitting around late at night and thinking about it,” he told me, as the two of us sat around, similarly late at night, digesting the day’s events. “If the revolution could go global, or at least across the Middle East, we could tear down boundaries, and could make one people, a new planet, even. The ubiquitous chant ‘isqat an-nitham‘ means ‘down with the world system’ as much as in Egypt.”

This tendency to think globally even in the midst of a national uprising is telling. Many activists have cited the anti-globalisation movement of the late 1990s and early 2000s as crucial influences on their thinking, and it’s hard to separate the at least momentary unity and camaraderie of activists at the national level with the realisation that the Egyptian uprising was about more than just Egypt. It was, as so many people have explained, very much about a re-imagining of globalisation for a new generation, one that has moved beyond the dichotomy between a “human nationalism” and an “inhuman globalisation” that for many years defined Arab responses to globalisation and towards a globalisation that encourages democratic and sustainable development at the level of the nation-state.

As usual, Americans and other outsiders want to claim undue credit for events they neither inspired nor controlled. But this is nonsense. To the extent Egyptians made use of training or networking opportunities provided by Americans or Europeans, they did so with eyes wide open, and remain almost uniformly angry at continued US support for the army, despite its ongoing violence and rights violations against Egyptians, and Western support for Bahrain’s monarchy and the bombing campaign in Libya.

A sign at the protest at Syria’s embassy put it best: “Tahaya ath-thawra al-huriya wa al-karama,” or “Viva the revolution for freedom and dignity.” Not just in Egypt or even Syria, but across the Arab world.

If the US and outside world more broadly won’t intervene with consistency and in a principled manner, the least they can do is leave Egyptians and the rest of the Arab world to decide their own fate without foreign interference of any sort. All anyone I’ve met during the Arab world’s revolutionary winter and spring is asking for is a level playing field.”

Reuters meldet heute aus Tunesien:

Nach Protesten gegen die Regierung haben Sicherheitskräfte in Tunesien fast 200 Menschen festgenommen. Den Demonstranten wird vorgeworfen, Polizisten mit Steinen angegriffen und eine kürzlich verhängte Ausgangssperre nicht eingehalten zu haben, wie die staatliche Nachrichtenagentur TAP unter Berufung auf das Innenministerium am Dienstag meldete. Zudem werde den Festgenommenen Diebstahl und Vandalismus zur Last gelegt.

Seit dem Sturz des jahrzehntelang regierenden Präsidenten Zine al-Abidine Ben Ali Mitte Januar ringt die Übergangsregierung um Stabilität im Land. Aus Sicht der Demonstranten gehen die Veränderungen zu langsam.

Aus dem Jemen meldet die selbe Nachrichtenagentur:

Bei neuen Protesten gegen den jemenitischen Präsidenten Ali Abdullah Saleh haben Sicherheitskräfte am Mittwoch zwei Menschen erschossen. Dutzende wurden zudem bei den Massendemonstrationen verletzt, wie Bewohner und Rettungskräfte mitteilten. Die beiden Demonstranten wurden demnach in der Großstadt Tais erschossen, wo die Polizei auch mit Tränengas und Schlagstöcken gegen die Menge vorging. Als Vergeltung hätten Protestierende eine Polizeiwache angezündet, berichteten Bewohner. Im verarmten Jemen fordern Demonstranten seit vielen Wochen den Rücktritt Salehs und demokratische Reformen.

Aus Syrien meldet AP heute:

Syrische Streitkräfte haben nach Angaben von Augenzeugen in der Nacht auf Mittwoch mehrere Wohngebiete in der Stadt Homs bombardiert. Die Stadt gilt als eine der Hochburgen der Proteste gegen das Regime von Präsident Baschar Assad. Mindestens drei Wohnviertel wurden von Panzern beschossen.

Die Nacht hindurch bis in die frühen Morgenstunden seien Maschinengewehrfeuer und Explosionen zu hören gewesen, erklärte ein Zeuge. Die Gegend werde belagert und liege unter Feuer, sagte er. Menschenrechtsaktivisten bestätigten die Aussage. Mehrere aus den beschossenen Wohnvierteln entkommene Bewohner hätten ihm von schweren Schäden berichtet und gesagt, der Beschuss erfolge wahllos, sagte der Zeuge.

Die Menschenrechtsaktivisten erklärten weiter, dass syrische Sicherheitskräfte bei Protesten gegen die Regierung im Süden des Landes am Dienstagabend das Feuer auf Demonstranten eröffnet hätten. Drei Menschen seien dabei ums Leben gekommen.

Aus Marokko meldet AFP:

Die Reformbewegung in Marokko hat zu einer Protestaktion vor einem Geheimgefängnis des Landes aufgerufen. Vor der Haftanstalt in Temara nahe der Hauptstadt Rabat soll es am Sonntag ein “Protest-Picknick” geben, wie am Mittwoch die Bewegung des 20. Februar bekanntgab, die nach dem Tag der ersten Proteste für politische Reformen in Marokko benannt ist. Mit dieser “friedlichen Aktion” fordere die Gruppe, die Verantwortlichen für Folter und Menschenrechtsverletzungen in dem Geheimgefängnis zur Rechenschaft zu ziehen.

Menschenrechtsorganisationen wie Amnesty International und Human Rights Watch kritisieren die Vorgänge in dem Geheimgefängnis scharf. Laut HRW werden Terrorverdächtige dort über die gesetzlich mögliche Untersuchungshaft von zwölf Tagen hinaus festgehalten. Mehrere Islamisten seien dort nach den Selbstmordanschlägen von Casablanca im Mai 2003 gefoltert worden. Damals waren neben den 13 Attentätern 31 Menschen gestorben.

Die taz-Kolumnistin Kübra Gümusay schreibt heute:

“(…)Ich sitze auf einer Bank am Strand und beobachte. Ein junger Vater mit Hemd und Brille sitzt im Sand und buddelt eifrig mit seinem Sohn. Andere Väter mit langen Bärten, dunklen Sonnenbrillen und hochgekrempelten Jogginghosen stehen im Wasser und laufen ihren kleinen Töchtern in pinken Badeanzügen hinterher, die vor Glück laut aufschreien.

Die Mütter sonnen sich auf den Bänken. Welch Idylle, denke ich. Ein bisschen sufistische Muslime hier, ein bisschen Salafiten da und durchwurschtelt mit dem ganzen großen Rest dazwischen.

Am Strand lerne ich auch Klara kennen. Klara ist Verkäuferin, sie hat kurze braune Haare, eine Brille mit Goldrand und ein freundliches Lächeln. Vor dreißig Jahren hat sie sich in einer norddeutschen Kleinstadt in Kemal, einen türkischen Gastarbeiter, verliebt. Zum Entsetzen ihrer Freundinnen. Ein Türke, wie kann sie nur! Er wird sie doch nur schlagen, unterdrücken und sowieso! Klara trotzt ihrer Umgebung und folgt ihrem Herzen, sie heiratet Kemal. Kemal ist selten zu Hause, er arbeitet hart als Schichtarbeiter und an den Wochenenden schuftet er zusätzlich in der Metallfabrik.

Klara will mehr über die Religion ihres Mannes, den Islam, erfahren. Er freut sich darüber. Als sie beschließt, das Kopftuch zu tragen, wenden sich ihre Freunde nun vollends ab.

Sie sucht deshalb Halt in der Moscheegemeinde. In der Kleinstadt besteht diese jedoch nur aus älteren Frauen, die aus den anatolischen Dörfern der Türkei hierhergekommen sind. Klara versteht sie nicht, und sie verstehen Klara nicht.

Als Kemal und sie eines Tages spazieren gehen, passiert es. Ein fremder Mann beschimpft Klara wegen ihres Kopftuchs. Schockiert blickt sie zu Kemal. Er schweigt und senkt den Kopf.

Klara gibt auf. Sie legt das Kopftuch ab, besucht die Gemeinde immer seltener. Heute hat sie noch immer kaum muslimische Freundinnen. Den Islam trage sie aber immer im Herzen, sagt sie. Sie hat sich arrangiert mit dem Leben zwischen zwei widersprüchlichen Welten in ihrer Kleinstadt.

Wenn Kemal arbeiten ist, kommen ihre Freundinnen von damals sie besuchen. Mit Kemal wollen sie nichts zu tun haben. Dann sitzen sie gemeinsam am Küchentisch und Klara hört ihren Freundinnen zu, die über ihre Ehemänner klagen. Und tröstet sie, wenn sie wieder von ihnen geschlagen wurden.”

Shelina Janmohamed: “Küss mich, Kismet”. Der in England lebenden indischen Journalistin geht es u.a. ebenfalls um die Probleme, die man als Schleier tragende Muslimin im Westen bekommt.

An Büchern sei hier außerdem erwähnt:

Gina Nahai: “Regen am Kaspischen Meer”. Die in den USA lebende Autorin thematisiert in diesem Roman das Elend eine jüdischen Iranerin aus dem Südteheraner Armenviertel, die einen jüdischen Iraner aus der Oberschicht heiratet, damit zwar der Armut entkommt, aber ein Leben in Verblödung und Einsamkeit führen muß. Erzählt wird ihre Geschichte, die sich während des Schah-Regimes abspielt, aus der Sicht ihrer Tochter.

Bahman Nirumand: “Weit entfernt von dem Ort, an dem ich sein müsste”. Der 1936 in Teheran als jüngster Sohn eines Schah-Adjudanten geborene SDSler hat eine Autobiographie geschrieben, die sich durchaus mit der von Edward Said “Am falschen Ort” messen kann, auf das der Titel anspielt. Das Buch erscheint im Juli 2011. Bei den Massen, die Ayatollah Chomeini an die Macht gebracht haben, handelte es sich seiner Meinung nach um Arme – wie das Lumpenproletariat aus Südteheran.

Azar Nafisi: “Lolita lesen in Teheran”. Die in den USA lebende iranische Literaturwissenschaftlerin organisierte während des Ayatollah-Regimes mit einer kleinen Gruppe von Teheraner Studentinnen Seminare über amerikanische Literatur bei sich zu Hause.

Werner van Gent/Antonia Bertschinger: “Iran ist anders”. In diesem Reisebuch geht es u.a. auch um die iranischen Frauen.

Behjat Moaali/Manuela Runge: “Zerreiße den Schleier der Ohnmacht”. Die iranische Juristin erzählt in diesem Buch, wie sie eine Frau aus einem iranischen Dorf verteidigte, die man des Kindsmordes angklagte. Sie wird hingerichtet, ihre Verteidigerin muß das Land verlassen.

Barbara Naziri: “Grüner Himmel über schwarzen Tulpen”. Die Deutsch-Iranerin bereiste mehrmals den Iran, um dort die Familie ihres Vaters zu besuchen und  das Land kennen zu lernen. Dabei geriet sie – zwangsverschleiert – immer wieder mit den islamischen Moralwächtern des “Schadorlandes” in Konflikt. Das führte bei ihr ebenso wie bei ihren Freundinnen zu einem sich radikalisierenden Widerstand gegen das “Mullah-Regime”.

Hisham Matar: “Im Land der Männer”. Der Roman des in London lebenden libyschen Schriftstellers handelt von seiner Kindheit in Tripolis, wo er mit seiner Mutter in einem Haus am Stadtrand aufwuchs. Der Vater war viel auf Geschäftsreise, die Mutter trank. Sie war mit 14 verheiratet worden und sehnte sich nach einer sinnvollen, erfüllten Existenz, sie wünschte sich, aus ihrem öden Leben auszubrechen, gelegentlich malte sie in ihrem Garten Stilleben. Ansonsten spricht sie viel mit ihrem Sohn, beide sind einander sehr zugetan.

Hanan al-Scheich: “Sahras Geschichte”. Die in London lebende libanesische Schriftstellerin schreibt in diesem Buch über eine junge libanesische Frau, “deren Leben von Angst, Unterdrückung, kulturellen und familiären Zwängen gezeichnet ist.”

Salim Alafinisch: “Die acht Frauen des Großvaters”. Der in Heidelberg lebende und lehrende Autor ist der Sohn eines Beduinenscheichs aus der Negev-Wüste.

Nedijma: “Die Mandel”. Unter Pseudonym veröffentlichter Roman einer Marokkanerin, über den der Spiegel schreibt: “Als gespalten und bigott beschreibt die muslimische Schriftstellerin “Nedjma” (“Stern”) – die Autorin des erotischen Erfolgsromans “Die Mandel” – die marokkanische Gesellschaft. Trotz fortschrittlicher Familien- und Ehegesetze werde das Land noch immer von seinen patriarchalischen Traditionen geleitet, bestünden Vielweiberei und Bevormundung der Frau fort. In dieser Welt vermischen sich Prüderie und sexuelle Besessenheit, Ignoranz und Begierde, “Sperma und Gebet”. “Je repressiver eine Gesellschaft ist, desto verzweifelter sucht sie ein Ventil”, sagt Nedjma, die ihren bürgerlichen Namen schützt, weil sie im Internet bereits als “Hure” und “Beleidigung für den Islam” beschimpft wurde.

Helena Kadare: “Eine Frau aus Tirana”. In dem Roman der in Paris lebenden albanischen Schriftstellerin geht es um den Zerfall der Ehe einer Verlagslektorin, als sie erkennt, dass ihr Mann, ein Ingenieur, ein egomanischer Langweiler ist. Die Handlung spielt noch im kommunistischen Albanien. Vor dem Zweiten Weltkrieg bekannten sich etwa 70 % der Bevölkerung zum sunnitischen Islam. 20 % waren orthodoxe Christen, unter dem Kommunistenführer Enver Hodscha wurde die Mehrzahl atheistisch.

Suleman Taufiq (Hrsg.): “Frauen in der arabischen Welt”. In dem Sammelband mit Erzählungen sind bekannte Autorinnen dabei – wie Nawal El Saadawi oder Assia Djebar, aber auch viele in Deutschland unbekannte. Die Autorinnen kommen aus Ägypten, Algerien, den Arabischen Emiraten, Bahrain, Irak, Kuwait, Libanon, Marokko, Palästina, Saudi-Arabien, Syrien, Tunesien.

Maissa Bey: “Nachts unterm Jasmin”. Die Algerische Schriftstellerin ist Gründerin der Frauenvereinigung “Parole et écriture”. In diesem Buch versammelt sie einige feministische Novellen.

Yasmina Khadra (Pseudionym für Mohammed Moulessehoul): “Die Lämmer des Herrn”. In dem Aroman schildert der in Paris lebende algerische Autor die Einnahme eines Dorfes durch Islamisten, Anfang der Neunzigerjahre.

Fatima Mernissi: “Der Harem ist nicht die Welt”. Interviews mit marokkanischen Frauen aus unterschiedlichen sozialen Schichten.

Hanan al-Scheich: “Sahras Geschichte”. Die Geschichte einer jungen libanesischen Frau, “deren Leben von Angst, Unterdrückung, kulturellen und familiären Zwängen gezeichnet ist.”

Rajaa Alsanea: “Die Girls von Riad”, Bloggerroman einer 20jährigen Studentin aus Saudi-Arabien.

Assia Djebar: “Das verlorene Wort”. Eine algerische Männerbiographie zwischen Exil, antikolonialem Befreiungskampf und Bürgerkrieg.

Assia Djebar: “Weißes Algerien”. Roman über die im Bürgerkrieg ermordeten algerischen Intellektuellen.

Assia Djebar: “Nirgendwo im Haus meines Vaters”. Die Kindheit der Autorin in einem algerischen Dorf, wo ihr Vater als Lehrer arbeitete.

Assia Djebar: “Die Frauen von Algier”. Die in New York lebende algerische Schriftstellerin beschreibt darin Algerierinnen zwischen Tradition und Selbstbestimmung. “Zwischen diesen beiden Bildern fächert Assia Djebar ihre Erzählung auf:”

Die Frauen von Algier 1 (Delacroix). Photo: reproarte.com

Die Frauen von Algier 2 (Picasso). Photo: painting-palace.com


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