„Erinnerung an den Aufstand“. Photo: defa.uni-oldenburg.de
Der Spiegel von Morgen titelt: „Die arabische Protestbewegung ist ins Stocken geraten, und die Könige, Emire und Sultane sammeln sich zur Gegenrevolution“ – so stellt sich den Spiegel-Autoren der „Arabische Sommer“ dar.
Anders die von der FAZ zitierte Tageszeitung „Sud-Ouest“ (Bordeaux) – sie wähnt die Machthaber in Libyen und Syrien bereits am Ende:
„Der arabische Frühling ist in Misrata stehengeblieben . . . Gaddafi kann sich noch vor Kameras in Positur werfen. Doch sein Schicksal ist besiegelt. Er ist politisch tot. Assad kann noch die brutalsten seiner Schergen ausschicken, damit sie sein Volk niedermetzeln und erschießen. Er wird nur einen Aufschub erhalten. Er ist schon verdammt. Und mit ihm Teheran, sein sicherster Verbündeter, sein großer Bruder und Vormund. Auch in Iran gärt ein dumpfer Zorn. Lassen wir dem Frühling seine Farben voller Hoffnung. Wir müssen noch einige Monate warten. Dann werden wir wissen, wie diese neue arabische Welt aussieht . . ., die vor unseren Augen unter Krämpfen geboren wird.“
Ungeachtet dieser Differenzen des Westens in der Einschätzung der Lage kam es am Freitag erneut zu Massenprotesten in mehreren arabischen Ländern:
Auf dem Tahrirplatz in Kairo demonstrierten Tausende „für eine Versöhnung zwischen Muslimen und Christen“, nachdem über Facebook für eine Ende der Gewalt zwischen Religionsgruppen aufgerufen worden war.
Der Kairo-Korrespondent der taz, Karim El-Gawhary, schrieb darüber am Samstag:
Es ist die übliche Choreografie der arabischen Revolution. Nach den Freitagsgebeten brodelt es allerorten. In der Kairoer Innenstadt versammeln sich wieder tausende von Demonstranten. Sie haben bereits viel erreicht. Mitte der Woche wurde die U-Haft des gestützten Pharaos Mubarak um weitere 15 Tage verlängert. An diesem Freitag geht es den Demonstranten um zwei Themen: Solidarität mit den Palästinensern ist das eine. Gleichzeitig wird aber auch vor der eigenen Tür gekehrt und nach den Anschlägen auf Kirchen letztes Wochenende im Kairoer Armenviertel Imbaba die nationale Einheit beschwört. Schilder mit Halbmond und Kreuz gehören zur Grundausstattung. Zahlreiche Holzkreuze zeugen vom neuen Selbstbewusstsein der vor allem jungen koptischen Christen. „Früher wollten meine Kinder immer auswandern. Jetzt haben sie als Christen das erste Mal das Gefühl dazuzugehören. Das hat die Revolution erreicht“, meint der koptische Intellektuelle Kamal Zakhr. „Die Anschläge auf die Kirchen drohen dieses neue Gefühl zunichte zu machen und uns wieder an den Nullpunkt zurückzubringen“, fürchtet er.
Genau das ist der Grund, warum an diesem Tag wieder viele in Kairo auf die Straße gehen. „Der Angriff auf die Kirchen und auf die Christen wird als ein Angriff auf die Revolution betrachtet. Auch der Imam, der auf dem Tahrirplatz die Freitagspredigt hält, zieht diese Schlussfolgerung: „Ist es nicht absurd, dass der Tahrir und das Palästinaproblem uns hier eint und zusammenbringt, während das Thema Konfessionen uns trennen soll?“, fragt er in seiner Predigt.
Während Ägypten und Tunesien ihre Revolution verteidigen, stellt sich im Rest der arabischen Welt die Frage, welcher Diktator als Nächster stürzt und wie lange und blutig dieser Prozess sein wird. Ganz oben auf der Abschussliste stehen der Syrer Baschar al-Assad, der Jemenite Abdullah Saleh und der Libyer Muammar al-Gaddafi.
Das syrische Regime knöpft sich derzeit eine aufständische Stadt nach der anderen vor. Dort marschieren zunächst die Sicherheitskräfte ein. Dann folgt die Verhaftungswelle. Das UN-Menschenrechtsbüro spricht inzwischen von 700 bis 800 Toten in Syrien. Trotzdem brechen immer wieder neue Aufstände aus, der letzte in der zweitgrößten syrischen Stadt Aleppo, wo es bisher ruhig geblieben war. In Syrien hat sich inzwischen eine Kultur des Widerstands durchgesetzt, die Baschar al-Assad nicht mehr in den Griff bekommt. Aber das Regime in Damaskus hält noch viele Karten in der Hand. Wenn es wirklich in der Ecke steht, kann es an der konfessionellen und ethnischen Vielfalt des Landes zündeln. Das hätte verheerende Folgen. Es wird voraussichtlich ein langer blutiger Sommer in Damaskus.
Im Jemen steht Präsident Abdullah Saleh mit dem Rücken zur Wand. Laut einem Plan des Golfkooperationsrats soll er binnen von 30 Tagen abtreten, dann erhält er Straffreiheit. Innerhalb von zwei Monaten soll dann gewählt werden. Noch zögert Abdullah und zählt auf seine Repressionsinstrumente. Allein in den letzten zwei Tagen kamen 19 Menschen ums Leben. Aber auch hier scheint die Repression nicht fähig, die Proteste zu unterdrücken.
Später am Nachmittag auf dem Tahrirplatz, irgendwo zwischen den Protesten für einen palästinensischen Staat und für die nationale Einheit in Ägypten, verbreitet sich wie ein Lauffeuer die Nachricht, dass Suzanne Mubarak nun ihrem Söhnen in die U-Haft folgt. Die ehemalige First Lady muss sich wegen schweren Korruptionsvorwürfen vor Gericht verantworten. Die Tausenden auf dem Platz jubeln noch einmal fast so laut, wie damals bei Mubaraks Rücktritt. Und das ist gerade einmal 92 Tage her.
Aus Syrien meldete AFP:
Ungeachtet massiver Unterdrückung sind in Syrien nach den Freitagsgebeten wieder tausende Menschen gegen die Regierung von Präsident Baschar el Assad auf die Straße gegangen. In der Stadt Homs wurden nach Oppositionsangaben zwei Demonstranten getötet, als Sicherheitskräfte in die Menge feuerten.
Seif Al-Shishakli berichtete am Freitag in der taz über die Situation in Syrien:
Um als ausländischer Journalist in Syrien arbeiten zu können, bedarf es einer offiziellen Akkreditierung, die einen Monat vor geplantem Reisedatum bei der syrischen Botschaft in Berlin eingereicht werden muss. Vor Erhalt der Arbeitserlaubnis, die normalerweise ein einmonatiges Einfachvisum beinhaltet, muss man seine Recherchethemen den zuständigen Botschaftsmitarbeitern schildern. Auch schon vor Beginn der aktuellen Unruhen, bevor, wie jetzt, keine Journalisten mehr offiziell ins Land gelassen wurden, waren die Themen, über die man als Ausländer schreiben durfte, äußerst beschränkt.
Gerne gesehen sind Berichte über die große Geschichte des Landes, die historischen Bauten, die islamische Tradition, kulinarische Spezialitäten, die nationale Einheit trotz konfessioneller Vielfalt und über den Präsidenten als gerechten, visionären Modernisierer des Landes. In einem einstündigen Gespräch klopfen die Mitarbeiter der Botschaft vor Erteilung der Arbeitserlaubnis dazu noch die Haltung des Pressevertreters zum Regime ab – natürlich darf man hier nichts Kritisches vorbringen, sondern muss beweisen, dass man sich bereits im Vorfeld umfassend informiert hat und den Anweisungen der Mitarbeiter des Informationsministeriums in Syrien Folge leisten wird.
Kaum in Syrien angekommen, hat sich der Journalist bei der staatlichen Stelle zu melden, seine lokalen Kontaktdaten einzureichen und steht ab diesem Moment unter Beobachtung – und bekommt „Hilfestellung“ beim Recherchieren der im Vorfeld der Reise abgesegneten Themen. Deshalb arbeite ich mit Unterbrechungen seit 2005 „undercover“ in Syrien.
In einem Land, in dem auf 153 Bürger ein Geheimdienstmitarbeiter kommt, birgt das natürlich ein Risiko, ermöglicht aber bessere Recherchemöglichkeiten. Vor allem dann, wenn man, wie aktuell, mit Oppositionellen, Aktivisten, Menschenrechtlern, Studenten und ganz normalen Menschen auf der Straße sprechen muss. Die Mitarbeiter der offiziellen Stellen nach Kommentaren zu befragen, was ich als illegal arbeitender Journalist natürlich nicht darf, würde sich ähnlich wie in allen anderen Ländern gestalten, in denen eine Einheitspartei herrscht: „Vermeldung von höchster Stelle …“, fertig, aus, keine Diskussion. Sollte ich offizielle Kommentare brauchen, so finde ich sie auf der Website der staatlichen Nachrichtenagentur ohnehin.
Bislang hat mich in Syrien anscheinend noch niemand gegoogelt, sollte dies einmal passieren, so würde zumindest meine Tätigkeit als Nahostkorrespondent bekannt. Und dass ich im besetzten Palästina war, somit nie mehr nach Syrien, offiziell immer noch im Krieg mit Israel, hätte einreisen dürfen. Aus Syrien habe ich daher bislang immer unter Pseudonym berichtet.
Nachdem bereits im Februar auf einer Facebook-Seite der erste „Tag des Zorns“ in Syrien ausgerufen wurde, an dem sich unbeachtet von den deutschen Medien zwanzig Menschen in Damaskus zum Protest versammelten und verprügelt wurden, beantragte ich bei der Botschaft mein sechs Monate gültiges Touristenvisum. Die Reisevorbereitungen traf ich noch geflissentlicher als bei vorhergehenden Reisen: keine Visitenkarten, keine Adressbücher, keinen Presseausweis oder Aufnahmegeräte im Gepäck. Dafür Reiseführer, Lehrbücher über arabische Kalligrafie, abgenutzte Arabisch-Vokabelhefte. Das Foto einer arabischen Freundin im Portemonnaie, meiner angeblichen Verlobten, für die ich vor der Hochzeit und der Konvertierung Arabisch lernen müsse, um den Koran lesen zu können. So mein Cover, das ich auf Hocharabisch vortragen und erläutern kann.
Ein kurzer Gefängnisaufenthalt, eine Ausweisung, wie es einem Team der Nachrichtenagentur Reuters im März widerfuhr, wahrscheinlich auch eine unbefristete Einreisesperre wäre die Konsequenz gewesen, falls sie mich erwischen würden. Körperlich misshandelt wurden bislang nur syrische Journalisten, verschwanden und wurden für Jahre inhaftiert. Syrien (Stand 2010) steht auf Platz 165 von 175 Ländern in der von Reporter ohne Grenzen zusammengestellten Liste der Pressefreiheit, rund 300 Blogger, Journalisten und Autoren sitzen derzeit in Haft, weil sie zu frei geschrieben haben oder ausländischen Medien unter ihrem echten Namen Interviews gegeben haben.
Ich befragte die erfahrenen taz-Kollegen nach vertrauenswürdigen Kontakten zu alten Regimegegnern, vereinbarte mit meiner Partnerin in Berlin, mich täglich zweimal zu melden, dabei einen bestimmten Sprachcode zu nutzen, den ich im Falle einer Inhaftierung zu ändern hätte. Falls ich gezwungen werden sollte, mich daheim zu melden, um den Verdacht eines Verschwindens auszuschließen. Eine Liste mit Notfallnummern, von der taz über Reporter ohne Grenzen bis zur Hotline des Auswärtigen Amtes und der Deutschen Botschaft in Syrien und meiner Blutgruppe hinterlegte ich ebenfalls, wie bei allen Reisen in Krisengebiete.
Als ich bei meinem Freund in Damaskus, der bereits oft illegal für ausländische NGOs zu kritischen Themen gearbeitet hat, ankam, teilte er mir mit, dass er alle Kontakte zu Ausländern, auch zu mir, abbrechen müsse. Tage zuvor war er schon per Mail sehr wortkarg geworden. Zu groß war seine Angst vor Repressalien, vor allem, da der Geheimdienst regelmäßig bei ihm klopfte, um herauszufinden, ob und welche Kontakte zu Ausländern er hatte. Arbeit mit ausländischen Institutionen oder Journalisten kann im schlimmsten Fall als Spionage gedeutet werden, die mit jahrelangen Haftstrafen oder sogar mit Hinrichtung verfolgt wird.
Ein anderer Freund, ein Regisseur mit Berufsverbot, nahm mich auf. Im Hotel hätte ich meine Passkopie abgeben müssen, dafür ist meine Angst vor Google zu groß. Ich hatte Glück: In meinem neuen Haus gingen viele engagierte Studenten ein und aus. Sie nahmen mich mit zu einem der ersten friedlichen kleinen Sit-ins an der Damaszener Uni. Erzählten mir alles, was sie in den Studentenwohnheimen und auf dem Campus mit dem Geheimdienst erlebten und baten mich, so vielen Europäern wie möglich von ihrer Lebenssituation zu erzählen.
Wir hatten eine stillschweigende Übereinkunft, dass sie mich nicht fragten, warum ich so viele Fragen stellte. Sie wollten offiziell nicht wissen, dass ich Journalist bin, sie vertrauten mir aber, da ich bei einem vertrauenswürdigen Freund, der mehrfach wegen seiner kritischen Tätigkeit im Gefängnis war, wohnen durfte.
Bei einem Bekannten, der offiziell eine Frauenrechtsorganisation betreibt, sich inoffiziell aber seit Langem für die juristische Achtung und Durchsetzung der Menschenrechte einsetzt, war ich erstaunt über die Einladung in sein Büro. „Die Geheimdienste haben gerade anderes zu tun, als meine kleine Frauenrechtsarbeit hier zu observieren“, teilte er mir mit und traf sich fortan öfter mit mir, vermittelte mir auch Gesprächspartner. Da er seit Monaten keine Kritik an seiner Arbeit durch die Behörden mehr erfuhr, fühlte er sich sicher und unbeobachtet, im Gegensatz zu anderen Oppositionellen, die nicht einmal am Telefon auf Englisch oder Deutsch mit mir sprechen wollten.
Denn den alten Aktivisten ist nach Jahrzehnten der Repressalien und Gefängnisaufenthalte klar: Wenn sie sich als dem Regime bekannte Kritiker auch nur kurz und an vermeintlich sicheren Orten mit Ausländern treffen, so werden sie im Anschluss zumindest Besuch vom Geheimdienst bekommen, der dann alles über den Gesprächsinhalt und den Ausländer wissen will. In der aktuellen Lage in Syrien gäbe es, da die staatlichen Medien konsequent von einer ausländischen Verschwörung und einer gezielten Medienkampagne gegen die Regierung sprechen, keinen Grund, sie nicht sofort wieder zu inhaftieren.
Aus Libyen melden die Nachrichtenagenturen:
Die Kämpfe gehen unvermindert weiter. Die Aufständischen im Westen Libyens haben in einem strategisch wichtigen Gebirgszug mehrere Angriffe der Truppen des Machthabers Muammar al-Gaddafi zurückgeschlagen. „Von Sintan bis Nalut haben seine Truppen in diesem westlichen Gebirge keine einzige Schlacht gewonnen“, sagte ein Rebellen-Kommandeur am Freitag einer Reporterin des arabischen Nachrichtensenders Al-Dschasira.Der Nafusa-Gebirgszug erstreckt sich parallel zur Mittelmeerküste auf einer Länge von etwa 250 Kilometern von der tunesischen Grenze bis südlich von Tripolis. Von den Anhöhen kontrollieren die Aufständischen die darunter liegenden Ebenen.
Ein rumänisches Kriegsschiff nahm Flüchtlinge auf. Die libysche Hauptstadt Tripolis wurde am Freitagabend erneut von Explosionen erschüttert. Das Gaddafi-Regime bezeichnete die Nato als „feige Kreuzritter“.
Aus dem Jemen meldete AP:
In der jemenitischen Stadt Tais haben am Samstag erneut Regimegegner den Rücktritt von Präsident Ali Abdullah Saleh gefordert. Der Aktivist Ghasi al Samai erklärte, die Polizei habe Gummigeschosse und scharfe Munition auf die Demonstranten abgefeuert und auch Tränengas eingesetzt. 15 Menschen wurden nach Angaben von Aktivisten verletzt. Die Demonstranten blockierten den Zugang zu drei Regierungsgebäuden, wie al Samai sagte.
In einer Provinz Daida in der Mitte des Landes wurden unterdessen sechs Soldaten von Unbekannten erschossen. Aus Sicherheitskreisen verlautete, die Soldaten seien am Samstag in der Ortschaft Radda an einem Kontrollpunkt überfallen worden. Die Angreifer flohen. Bei zwei Angriffen waren am Freitag sieben Soldaten ums Leben gekommen.
Aus Algerien wird gemeldet:
Extremisten haben im Nordosten Algeriens einem Medienbericht zufolge eine Kaserne überfallen und sieben Soldaten getötet. Bei dem Feuergefecht am Freitag seien auch drei Angreifer ums Leben gekommen, berichtete die Zeitung „El Watan“ auf ihrer Website.
Aus Tunesien berichtet AP:
Italien hat Tunesien vier Fregatten geliefert, die zur Eindämmung der illegalen Einwanderung nach Europa entlang der tunesischen Küste patrouillieren sollen. Das teilte der tunesische Innenminister Habib Essid am Freitag mit.
Seit dem Sturz des tunesischen Machthabers Zine El Abidine Ben Ali sind in Italien mehr als 25.000 Menschen eingetroffen, darunter überwiegend Tunesier. Viele versuchen, auf kleinen Booten die Mittelmeerinsel Lampedusa zu erreichen. Bei der Überfahrt kommen immer wieder Flüchtlinge ums Leben.
Auf der „Langen Buchnacht“ in Kreuzberg lasen gestern zwei einst nach Deutschland geflüchtete und nun hier lebende irakische Autoren aus ihren neuesten Büchern vor: Abbas Khider („Die Orangen des Präsidenten“) und Hussain Al-Mozany („Das Geständnis des Fleischhauers“). Das Interesse des Publikums an ihnen war groß. Beide Autoren erzählten von ihren bitteren Flucht-, Grenz-, Gefängnis- und Geheimdienst-Erfahrungen.
In der Freitags-taz berichtete die Reiseseiten-Redakteurin Edith Kresta, die verwandtschaftliche Beziehungen nach Tunesien hat, über die dort aufgenommenen Flüchtlinge aus Libyen:
Tataouine, die letzte Kleinstadt im Süden Tunesiens vor der libyschen Grenze, platzt aus allen Nähten. Junge Männer flanieren gruppenweise auf der Straße, so selbstverständlich, als gehöre sie ihnen allein. Voll beladene Mopeds fahren kreuz und quer, als wären Verkehrsregeln noch nicht erfunden. Der Verkehr stockt. Am Straßenrand hocken Jugendliche – Mädchen und Jungs in getrennten Grüppchen. Überall wehen libysche Flaggen, schwarz, rot, grün – die Flagge der Unabhängigkeit von 1951. Tataouines Einwohnerzahl hat sich in den vergangenen Wochen drastisch erhöht: Viele Libyer, die vor Gaddafi geflüchtet sind, haben hier vorübergehend Asyl gefunden. Beispielsweise im Hotel Mabrouk.
Eigentlich ist das Mabrouk ein Touristenhotel für Wüstenfans und Reisebusse, die diese Bergregion mit ihren alten Speicherburgen und Oasen abfahren. Die kommen zurzeit jedoch kaum hier vorbei – aus Angst vor dem nahen Bürgerkrieg und den Unwägbarkeiten der tunesischen Revolution. Viele tunesische Hoteliers haben ihre Zimmer vorübergehend den Flüchtlingen aus Libyen zur Verfügung gestellt – gegen Bezahlung für vermögende Libyer, die kommen, oder unentgeltlich für Bedürftige.
„Ich komme aus einer Stadt 130 Kilometer von Tripolis entfernt in den Bergen, die die Gaddafi-Milizen mit Raketen beschossen, mit Bomben bewarfen und zerstörten. Wir kamen vor einer Woche nach Tunesien. Vierzig Kilometer gingen wir zu Fuß bis zum nächsten Ort, der von Rebellen kontrolliert wird. Danach fanden mein Vater und ich einen Wagen, der uns hierhergebracht hat.“
Riad, Ingenieur in einer Raffinerie, erzählt seine Geschichte im Fernsehraum des Mabrouk. Er ist schwer zu verstehen wegen seines schleppenden Englischs, aber vor allem, weil im Fernseher gerade lautstark das Fußballspiel Barcelona-Madrid übertragen wird. Die Jungs mit den grün-rot-schwarzen Tattoos der libyschen Fahne im Gesicht springen laut schreiend auf, wenn Messi seine Haken schlägt. Barca ist ihr Favorit. Riad beobachtet das Spiel aus den Augenwinkeln. Wichtiger ist ihm, „dass die Verbrechen Gaddafis überall erzählt werden“.
Riad stammt aus der Berberregion im westlichen Libyen. Er versteht den Berberdialekt im Süden Tunesiens. Seinen wahren Namen, auch den Namen seiner Heimatstadt, will er nicht nennen. Aus Angst. „Denn in den Hotels nisten sich auch Gaddafi-Spione ein“, flüstert er. „Die Leute in Tunesien behandeln uns gut. Sie sind gastfreundlich“, sagt Riad. „Für uns aus den Bergen ist es einfach die Grenze nach Tunesien zu überqueren. Die Gaddafi-Leute kontrollieren nur die Straßen am Fuß der Berge.“
Riad hasst Gaddafi: „Wir Berber konnten nie gute Jobs bekommen. Nicht als Arzt, nicht als Ingenieur. Zu medizinischen Behandlungen gingen wir nach Tunesien, denn Gaddafi hat keine Infrastruktur im Land aufgebaut. Gaddafi ist ein großer Lügner. Er tat nichts für sein Land. Er stahl unser Geld, zerstörte unser Land von Norden nach Süden, von Westen nach Osten. Und nun zerstört er unsere Menschlichkeit, unsere Familien. Meine Mutter und mein kleinster Bruder haben bei Verwandten in Tripolis Unterschlupf gefunden. Mein älterer Bruder kämpft gemeinsam mit den Rebellen.“
Laut Schätzungen haben 25.000 Familien aus Libyen Zuflucht bei Privatleuten in Tunesien gefunden. „Wir helfen ein bisschen“, sagt Majid an der Rezeption des Hotels Mabrouk. „Viele meiner Landsleute kommen nun aus dem Norden, aus Tunis oder Bizerte und bringen Medikamente, Essen, Kleider Spielsachen für die Flüchtlinge. Viele lernen so zum ersten Mal ihr Land und die Schönheit dieser Region kennen und wollen später einmal wiederkommen.“ Galten die Libyer, die gerne im Süden Tunesiens auf der Ferieninsel Djerba freizügiges Dolce Vita lebten, den Tunesiern immer als bäuerlich und ungehobelt, so helfen die Tunesier ihnen und den anderen Flüchtlingen nun selbstverständlich.
„Die Solidarität, die die tunesische Bevölkerung zeigt, ist enorm“, sagt auch Chouikha Mohamed, Vorsteher des Flüchtlingscamps von Remada, etwa 80 Kilometer südlich von Tataouine und 30 Kilometer vom libysch-tunesischen Grenzort Dehiba entfernt. Dort, wo in den letzten Wochen libysche Geschosse auf tunesischer Seite niedergingen. „Die Tunesier haben gezeigt, dass sie eine sehr menschliche Seite haben. Sie helfen den Flüchtlingen unabhängig von Religion und Herkunft. Gestern waren 1.500 Personen im Camp. Da ist ein kleine Katastrophe passiert. Der Wüstenwind hat die Zelte, die wir gebaut hatten, umgerissen. Die Hälfte der Menschen sind nun geflüchtet: nach Tataouine, nach Zarzis, nach Medenine. Privatleute haben sie aufgenommen, manche Gemeinden haben ihnen geholfen. Sie konnten in Jugendherbergen und Schulen übernachten.“
Mohammed gibt Frauen zur Begrüßung nicht die Hand und er trägt den Rauschebart – offensichtliche Bekenntnisse zum Islam. Er sei ein Kölscher Jung, gesteht er nach einiger Zeit des gegenseitigen Abtastens und Erkennens und spricht in flüssigem Deutsch weiter: „Ich arbeite eigentlich für Taawon in Zarzis. Eine soziale Organisation. Sie hilft alleinerziehenden Frauen und unterstützt Jugendliche, die studieren wollen. Libyen kam überraschend und wir sind irgendwie eingetaucht in diese Kriegsgeschichte. Das ist für uns eine große Herausforderung. Die Assoziation Taawon arbeitet jetzt im Auftrag der UN.“
Es ist trocken, heiß und völlig schattenfrei im Flüchtlingscamp. Winzige, weiße Zelte stehen in Reih und Glied. Der Schriftzug des UN-Flüchtlingskommissars (UNHCR) prangt auf ihnen. Viele der Zelte liegen eingefallen auf dem Boden. Sie wurden nach dem Sturm noch nicht wieder aufgebaut. Dünne Matratzen stapeln sich vor den Zelten in der Sonne. Nur Alte, Kinder und Frauen sind noch da. „Wir haben alles verloren“, übersetzt Mohammed die Erzählung einer Frau. „Wir wollen nach Hause, wir haben Angst“, sagt sie und versteckt sich hinter ihrem Kopftuch, als wäre jedes Wort zu viel.
Waren es bislang vor allem Flüchtlinge aus dem Tschad, aus Somalia oder Ägypten, die hier strandeten und dann über Djerba ausgeflogen wurden, so kommen nun fast ausschließlich Libyer. „Bei uns in Remada sind nur libysche Familien. Sechzig Prozent sind Frauen und viele, viele Kinder. Die Menschen wollen einfach nur abhauen. Und die Männer gehen zurück, um zu kämpfen. Was Gaddafi getan hat, das kann sich kein Mensch vorstellen. Es ist so brutal, was die Leute uns erzählen. Es ist traumatisch.Wir versuchen auch psychologische Hilfe zu leisten“, sagt Mohammed.
Viele Hilfsorganisationen sind inzwischen vor Ort: Schweizer, Deutsche, Italiener. Der UNHCR diskutiert Pläne, wie der Sommer für die Flüchtlinge in dieser unerbittlichen Wüste lebbar gemacht werden kann, und er will die Hilfsaktionen zusammenführen. „Ich hoffe, dass wir Wege finden“, meint Mohammed. „Sie waren vom UNHCR hier. Sie haben notiert, was fehlt. Denn die Menschen sollen ja in der Nähe der Grenze bleiben, damit sie dann wieder schnell in ihr Land zurückkönnen, wenn der Horror Gaddafi vorbei ist.“
Auch zum Abschied reicht Chouikha Mohammed nicht die Hand. Dafür schenkt er optimistische Worte: „Unsere Revolution in Tunesien hat der liebe Gott gewollt, das hat die Türen für die Libyer geöffnet. Denn ich kann mir vorstellen, wenn Ben Ali an der Macht gewesen wäre, gäbe es diese Solidarität nicht. Die Menschen sind hungrig nach Solidarität. Denn wir können endlich selbst handeln. Es ist einfach enorm, was bei uns passiert ist. Wie ein großes Tor, das sich geöffnet hat, damit die Menschen neues Vertrauen aufbauen. Demokratie. Respekt. Gleichheit.“
Ex oriente lux:
– In der Prenzlauer Berg Kneipe „Rumbalotte“ kam es erneut zu einer Diskussion über den Allarabischen Aufstand – „Was fasziniert Dich daran so?“ Weil die meisten in dem, was sie davon mitbekommen, nichts Neues entdecken können, sondern nur die berechtigte Wut gegen verbrecherische Regime, die sich nicht selten religiös artikuliert, ist daran gedacht, eine Sammlung von Äußerungen arabischer aufständischer Frauen für die Kneipen-Zeitung „Konnektör“ zusammenzustellen.
In der neuen Ausgabe von „Le Monde Diplomatique“ schreibt der Journalist Jean-Pierre Séréni über die derzeitige Entwicklung in Tunesien – „nach der erfolgreichen Revolution“:
Seit vier Monaten schwanken die Tunesier zwischen einer Fortsetzung der Revolution und der schnellen Durchführung von Wahlen. Die einen drängen darauf, die Strukturen des alten Regimes zu beseitigen und den Autoritarismus, der seit der Unabhängigkeit 1956 die Politik Tunesiens bestimmte, endgültig zu überwinden – sie finden den Wahltermin für eine verfassunggebende Nationalversammlung am 24. Juli zu früh. Andere erwarten die Wahlen mit Ungeduld, weil sie die gefährliche Unsicherheit des Übergangs möglichst schnell beendet sehen wollen.
Dieser Zwiespalt erschwert die Zusammenarbeit zwischen den beiden einzigen derzeit aktiven politischen Institutionen, der Übergangsregierung und der neu gegründeten „Hohen Instanz für die Verwirklichung der Revolution, der politischen Reform und des demokratischen Übergangs“. Letztere besteht aus zwölf Parteien, neunzehn Vereinen und Gewerkschaften und 72 „nationalen Persönlichkeiten“.(1)
Die Zahl der Komiteemitglieder – niemand weiß genau, von wem sie ausgewählt wurden – stieg in nur drei Wochen (vom 14. März bis zum 7. April) von 71 auf 155. Sie tagen im Bardo, dem Sitz des früheren Senats, der ohne viel Federlesens aufgelöst wurde. Eigentlich ist die Aufgabenteilung klar: Die „Hohe Instanz“ soll die politischen Reformen steuern, während der Regierung die Aufgabe zukommt, die Ordnung zu wahren und trotz der katastrophalen Wirtschaftslage die Versorgung des Landes sicherzustellen. Denn seit die Touristen und Investoren wegbleiben und das reiche Nachbarland Libyen im Krieg versinkt, spitzt sich die Situation mehr und mehr zu.
Das Komitee versucht nun aber fortwährend der Übergangsregierung ihre Rolle als Legislative streitig zu machen. Die Regierung besteht aus weitgehend unbekannten Technokraten, die mehrheitlich von Mohammed Ghannouchi ernannt wurden, dem einstigen Ministerpräsidenten unter Präsident Ben Ali.
Béji Caïd Essebsi, seit dem 27. Februar Nachfolger von Ghannouchi, ist das einzige Schwergewicht im Kabinett. Die unerwartete Rückkehr des 84-Jährigen in die Politik ist dem Vakuum geschuldet, das 23 Jahre Ben Ali hinterlassen haben. Während dessen Herrschaft hatten ausschließlich die Jasager eine Chance, politisch Karriere zu machen. Essebsi profitiert auch von seinen guten Beziehungen zur einzigen landesweiten Institution, die die Revolution halbwegs ungeschoren überstanden hat: dem Allgemeinen Tunesischen Gewerkschaftsbund (UGTT). Der ist „seit seiner Gründung 1946 eine einzigartige Organisation in der arabischen Welt. Er hat bei allen historischen Ereignissen in Tunesien eine entscheidende Rolle gespielt“, betont der Wirtschaftsprofessor und UGTT-Berater Abdeljalil Bedoui.
1952 verteidigte der junge Anwalt Essebsi erfolgreich den damaligen UGTT-Generalsekretär Ahmed Tlili, dem vor einem Kolonialgericht die Todesstrafe drohte. So etwas schafft Bindungen. Und die sind umso nützlicher, als der Gewerkschaftsverband als einzige Massenorganisation des Landes (500 000 Mitglieder) neben der Anwaltskammer einer der beiden Stützpfeiler der „Hohen Instanz“ und des gesamten politischen Lebens in Tunesien ist.
Das Land zählt 8 000 Anwälte und ebenso viele Referendare – das sind viel zu viele für die Prozesse, die vor den 155 Gerichten des Landes ausgetragen werden. Als natürliche Verbündete der jungen Besitzlosen von Sidi Bouzid haben sie deren Verzweiflungsschrei aufgegriffen und ihm einen politischen Gehalt verliehen, in dem sich die ganze Jugend wiederfand. Die vom alten Regime schikanierten Anwälte wittern nun ihre Chance: Auf der Straße und im Fernsehen kämpfen sie aktiv und mit einer solchen Wortgewalt, dass ihre Gegner sie zuweilen als „Demagogen“ beschimpfen. An ihrer Spitze steht der dynamische und einflussreiche Abderrazak Kilani. Er stammt aus einer großen Familie aus dem Süden des Landes und war der Erste, der vom neuen Ministerpräsidenten Essebsi empfangen wurde. „Wir müssen verhindern, dass wir wieder über den Tisch gezogen werden wie 1987 von Ben Ali“, erklärt er uns in seinem Büro im Justizpalast von Tunis. „Wir wollen die Wächter der Revolution sein und die Demokratie verteidigen, keine politischen Mandate erringen.“
Am 11. April, nur elf Tage später als geplant, hat sich die „Hohe Instanz“ auf eines der demokratischsten Wahlgesetze der Welt geeinigt: eine unabhängige Wahlkommission, Geschlechterparität und allgemeines Verhältniswahlrecht. Das Gesetz ist das Ergebnis eines Konsenses zwischen den im Bardo vertretenen politischen Kräften – Islamisten, Sozialisten, Zentralisten, Baathisten, Marxisten, Trotzkisten, Maoisten, arabischen Unionisten -, die alle überzeugt sind, dass die künftige Verfassung nur funktionieren kann, wenn sie ein Gemeinschaftswerk ist.
Alle haben Zugeständnisse gemacht: Die Ennadha-Partei, die die Mehrheit der Islamisten vertritt, stimmte für die Geschlechterparität, trotz großen Drucks von Seiten der radikal-salafistischen Minderheit Ettahrir. Ministerpräsident Essebsi wünschte sich eine Gliederung nach Wahlbezirken nach dem Vorbild der Dritten Französischen Republik vor 1914. Über eine solche Regelung wäre eine Mehrheit lokal gewählter Abgeordneter ins Parlament gelangt. Schließlich akzeptierte er jedoch das Proporzwahlsystem, das die kleinen Parteien bevorzugt – von denen es in Tunesien offiziell bereits 51 gibt – und das die Bildung einer moderaten Mehrheitsregierung unter Ausschluss der radikaleren Parteien unwahrscheinlich macht.
Doch in einem Punkt herrscht Uneinigkeit: Die einstigen Funktionäre der aufgelösten Partei Ben Alis, des Rassemblement Constitutionnel Démocratique (RCD), dürfen nicht für die verfassunggebende Versammlung kandidieren. Allerdings steht nicht genau fest, wie weit dieses Verbot geht. Immerhin ist die RCD aus der Néo-Destour hervorgegangen, die seit 1934 unter Führung von Habib Bourguiba für die Unabhängigkeit Tunesiens kämpfte.
In dessen Heimatstadt Monastir gab es am 6. April 2011, dem elften Jahrestag von Bourguibas Tod, größere Kundgebungen. Und der Ministerpräsident, ein früherer Mitstreiter Bourguibas, schmückt sich bei jedem öffentlichen Auftritt mit den Federn seines großen Mentors und verspricht, „das Ansehens des Staats“ wiederherzustellen.
Eines scheint bereits festzustehen: Die künftige Verfassung Tunesiens wird nicht heimlich von einer durch die Staatsmacht ernannten Expertenkommission geschrieben, wie in Ägypten, Marokko oder Algerien, sondern von einer demokratisch gewählten verfassunggebenden Versammlung. Damit erfüllt sich in Tunesien eine seit Generationen erhobene Forderung arabischer Oppositioneller.
Professor Yadh Ben Achour, Präsident der „Hohen Instanz“ und Architekt der ersten Etappe der Umgestaltung nach der Revolution, macht sich keine Illusionen: „Wir brauchen eine kulturelle Veränderung. Die Demokratie ist eine Mentalität und besteht vor allem aus ungeschriebenen Prinzipien: die Opposition zu respektieren, ihren Sieg hinzunehmen und den Machtwechsel ebenso zu akzeptieren wie das Risiko, bei jeder Wahl geschlagen werden zu können.“
Zwei andere Versprechen der Revolution werden schwerer zu erfüllen sein: Sie betreffen die Armutsunterschiede zwischen den Regionen und die Arbeitslosigkeit – die beiden Hauptursachen für die Unzufriedenheit in der Bevölkerung. „Das Wirtschaftsproblem ist das Problem der armen Regionen, aber dort spürt man keine Veränderung!“, empört sich Tahar Belkhodja, ein ehemaliger Minister und Bourguiba-Anhänger.
Den vierzehn ärmsten Regionen, die sich allesamt im Landesinnern befinden, wurde eine erste Nothilfe von 200 Millionen Dinar (105 Millionen Euro) zugewiesen. Am schlechtesten geht es den Menschen in Kasserine, Sidi Bouzid und Gafsa, dem roten Dreieck des Aufstands. Auf der „dorsale tunisienne“, jener kahlen ockerfarbenen Bergkette, die das Land in der Mitte teilt, würde Ministerpräsident Essebsi am liebsten schon vor den Wahlen spürbare Ergebnisse erzielen. Noch vor dem 24. Juli will Essebsi ein ehrgeiziges Entwicklungsprogramm für die Regionen „von Jendouba bis Medenin“ lancieren. Die Finanzierung steht zwar noch nicht, aber immerhin der Name: Bouazizi-Plan, nach Mohammed Bouazizi, dem jungen Gemüseverkäufer von Sidi Bouzid, der mit seiner Selbstverbrennung am 17. Dezember 2010 die Revolution auslöste. Der Plan zielt auf eine bessere Anbindung der westlichen Regionen, eine Anhebung des Bildungsniveaus, die Modernisierung des Gesundheitssystems und eine bessere Vermarktung lokaler Produkte.
Das zweite Hauptproblem, die Arbeitslosigkeit, betrifft jedoch das ganze Land: Tunesien hat 500 000 Arbeitslose, jeder vierte davon mit Universitätsabschluss. Seit dem 1. Januar sind 20 000 Stellen den Umständen der Revolution zum Opfer gefallen (Aussperrungen, Plünderungen, Zerstörung von Fabriken, Vandalismus). 50 000 tunesische Arbeitskräfte sind aus Libyen zurückgekommen, und im Juli werden weitere 70 000 Absolventen die Hochschulen verlassen – insgesamt also 140 000 neue Arbeitssuchende in sechs Monaten.
Doch die Regierung ist optimistisch: 60 000 neue Arbeitsplätze sollen entstehen, zu gleichen Teilen in der Verwaltung, bei den Ordnungskräften und im Privatsektor. Dass die Veröffentlichung der ersten Prüfungsergebnisse für Lehramtsanwärter um einige Wochen verschoben wurde, verdeutlicht, wie angespannt die Lage ist. Auf die 3 000 Plätze hatten sich 100 000 Kandidaten beworben – man befürchtete Aufruhr.
Während sich tausende junge Leute auf den gefährlichen Weg nach Lampedusa machen, andere sich durch den Straßenverkauf von Schmuggelwaren über Wasser halten und eine kleine Minderheit in die Kriminalität abrutscht, erlebt Tunesien auf der anderen Seite neue Formen der gesellschaftlichen und politischen Mobilisierung.
Immer öfter mietet man sich mit dreißig Leuten einen Autobus, um nach Tunis zu fahren und direkt im Büro des Ministers Angelegenheiten zu regeln, die seit Ewigkeiten im bürokratischen Apparat untergegangen waren. Ständige Sit-ins an symbolträchtigen Orten, einer Autobahn, einem Bahngleis, einem Verwaltungsgebäude oder neben einer Gaspipeline, gehören bereits zum Alltag. Unfähige Chefs, Provinzverwalter oder Fabrikdirektoren müssen neuerdings ihren Hut nehmen, und mehrere aufsässige Regionen auf der Dorsale haben ihre unglücklichen, von Tunis entsandten Gouverneure schon zwei- oder dreimal wieder fortgeschickt.
Die „Sansculotten der Dorsale“, die sich in der Hauptstadt auf dem Regierungsvorplatz in der Kasbah versammelt hatten, setzten Ende Januar die Entlassung von acht RCD-Ministern durch. Ende Februar kamen sie in noch größerer Zahl zurück und verjagten den damaligen Ministerpräsidenten Ghannouchi. Wer mag ihr nächstes Ziel sein?
Noch Ende Januar glaubte der syrische Präsident Baschar al-Assad, dass sein Land nicht von der Welle der Veränderung ergriffen würde, die über die anderen arabischen Staaten hinwegrollte. In einem Interview mit dem Wall Street Journal vom 31. Januar reagierte er auf die Frage, ob die Lage in Syrien mit der in Ägypten zu vergleichen sei, mit der Gegenfrage: „Warum ist Syrien stabil, obwohl unsere Situation noch schwieriger ist? Ägypten wurde von den USA finanziell unterstützt, wir dagegen werden von den meisten Ländern der Welt boykottiert. Und dennoch unternimmt unser Volk keinen Aufstand. Um was es geht, sind nicht nur Bedürfnisse nach Reformen. Es geht um ideologische Fragen, um Überzeugungen, um die Sache, die man vertritt. Es ist eben ein Unterschied, ob es um eine Sache geht oder ob da ein Vakuum ist.“1
Gewaltiger kann man sich kaum irren. Nur wenige Wochen später forderten die Syrer ein Ende der willkürlichen Verhaftungen und der Polizeigewalt, die Freilassung der politischen Gefangenen, eine unabhängige Presse, die Abschaffung von Artikel 8 der syrischen Verfassung, der besagt, dass die Baath-Partei „Staat und Gesellschaft führt“, und die Aufhebung des Ausnahmezustands, der seit der Machtergreifung der Baath-Partei 1963 in Kraft ist.
Alles begann in Deraa, der Stadt im Süden nahe der jordanischen Grenze. Als am 6. März ein Dutzend Jugendliche wegen regimekritischer Graffiti festgenommen wurde, gingen die empörten Bürger massenhaft auf die Straße. Joshua Landis, einer der besten ausländischen Kenner Syriens, notierte in seinem Blog: „Deraa ist sehr arm und religiös (sunnitisch) konservativ. Hier kommen alle Probleme Syriens zusammen: eine darniederliegende Wirtschaft, die demografische Explosion, ein übler lokaler Gouverneur und die autoritären Sicherheitskräfte.“(2) Diese Sicherheitskräfte schossen mit scharfer Munition in die Menschenmenge. Das war ein womöglich fataler Fehler des Regimes, dessen gewaltsames Vorgehen inzwischen hunderte Menschenleben gekostet hat.
Vor dem Ausbruch der Krise galt Präsident Assad nicht gerade als der klassische arabische Diktator. Der 45-jährige Staatschef war zurückhaltender und nicht so arrogant wie einer, der sich für die Macht geboren fühlt. 1994 war sein älterer Bruder Basil, den Vater Hafis al-Assad als seinen Nachfolger auserkoren hatte, bei einem Autounfall umgekommen. Damals wurde der jüngere Bruder Baschar, der in London Augenheilkunde studierte, wider Willen in die Politik gestoßen. Bis zu den Toten in Deraa und anderen Städten sahen viele Syrer in ihm einen gebildeten, modernen Führer, den sie unterstützten, weil er noch am ehesten in der Lage schien, die notwendigen Reformen einzuleiten.
Als Baschar 2000 die Nachfolge seines Vaters antrat, war Syrien ein ökonomisch rückständiges Land, das sich von der zunehmend technologisierten und globalisierten Welt isolierte. Entsprechend galten seine ersten Reformen dem Finanz- und Wirtschaftssystem. 2004 wurden die ersten Privatbanken und Versicherungsgesellschaften zugelassen; seit März 2009 gibt es in Damaskus eine Börse, auch verhandelt das Land über seinen Beitritt zur Welthandelsorganisation (WTO). Es entstand die Infrastruktur für ein Mobiltelefonnetz und das Internet, zudem wurden zahlreiche private Schulen und Universitäten zugelassen.
Syrien entwickelte auch enge Beziehungen mit der Türkei; die Aufhebung der Visapflicht zwischen beiden Ländern ließ den Handel insbesondere in der Grenzregion aufleben. Davon profitierte vor allem Aleppo im Nordwesten des Landes. Aber auch in Damaskus, wo die Altstadt revitalisiert und viele alte Häuser restauriert wurden, entstanden dank des boomenden Tourismus viele neue Hotels und Restaurants.
Die Reformen verschärften allerdings auch die Ungleichheit innerhalb der syrischen Gesellschaft und ließen die Zahl der Arbeitslosen steigen.(3 )Jede dritte Familie lebt unterhalb der Armutsgrenze. Die knappen Ölvorkommen gehen zur Neige, und nach mehreren Dürrejahren ist Syrien gezwungen, große Mengen an Weizen zu importieren. Ein gewaltiges Problem ist auch die Korruption, die noch viel weiter verbreitet ist als in Tunesien oder Ägypten.
Noch sind die Demonstranten politisch unstrukturiert, noch haben sie keine eigene Führung hervorgebracht. Wie in den anderen arabischen Ländern lässt sich auch in Syrien schwer sagen, wer genau die Oppositionellen sind. Die Repression der vergangenen Jahrzehnte hat die Strukturen der Regimegegner weitgehend zerstört, und die „Zivilgesellschaft“ besteht nur aus wenigen Einzelpersonen. Zudem erschweren die konfessionellen Grenzen den Aufbau einer gemeinsamen Identität: Die syrische Bevölkerung ist mehrheitlich sunnitisch, aber es gibt auch bedeutende Minderheiten von Alawiten (12 bis 15 Prozent), Christen (10 Prozent) und Drusen, dazu die ethnische Minderheit der Kurden.(4)
Auch das Assad-Regime, dessen Kader sich vor allem aus Alawiten rekrutieren, muss in gewisser Weise anerkennen, dass die Islamisten eine wichtige politische Kraft darstellen. Nach einem Treffen mit sunnitischen Geistlichen erlaubte der Präsident die Wiedereinstellung von tausend Lehrerinnen, die zuvor wegen ihres Schleiers von den Schulen verwiesen worden waren, und verordnete die Schließung des einzigen Kasinos im Land. Die Muslimbrüder sind zwar geschwächt, haben jedoch nach wie vor einen gewissen Einfluss. Auf den Demonstrationen waren neben antialawitischen Sprechchören auch Parolen gegen andere Minderheiten zu hören, vor allem gegen die Christen. Aber auch das Regime hat keine Skrupel, die religiösen Spannungen zu manipulieren und zu instrumentalisieren.
Über dieser Szenerie hängt wie eine dunkle Wolke die Erinnerung an die Massaker von Hama 1982. Damals hatte Präsident Hafis al-Assad einen bewaffneten Aufstand der Muslimbrüder blutig niederschlagen lassen. Diese islamistische Gruppierung hatte seit 1977 eine Reihe von Attentaten verübt und Repräsentanten des Regimes getötet. Als die Bruderschaft die Kontrolle über die Stadt Hama im Zentrum Syriens übernahm und Mitglieder der Baath-Partei und Regierungsbeamte umbrachte, schlug das Regime mit aller Härte zurück. Bei der Beschießung der Stadt durch die Armee sollen Schätzungen zufolge 10 000 bis 20 000 Menschen getötet worden sein. Fast 30 Jahre später sinnen einige Islamisten immer noch auf Rache, während die Machthaber mit den Ängsten der Alawiten und der anderen religiösen Minderheiten spielen.
Am 16. April hat der Präsident zwar eine Reihe von Reformschritten angekündigt, wie etwa ein neues Presse- und Parteiengesetz und die Aufhebung des Ausnahmezustands. Doch die Wirkung dieser Maßnahmen verpuffte, als die Sicherheitskräfte fortfuhren, auf die Zivilbevölkerung zu schießen. Der Einmarsch der Armee in Deraa und die Informationen über Massaker, die nach außen dringen, lassen erkennen, dass das Regime jetzt hart durchgreifen will.
Die Jahre an der Macht haben Präsident Baschar al-Assad skrupelloser gemacht. Er findet immer mehr Gefallen an der umfassenden Kontrolle über Gesellschaft, Medien, Universitäten und Wirtschaft, die er über das Netzwerk seiner Familie und seiner Vertrauten ausübt, vor allem über seinen Cousin Rami Machlouf, der eine der großen syrischen Mobiltelefongesellschaften beherrscht. Sogar die Baath-Partei selbst dient nur noch zur Mobilisierung der Massen und als Instrument, um loyale Anhänger zu belohnen und Dissidenten zu bestrafen. Jede freie Meinungsäußerung ist ausgeschlossen; die politischen Entscheidungen trifft eine Clique um den Präsidenten und die Chefs der Geheimdienste.(5) Im Übrigen hasst es Baschar al-Assad wie sein Vater Hafis, wenn es so aussieht, als müsse er äußerem Druck nachgeben.
Würde Baschar sich tatsächlich entscheiden, das Regime zu reformieren, müsste er die Interessen seiner erweiterten Familie wie der Profiteure des Regimes verraten. Das sind die Befehlshaber der Geheimdienste und der Armee – allen voran sein Bruder Maher, der als Chef der Präsidialgarde einer der härtesten Hardliner ist -, die Mächtigen in der alawitischen Gemeinschaft und die reichen sunnitischen Geschäftsleute von Damaskus, die dem Regime nahestehen. Und auch die neue Bourgeoisie, die beim Übergang von der staatlichen zur Marktwirtschaft reich geworden ist, setzt aus Eigeninteresse auf den Präsidenten. Selbst wenn Baschar al-Assad gewillt wäre, mit den von ihm selbst geförderten brutalen Methoden der Geheimdienste und der Polizei zu brechen, müsste er binnen weniger Wochen Strukturen auflösen und Praktiken beenden, die nicht nur in Syrien, sondern in der ganzen Region seit Jahrzehnten tief verwurzelt sind.
Zudem müsste das Regime seine Gegner im Libanon, in Jordanien, im Irak, in Saudi-Arabien und natürlich in Israel im Auge behalten. Dabei spielen auch die Netzwerke der Exilsyrer in London, Paris und Washington eine Rolle, die zum Teil Unterstützung durch die USA erhalten. Aus einer von der Washington Post am 17. April veröffentlichten Wikileaks-Enthüllung geht hervor, dass die syrische Exilopposition, insbesondere in London, zwischen 2005 und 2010 vom US-Außenministerium 12 Millionen Dollar bezogen hat.
Die Amtszeit Baschars erweist sich immer deutlicher als die konsequente Fortsetzung des Regimes seines Vaters. Indem Hafis al-Assad seinen Sohn zum Nachfolger erwählte – und nicht seinen damaligen Vizepräsidenten Abdul Halim Chaddam oder einen anderen loyalen Mitstreiter -, vererbte er diesem ein autoritär-zentralistisches System, das auf einer allmächtigen Präsidentschaft beruhte, aber auch ein komplexes System von – regionalen und internationalen – Verbündeten und Gegnern, das über lange Zeit die syrische Politik bestimmt hatte.
Umfassende innenpolitische Reformen, wie sie aktuell nötig wären, erfordern deshalb auch und vor allem eine Abkehr vom Primat der Außenpolitik. Die war für die Al-Assad-Dynastie seit Jahrzehnten von zentraler Bedeutung und hat, was vor allem für den Konflikt mit Israel gilt, seine Energien fast vollständig absorbiert. Syrien musste sich über Jahrzehnte in einem feindlichen regionalen Umfeld behaupten.
Diese Epoche des Nahe Ostens stand im Zeichen des überlegenen israelischen Siegs im Sechstagekrieg von 1967, der israelischen Besatzung großer Teile des syrischen Territoriums (Golanhöhen) und des engen Bündnisses zwischen Israel und den USA. Das bedeutete eine amerikanisch-israelische Hegemonie, der sich Syrien ständig zu entziehen versuchte. Der von Syrien und Ägypten angefangene Jom-Kippur-Krieg von 1973, mit dem beide Länder versuchten, verlorene Gebiete zurückzugewinnen und Israel zum Abschluss eines umfassenden Friedensabkommens zu zwingen, brachte erste Erfolge. Doch dann unterzeichnete Ägypten 1979 einen separaten Friedensvertrag mit Israel, womit die israelische Vorherrschaft in der Region besiegelt war.
In dieser bedrohlichen Lage ging Syrien ein Partnerschaft mit der noch jungen islamischen Republik Iran ein. Nach der israelischen Invasion im Südlibanon 1982, die auf die Zerstörung der Palästinensischen Befreiungsorganisation (PLO) und die Eingliederung des Zedernstaats in die israelische Einflusszone zielte, verbündete sich Damaskus auch noch mit dem schiitischen Widerstand im Nachbarland. Mit logistischer und militärischer Unterstützung Syriens und des Irans gelang es der Hisbollah mit ihrer Guerillataktik, im Mai 2000 die 18 Jahre währende israelische Besatzung zu beenden und den Südlibanon zu befreien.
Das festigte die Achse Syrien/Iran/Hisbollah/Hamas, die jetzt zum regionalen Hauptwidersacher der USA und Israels wurde. Die ihrerseits versuchten alles, um diese Achse zu zerstören und vor allem daran zu hindern, militärische Abschreckungskapazitäten aufzubauen. Gegen den Iran wurde wegen seines Nuklearprogramms Sanktionen verhängt und militärische Drohungen ausgesprochen; die Hisbollah musste sich gegen die israelischen Drohungen behaupten, die im Sommer 2006 in einen Krieg mündeten. Und Syrien wurde eingeschüchtert, isoliert und von den USA mit Sanktionen belegt. Im September 2007 bombardierte Israel eine syrische Anlage, von der man annahm, sie diene der Entwicklung von Atomwaffen.
All diese Jahre waren für Präsident Baschar al-Assad eine harte Lehrzeit. Er musste, wie vor ihm schon sein Vater, lernen, gleichzeitig mit mehreren potenziell existenzbedrohenden Krisen umzugehen. Er konnte aber auch darauf verweisen, seinem Land eine gewisse Sicherheit und Stabilität verschafft zu haben. Verglichen mit den wüsten Kriegen, die den Libanon und den Irak beherrschten, war das, was die Syrer in den letzten Jahren erlebten, fast schon beneidenswert.
Aber das alles hatte seinen Preis. In einem Staat, der in einer feindlichen Umgebung überleben muss, wächst zwangsläufig die Macht der Geheimdienste als Garanten des Regimes – zum wachsenden Verdruss der normalen syrischen Bürger. Das Resultat war ein „Dialog unter Tauben“: Wegen ihrer Fixierung auf die außenpolitischen Krisen übersah das Regime die innenpolitische Krise. Baschar al-Assad glaubte offenbar, wie schon sein Vater, seine nationalistische Haltung – gegen die USA und Israel, für die Hisbollah und die Hamas – würde ihn automatisch gegen die Unzufriedenheit im Innern immunisieren.
Die Explosion des Volkszorns kam für Baschar al-Assad offensichtlich genauso überraschend wie für andere arabische Autokraten. Jetzt müsste er die Außenpolitik für eine Weile vergessen und sich entschlossen den innenpolitischen Herausforderungen stellen. Ob ihm das gelingt und sein Regime die aktuelle Krise übersteht, muss man stark bezweifeln. Jedenfalls ist heute die Assad-Herrschaft über Syrien mindestens ebenso stark von innen gefährdet, wie es der Staat Syrien jahrzehntelang von außen war.
(1) Interview unter: www.voltairenet.org/article168333.html.
(2) Joshua Landis, „Deraa: The Government Takes off its Gloves: 15 Killed“, 23. März 2011, www.joshualandis.com/blog/?p=8692.
(3) Siehe Samir Aita, „Les travailleurs arabes hors-la-loi“, Paris (L’Harmattan) 2011.
(4) Mehreren hunderttausend Kurden verweigerte das syrische Regime über Jahrzehnte die Staatsbürgerschaft. 2004 hatte der Präsident angekündigt, sie offiziell zu Syrern zu machen, doch das Versprechen nicht gehalten. Jetzt erklärte er am 7. April, ab sofort seien die vor allem im Nordosten Syriens lebenden Kurden syrische Staatsbürger.
(5) Siehe Judith Cahen, „Hinter jedem Geschäftsmann ein General“, Le Monde diplomatique, November 2002.
Auf den ersten Blick ist in Algier alles wie immer: Das Verkehrschaos hat seit meinem letzten Besuch noch weiter zugenommen, so dass es oft klüger scheint, zu Fuß zu gehen, als sich in einen der überfüllten Kleinbusse zu zwängen und dann doch nur im Stau zu stehen. Auf der Rue Didouche Mourad, die von der an einen Atommeiler erinnernden Kathedrale aus den 50er Jahren hinunter zum Hafen führt, flanieren die besser betuchten „Dzieris“ (so nennen die Algerier die Hauptstadtbewohner). Im Parc de la Liberté, der oft nur „Parc des Amoureux“ genannt wird, sitzen wie immer die Händchen haltenden Paare. Und auf dem Markt in Bab El Oued schieben sich die streng verschleierten Frauen an den Auslagen mit chinesischem Plastikspielzeug vorbei.
Doch es genügt, eine der zahlreichen Tageszeitungen aufzuschlagen, die hier an jeder Straßenecke verkauft werden, um zu begreifen, dass es auch in Algier rumort: Die Hochschullehrer streiken; die Arbeitslosen protestieren vor dem Präsidentenpalast; die Jugendlichen der Elendsviertel gehen auf die Straße, um die lang versprochenen „relogements“ durchzusetzen, damit sie aus den hoffnungslos überfüllten und abrissreifen Wohnsilos herauskommen; die Familien der in den 90er Jahren „Verschwundenen“ fordern die Öffnung der Archive, und sogar die Gardes Communaux, eine Sondertruppe der Polizei, die in den 90ern gegen die islamistischen Kampfgruppen eingesetzt wurde, protestiert für bessere Gehälter. Algier im Frühling 2011 erlebt zahllose kleinere Sit-ins, Demonstrationen und Proteste, aber die große Revolution scheint vertagt.
Am 5. Januar, als die Jugendrevolten sich im ganzen Land ausbreiteten, war das noch anders. Adlen, der bei einer Tageszeitung in Algier arbeitet, erzählt mir, an diesem Abend habe er geglaubt, nun beginne die Revolution auch in Algier. Doch die Polizei gewann mit Schlagstöcken und Tränengas bald die Oberhand.
Die Jugendlichen, die sich seither immer wieder kleinere Straßenschlachten mit der Polizei lieferten, kommen aus Elendsquartieren wie Diar Echams, Climat de France oder Diar-el-Mahçoul. Das liegt auf einem Hügel, neben dem Maqam Echahid, dem riesenhaften Monument für die Märtyrer des Unabhängigkeitskampfs gegen Frankreich. Es besteht aus glattem, weißen Beton und thront über der Stadt wie ein überdimensionaler Wachturm. 200 Meter weiter stehen die baufälligen Wohnblöcke von Diar-el-Mahçoul eng aneinander; in den Zweizimmerwohnungen leben oft bis zu zehn Personen, mit der Wasserversorgung gibt es ständig Probleme. Auf der Fahrbahn sind die Überreste der Straßenschlacht vom Vortag zu sehen, Glassplitter, Steine und Holzplanken liegen verstreut. Die Straße, die vom Riad-el-Feth-Platz ins Zentrum führt und direkt neben den Wohnblöcken verläuft, wurde Ende März von Jugendlichen des Viertels besetzt, mit der Absicht, die Blockade über drei Wochen aufrechtzuerhalten, denn dann, so hat der Wali von Algier versprochen, soll die Umsiedlung beginnen.
Einen Protest ganz anderer Art kann man seit Mitte Februar an jedem Samstag, dem zweiten Tag des algerischen Wochenendes, auf dem Platz des 1. Mai beobachten. Dort organisiert das Oppositionsbündnis Coordination pour le Changement et la Démocratie (CNCD) seinen wöchentlichen Demonstrationszug. Der wird allerdings regelmäßig von einer gewaltigen polizeilichen Übermacht aufgelöst, bevor er überhaupt begonnen hat. Alle Demonstrationen in der Hauptstadt bleiben verboten, daran hat auch die Aufhebung des 19 Jahre bestehenden Ausnahmezustands am 24. Februar nichts geändert.
Nordine Grim, Journalist bei der Tageszeitung El Watan, erklärt mir bei einem öligen algerischen Kaffee in einem kleinen Eckbistro im zentralen Telemly-Viertel, dass man von der offiziellen politischen Opposition nichts erwarten könne. Die Veränderungen müssten von der Jugend ausgehen, nicht von den alten Kadern der Oppositionsparteien. Algerien hat seit der politischen Öffnung 1989 ein Mehrparteiensystem, doch die zugelassenen Parteien haben bei den Algeriern keinen guten Ruf. Sie werden von vielen als Legitimationsinstrument des Regimes wahrgenommen, manche sagen sogar, sie steckten mit der „pouvoir“ unter einer Decke.
Das sieht Madjid Yousfi, Nationalsekretär der führenden Oppositionspartei Rassemblement pour la Culture et la Democratie (RCD), natürlich anders. Er sitzt in seinem bescheidenen Büro im Viertel El-Biar auf den Höhen über Algier, auch hier gibt es starken Kaffee, und wie fast überall in Algerien darf auch hier geraucht werden. Ich frage ihn, wie er sich das Misstrauen der Jugend gegenüber seiner Organisation erklärt. Er beginnt zu grinsen und fragt zurück, ob ich nicht wisse, dass das Regime die Jugendlichen manipuliere. Da ist er wieder, der Verweis auf eine ominöse Macht, die alle Fäden des algerischen Schicksals in den Händen hält und die Gesellschaft nach Belieben beeinflusst.
Zuweilen hat man den Eindruck, dass dieses Bild einer allgegenwärtigen Führungskaste vor allem einem hilft: dem Regime selbst. Jeder kann sich beschweren, über alles, was schiefläuft: Die Korruption, die katastrophale Wohnungssituation, die Arbeitslosigkeit, selbst die endlosen Staus, die täglich die Hauptstadt verstopfen – für alles lässt sich der finstere, undurchschaubare Machtapparat verantwortlich machen. Aber diese Vorstellung führt auch dazu, dass niemals Namen fallen. Keiner weiß wirklich, wer die Leute sind, die den Präsidenten einsetzen, über die Verteilung des enormen Reichtums aus dem Öl- und Gasexport bestimmen und die Ernennung jedes Ministers zuerst gutheißen müssen. Manche sagen, der wahre Machthaber sei General Mohamed Mediène, genannt „Toufik“, der Chef des algerischen Geheimdienstes DRS.
Die Opposition in Algier ist gespalten, doch es gibt Leute, die genau das ändern wollen. Abdou, Mitgründer einer jungen Facebook-Gruppe, die sich MJIC nennt (Mouvement de la Jeunesse Indépendant pour le Changement), hat mich zu einem Treffen eingeladen. In einer geräumigen Wohnung am Place Audin, in einem der wunderschönen Kolonialbauten, denen Algier seinen Namen „la blanche“ verdankt, diskutieren etwa fünfzehn junge Leute. Auch ein paar junge Frauen sitzen in der Runde, doch sie halten sich in der hitzigen Diskussion eher zurück. Das hier sind nicht die gleichen Jugendlichen, die sich für eine Wohnung mit fließend Wasser mit der Polizei prügeln müssen. Es sind Studenten, die sich schon lange in verschiedenen Protestgruppen engagieren und nach den Ereignissen in Tunesien beschlossen haben, dass in Algerien der erste Schritt darin bestehen muss, die unterschiedlichen Protestbewegungen zu vereinen.
„Auch wir haben anfangs an den Demonstrationen der CNCD teilgenommen“, erklärt mir Abdou. „Aber dann haben wir verstanden, dass die Zeit noch nicht reif ist für solche Aktionen. Unsere Strategie ist es, die Leute zu sensibilisieren und dafür zu sorgen, dass sich die unterschiedlichen Gruppen, die Arbeitslosen, die streikenden Arbeiter, die Jugendlichen aus den Elendsquartieren und alle anderen zusammentun – das ist eine Aufgabe von Jahren.“
Die Aufstände in Tunesien und Ägypten dienen diesen jungen Leuten als Vorbild, doch sie meinen auch, die Situation in Algerien sei anders. Dass sich viele Algerier mit politischem Protest zurückhalten, hat seinen Grund vor allem in den noch frischen Erinnerungen an die 90er Jahre, als im Land ein blutiger Kampf zwischen der Armee und islamistischen Gruppierungen tobte. Fast jede Familie hat in dieser Zeit einen Angehörigen verloren. „Die Leute wollen einen radikalen, aber vor allem friedlichen Wandel“, sagt Abdou. „Denn so sehr sie eine Veränderung herbeisehnen, sie haben Angst vor neuer Gewalt.“
Als Premierminister Ouyahia Anfang April in einer Diskussionssendung des staatlichen Fernsehens ENTV feststellte, Algerien brauche keine politischen Reformen, da das Land „keine politische Krise“ erlebe, hielten viele das für einen Aprilscherz. Doch mit einem hat er recht: Bisher richten sich die meisten Proteste in der Hauptstadt gegen konkrete soziale Benachteiligungen. Das macht es dem Regime umso leichter, durch finanzielle Zugeständnisse den Druck zu verringern. Vor kurzem schrieb der Quotidien d’Oran, das algerische Regime berechne jede Revolte in Dinar oder Euro: „Es reicht aus, zu wissen, wie viel, um die Frage nach dem Weshalb beiseitezuschieben.“
Am 12. April wehte dennoch ein Hauch von Revolution durch Algier. Auch Abdou und seine Facebook-Freunde nahmen am großen Protestmarsch der Studenten teil, der von der Coordination nationale autonome des étudiants (CNAE) organisiert worden war. Es war die erste große Demonstration in Algier seit den Berberprotesten von 2001, und zum ersten Mal konnten sich die Demonstranten gegen das massive Polizeiaufgebot durchsetzen.
Am 15. April sprach Präsident Bouteflika im Staatsfernsehen ENTV zu seinem Volk, es war seine erste Rede seit fast fünf Monaten. Gezeichnet von seiner Krankheit, deren genaue Natur in Algerien wie ein Staatsgeheimnis gehütet wird, kündigte er mit leiser Stimme und müdem Blick politische Reformen an. Niemand in Algier nahm diese Ankündigung ernst. Bouteflika, der die Algerier einst aufgefordert hatte, mit erhobenem Haupt durchs Leben zu gehen, hob während der zwanzigminütigen Ansprache ganze drei Mal kurz den Kopf, um sein Volk anzublicken.
(Im letzten Satz muß es doch wohl heißen: Damit ihn sein Volk ins Gesicht blicken kann)
Die taz berichtete am Freitag aus Libyen:
Irgendwo im Sandsturm wartet der Feind. Mit sieben Mann und zwei Pick-ups prescht Hauptmann Abdessalam in Richtung Brega. Sein Vorgesetzter befürchtet, dass sich Gaddafis Brigaden, die Kata’ib, hinter die vorderen Linien der Rebellen schleichen könnten. Abdessalam soll die Gegend auskundschaften.
„Oh boy“, knurrt der 30-Jährige und spült den Sand in seinem Mund mit warmen Wasser hinunter. Der Gibli, ein glühend heißer Wüstenwind, hat die Körner zu einem dichten Nebel aufgewirbelt. Wären die Kata’ib da draußen, würde man vermutlich direkt in sie hineinrasen. Dann tauchen plötzlich Bewaffnete in den Dünen auf und versperren die Straße. Mit quietschenden Reifen kommt die Patrouille zum Stehen. Die anderen sind auch Rebellen. „Fahrt nicht weiter“, ruft ein Major in Badelatschen durch den Sturm. „Da draußen sind keine mehr von uns.“ Die meisten, die hier ausharren, haben sich vor dem Sandsturm hinter die letzte Verteidigungslinie zurückgezogen. Die ist rustikal, aber ordentlich: Links und rechts der Straße haben Bulldozer einen kilometerlangen Wall aus Sand aufgeschüttet. Entlang dieser Verschanzung warten Toyota-Pick-ups. Ihre aufmontierten Flak-MGs, Raketenwerfer und Helikoptergeschütze blicken Richtung Brega.
Abdessalam wendet und rast zurück in seine Kaserne nach Adschdabija. Dort warten weitere Frontkämpfer im Alter zwischen 15 bis 50 bei Tee, Joints und Süßigkeiten auf ihren Einsatz. An den Wänden hängen Bilder von Bob Marley und – wie überall im Rebellengebiet – von Che Guevara. Aus einem Kassettenrekorder dröhnt arabischer Rai im Reggae-Rhythmus.
Die meisten hier sind keine Berufssoldaten, wie Abdessalam, der sich den Aufständischen gleich in den ersten Tagen mit seiner ganzen Kompanie angeschlossen hat. Da gibt es Muftah, 27, der, als die Unruhen ausbrachen, im Knast saß – wegen Drogenhandels. Damals verteilten die Wärter Waffen, erzählt er, und ließen alle frei mit den Worten: „Erschießt ein paar Rebellen.“ Stattdessen haben sich Muftah und die anderen schnurstracks den Rebellen angeschlossen. Andere sind Schüler, Handwerker oder Studenten.
Auf die Frage, ob sich in ihren Reihen ehemalige Al-Qaida-Leute befinden, schauen sich die Jungs und Männer ungläubig an. „Sieht das hier für dich so aus?“, fragt einer. „Das ist doch nur Gaddafi-Quatsch. Hier gibt es keine al-Qaida.“
„Al-Qaida ist Geschichte“, sagt auch Iman Bugaighis in der Rebellenhauptstadt Bengasi. Die Philosophiedozentin, die lange in London gelebt hat, vermittelt heute zwischen dem Übergangsrat der Aufständischen sowie Geschäftsleuten und Diplomaten. Ihr Arbeitsplatz ist das feine Tibesti-Hotel, wo auch der französische Botschafter residiert und alle, die auf gute Geschäfte mit der neuen Regierung hoffen.
„Der Westen sollte mal ein paar Sachen verstehen“, ärgert sich Bugaighis. Al-Qaida sei ein Produkt der Hoffnungslosigkeit gewesen. Hier die Diktatoren, dort der Westen, der sie unterstützt. „Jetzt vertreiben wir die Diktatoren, und der Westen hilft dabei“, sagt die 35-Jährige. Die Revolutionen in Nordafrika und dem Nahen Osten seien aber auch eine Antwort auf al-Qaida selbst: „Sie sagen den Terroristen: Ihr habt eure Chance gehabt. Aber statt die Pharaonen zu vertreiben, habt ihr nur Unschuldige ermordet.“ Jetzt wollten die Libyer Demokratie, Bildung, Rede- und Reisefreiheit. „Wir wollen, was ihr habt“, sagt Bugaighis.
Wer in Libyen nach den Überresten der Dschihad-Bewegung sucht, tut das in Derna, 300 Kilometer östlich von Bengasi. Die Küstenstadt gilt als weltweiter Topexporteur von Selbstmordattentätern. Im Irakkrieg waren rund 50 ausländische Dschihadisten aus Derna dabei – mehr als aus jeder anderen arabischen Stadt. Bereits in den 90er Jahren hat sich hier die Libysche Islamische Kampfgruppe – Muqatilah genannt – Straßenkämpfe mit der Regierung geliefert. Gaddafi griff damals brutal durch. Die meisten Dschihadisten wanderten ins Gefängnis, viele verschwanden einfach. Vor drei Jahren schlossen die Überlebenden ein Abkommen mit Saif al-Islam Gaddafi. Sie schworen der Gewalt ab und wurden freigelassen.
Seit Beginn der Revolution machen jedoch zwei ehemalige Afghanistan-Kämpfer von sich reden: Abdul Hakim al-Hasadi und der Ex-Guantánamo-Häftling Abu Sufian bin Qumu hatten – sehr zum Verdruss des revolutionären Stadtrats von Derna – eine Brigade aus 300 Mann gebildet und sich zu den Sicherheitsbeauftragten der 50.000-Einwohner-Stadt erklärt. Heute, zwei Monate später, sind sie weitgehend in der Versenkung verschwunden. Ein ehemaliger Offizier befehligt jetzt die Derna-Brigade, die auf rund 1.000 Leute angewachsen ist.
„Wir haben sie gewarnt“, sagt Stadtrat Ahmed Kaiqaban, ein Flugzeugingenieur, der 30 Jahre Gefängnis und Hausarrest hinter sich hat. „Schneidet eure Bärte oder geht. Und wenn ihr hier mit al-Qaida ankommt, seid ihr dran“, habe er den Veteranen gesagt. Diese hätten versprochen, sich nach der Revolution von selbst zurückziehen. „Ich denke, auch sie wollten nur Gaddafi beiseiteschaffen“, sagt Kaiqaban.
Draußen vor der zentralen Sahaba-Moschee in Derna treffen sich die Menschen und feiern allabendlich ein Fest der Demokratie. Jeder darf das Mikrofon nehmen und sagen, was er will. Manche werden ausgelacht, reden trotzdem weiter und bekommen dann doch Applaus. „Unglaublich, dass man öffentlich sagen darf, was einem durch den Kopf geht“, schwärmt einer.
„Die Zeit von al-Qaida läuft aus“, sagt spätabends einer der Männer, die noch auf dem Platz sitzen und Tee trinken. Die anderen nicken. Und was ist mit dem Gerücht, einige der 200 Libyer im afghanisch-pakistanischen Grenzgebiet seien auf dem Weg hierher? „Lassen Sie sie doch kommen“, sagt Kaiqaban. „Gegen Gaddafi dürfen sie gerne kämpfen, aber danach werden sie nach Hause geschickt.“
„Ich finde es langsam ermüdend, das immer wieder zu erklären“, sagt Noman Benotman. Früher hat er die Islamische Kampfgruppe geführt. Nach den 9/11-Anschlägen schwor er der Gewalt ab und schrieb öffentliche Briefe an seinen früheren Freund Osama bin Laden und forderte ihn auf, das Gleiche zu tun.
Heute arbeitet Benotman für die Quilliam-Foundation, einen Londoner Thinktank, der vor allem aus Aussteigern aus der Islamistenszene besteht. „Wir haben schon in den 90er Jahren kaum jemanden hinter uns gebracht“, sagt Benotman. „Und wenn, dann nur Verzweifelte und Verfolgte.“ Heute sei der Dschihadismus in Libyen absolut out und habe nichts mit der Revolution zu tun.
Warum das so ist, wird klar, wenn man die Erlebnisse der Menschen hört. Es sind Geschichten aus der Hölle, wie die der Familie al-Teira. Einen ihrer acht Söhne verlor sie in den 90er Jahren. Der Geheimdienst hatte ihn mitgenommen, und bis heute weiß niemand, wie er starb. Nacht für Nacht seien immer wieder die Geheimdienstleute aufgetaucht und hätten einzelne Familienmitglieder mitgenommen. „Ich war acht Tage zwischen den Verhören in einer Zelle, die sogar zum Liegen zu klein war“, sagt Marei al-Teira. „Es kam mir vor wie zehn Jahre.“ Den zweiten Sohn verlor die Familie Ende März bei der Verteidigung von Bengasi. Er bekam eine Kugel zwischen die Augen, nur Stunden bevor Sarkozys Luftwaffe dem Alptraum ein Ende machte.
Der 23-jährige Arzt Hussein berichtet vom Aufstand und dem Kampf um die Katiba, die Kaserne. Er zeigt die Orte, an denen die Menschen bei Demonstrationen von Flak-MGs in zwei Hälften zerrissen wurden und erzählt, wie er – als angehender Chirurg – vier von Gaddafis Soldaten im Kampf tötete und wie er nachts daran denken muss. Später befreiten die Aufständischen Menschen aus den Grüften unter der Katiba. Manche von ihnen hatten 12 Jahre lang kein Licht gesehen.
Doch nicht nur Gaddafi ist verhasst, auch die Islamisten haben die Bevölkerung immer wieder enttäuscht: In den 70er Jahren schienen die gemäßigten Moslembrüder einen Ausweg zu bieten – bis sie in den Gefängnissen verschwanden. In den 80ern und 90ern kamen die „Muqatilah“, die Gewalt von allen Seiten nahm zu. Schließlich das Bündnis der Muqatilah mit al-Qaida, das in den Trümmern von 9/11 unterging – nichts von alledem hat den Libyern geholfen.
Erst die Revolution hat sie weitergebracht. So herrscht im Moment tatsächlich das libysche Volk, anarchisch und voller Glauben an die selbst erkämpfte Freiheit. Gaddafi beschimpft die Freiheitskämpfer als „Ratten, Terroristen und Drogensüchtige“.
„Muammar, du Pussy, komm raus // wir sind die Ratten, wir sind hier“, singt der libysche Rapper Teabag auf der Kassette in Husseins Wagen. „Niemand“, sagt der Arzt und schiebt den Unterkiefer vor, „niemand stiehlt diese Revolution.“
„Zur hundertjährigen Erinnerung an den Aufstand“. Photo: hansjurt.ch
„Sasportas:…Ich habe gesagt, dass die Sklaven keine Heimat haben. Das ist nicht wahr. Die Heimat der Sklaven ist der Aufstand.“ So beginnt das Editorial der neuen Ausgabe des ostdeutschen „telegraph“, in dem es um „Aufstände“ geht.