vonHelmut Höge 19.05.2011

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„Den Vogel berühren, wenn er fliegt, ist das nichts?“ (Ibn Hamdis, arabischer Dichter, Sizilien 1055-1133 n.Chr.)

„In Wirklichkeit hat der Wunsch, davonzufliegen, mich niemals verlassen.“ (Assja Djebar, „Nirgendwo im Haus meines Vaters“, algerische Schriftstellerin , Paris, geboren 1936)

Es gibt so viele Romane von arabischen Frauen, die von arabischen Frauen handeln. Sind sie wirklich das historische Subjekt der Aufstände jetzt? Wobei es um das „Revolutionär-Werden“ geht, nicht um die Revolution, die so oder so Scheiße endet – oder eben weiter geht: Werden schaffend. Irritierend ist, dass ihre Vorbilder und Vorstellungen, wie es sein sollte/müsste, aus dem Westen kommen, wo man auch mit „Demokratiehilfe“ jetzt schnell bei der Hand ist. Obama will etliche Milliarden für „Umbruch in arabischer Welt“ locker machen, verkünden heute dpa und die Intelligenzblätter. Auch auf einer Arabienkonferenz vorgestern bei der Friedrich-Ebert-Stiftung wurde den eingeladenen arabischen Intellektuellen die „Deutsche Demokratiehilfe“ geradezu nahegelegt. Im Mehringhof machte man sich dagegen gestern darüber Gedanken, was – just zu Zeiten des „Deutschen Herbstes“ beim erfolgreichen Kampf der Iraner gegen das Schahregime in Teheran und drumherum alles falsch gelaufen war, weil daraus das noch viel schlimmere (kann man so etwas sagen?) Religionspolizei-Regime der Ayatollahs aus dieser „Revolution“ siegreich hervorging, die deswegen jetzt auch eine „islamische“ genannt wird. Und jetzt stehen die Muslimbrüder, die Salafiten, Al Quaida etc. auch schon wieder Gewehr bei Fuß quasi. So sehen das dieser Tage viele Kommentatoren und ihre Zielgruppen im Westen. Muß uns aber vielleicht nicht interessieren.

In der Kneipe „Freies Neukölln“ diskutierte man gestern Nacht jedenfalls über den neuesten Film ihres „Senders Freies Neukölln“, der jüngst in der „Creative Commons“ – als Allmendegut für interessierte Kollektive quasi – verstreut wurde. Es ging dabei um verschiedene Internet-blogs als Multiplikatoren, damit ihr Spielfilm „Exodos“, der von der Unzufriedenheit der hauptstädtischen  Sich-selbst-weg-Gentrifizierenden handelt, besser bekannt wird. Nicht zuletzt deswegen, um dabei herausbekommen, ob es eine solche Scene und ihre Sorgen auch anderswo gibt. Ermutigende Signale kamen diesbezüglich bisher aus Dayton/Ohio und Riga/Lettland. Andererseits meinte eine Kairoer  Bloggerin neulich im Haus der Kulturen Welt: in Ägypten halte man die hiesigen Anti-AKW-Proteste für „luxurious trouble“. Die Macher von „Exodos“, der heute Abend noch einmal im „Freien Neukölln“ gezeigt wird, fahren jetzt nach Barcelona. Dort, so sagten sie, fände gerade eine „Spanish Revolution“ statt.

In diesem Zusammenhang fanden sie es merkwürdig, das insbesondere die taz, die in der Kneipe gelesen werde, bisher nichts davon berichtet habe – d.h. über die Proteste der spanischen Jugend, die sich analog zur ägyptischen „Facebook-Generation“ auf den großen Plätzen der spanischen Städte organisiert hätten – wobei sie anscheinend die Form des „Sleep-Ins“ bevorzugen. Just als diese taz-Klage vorgebracht wurde, kam der taz-Handverkäufer ins Lokal – mit der Schlagzeile:

„Plaza de Tahrir“ – der Artikel befaßte sich dann gottlob lang und breit mit den seit über einen Monat sich ausweitenden Protesten der spanischen Demokratiebewegung, die u.a. den zentralen Platz in Madrid besetzt hält. Ihr Madrider Korrespondent Reiner Wandler hatte  dazu ein Interview mit einem der Aktivisten geliefert:

taz: Wer hat das Camp in Madrid organisiert?

Hernán: Das Camp unter dem Motto „Nehmt euch den Platz“ ist eine spontane Aktion. Die Idee kam am Sonntag nach der Großdemonstration auf. Etwa hundert Menschen gingen nicht nach Hause, sondern besetzten den Platz. Mittlerweile haben wir eine breite Unterstützung in ganz Spanien. In den meisten größeren Städten gibt es Camps wie das unsere.

In der Nacht zu Mittwoch waren mehrere tausend Menschen auf dem Platz. Wie organisieren Sie das Zusammenleben hier mitten in der Stadt?

Wir haben verschiedene Kommissionen eingerichtet. Eine Gruppe, die weitere Aktionen debattiert und vorbereitet, eine Gruppe, die die Reinigung des Platzes organisiert, andere kümmern sich um die Infrastruktur, das heißt um die Sonnendächer, Matratzen, Sitzgelegenheiten und so weiter. Dann gibt es die Sprecher, die Küchengruppe – und eine Gruppe von Anwälten, die sich um die rechtlichen Angelegenheiten kümmert.

Klingt nach einer umfangreichen Organisation.

Was uns noch fehlt, ist eine Sanitätergruppe. Aber wir hoffen, dass sich im Laufe des Tages auch dafür Freiwillige mit Erfahrung melden.

Viele Medien ziehen Parallelen zu der Besetzung des Tahrir- Platzes in Kairo. Stand die ägyptische Revolution Pate für das Camp?

Alles steht irgendwie im Zusammenhang. Das hier ist eine intellektuelle Revolution. Und wir versuchen dem, was uns in Nordafrika vorgemacht wurde, auch hier gerecht zu werden. Auch hier in Europa brauchen wir einen Wandel. Mit unserem Camp wollen wir dies der Bevölkerung hier in Europa verständlich machen.

In Ägypten ging es um den Sturz einer Diktatur, in Spanien hingegen geht es um Forderungen innerhalb eines demokratischen Systems, oder?

Beide Proteste gehen von der tiefen, breiten Unzufriedenheit mit den herrschenden Zuständen aus und sind in der Lage, breite Solidarität zu erzeugen. Das haben wir mit den Menschen in Ägypten gemeinsam.

Was passiert nach den Kommunal- und Regionalwahlen am Sonntag?

Das werden wir in den kommenden Tagen auf den Versammlungen entscheiden. Das ist erst der Anfang einer Revolution.

Einer Revolution?

Ja, wir wollen das Ende dieses aggressiven Zweiparteiensystems, das die gesamte Gesellschaft kontrolliert und paralysiert. Wir wollen eine echte Meinungsvielfalt.

Über die Gründe der Revolte der spanischen Jugendlichen schrieb der taz-Korrespondent:

„Mit der Räumung hat uns die Polizei einen großen Gefallen getan“, sagt Paloma übermüdet, aber sichtlich zufrieden. Die 26-jährige gelernte Biologin nahm mit zehntausenden junger Menschen an der Demonstration teil, die unter dem Motto „Echte Demokratie – jetzt!“ durch Madrid zog. Danach ging sie aber nicht nach Hause, sondern besetzte mit ein paar hundert Leuten den zentralen Platz Puerta del Sol. In der Nacht auf Dienstag räumte die Polizei. In Windeseile verbreitete sich die Nachricht im Netz. Über 10.000 kamen am Dienstagabend wieder und 5.000 blieben über Nacht.

Seither ziert ein improvisiertes Camp mit Sonnendächern, Schreibtischen, Feldküche, Werkstätten und Diskussionszirkeln die Puerta del Sol. Bürger kommen vorbei und spenden Lebensmittel, Stühle oder was sie sonst für nützlich halten. „Jetzt können sie uns nicht mehr verjagen“, ist sich Paloma sicher. Das Camp soll bis zu den Kommunal- und Regionalwahlen am Sonntag bestehen bleiben.

„Wir haben diese Krise nicht gemacht, aber jetzt sollen wir sie bezahlen“, erklärt Paloma, warum sie dem Aufruf zu den Protesten folgte, als sie bei Facebook darauf stieß.

Die junge Frau gehört zu der in Spanien sogenannten verlorenen Generation. Seit dem Ende des Baubooms und dem Beginn der Finanzkrise sind in Spanien 20 Prozent ohne Arbeit. Unter den jungen Menschen sind es mehr als doppelt so viele. Paloma, die mit 19 zu Hause auszog, schlägt sich mit „schlecht bezahlten Gelegenheitsjobs und einem Kredit der Eltern“ durch, „bis ich hoffentlich eine Doktorandenstelle in der Forschung finde“. Ob das jemals klappt, weiß sie nicht.

„Es gibt wenige Stellen und viele, die bessere Beziehungen haben als ich. Wahrscheinlich muss ich ins Ausland gehen, um eine Zukunft zu haben“, sagt sie und fährt fort: „Ich bin es meinen Eltern schuldig, hier zu sein. Sie haben gegen eine Diktatur gekämpft. Jetzt werden die Errungenschaften dieses Kampfes abgebaut.“ Sie zählt auf, was jeder Spanier derzeit herunterbeten kann: Die Löhne und Gehälter im öffentlichen Dienst wurden gekürzt, Renten eingefroren, das Kindergeld wurde gestrichen, die letzten lukrativen Staatsunternehmen wurden privatisiert und den Reichen Steuergeschenke gemacht. „Nach alldem habe ich nur noch wenig Vertrauen in Parteien und Gewerkschaften“, sagt Paloma. Die Protestbewegung bezeichnet sich nicht umsonst als unabhängig von allen politischen und sozialen Organisationen.

„Wir sind keine Ware in den Händen der Märkte“, steht auf einem Plakat. „Gewalt ist, 600 Euro im Monat zu verdienen“ auf einem anderen. Dazwischen steht Andrés mit seinem Campingtisch, auf dem die Zeitungen des Tages liegen. Die aus der Hauptstadt, aber auch welche aus der Provinz. Dutzende von Menschen suchen nach den Fotos der Proteste, die längst auf die meisten großen Städte Spaniens übergegriffen haben. Sie lesen erstaunt, kommentieren und freuen sich über den Erfolg ihrer spontanen Aktion.

„Wir leben in einer politischen Farce“, sagt der 28-jährige Chef des „Lesesaales“. Andrés ist Soziologe „mit gutem Abschluss“ und dennoch seit eineinhalb Jahren arbeitslos. „Die Politiker sind völlig abgehoben“, beschwert er sich. Der Kommunal- und Regionalwahlkampf zeige einmal mehr, dass sie sich nicht um die tatsächlichen Probleme der Menschen kümmerten. Die beiden großen Parteien würden sich gegenseitig die Schuld an der Krise geben, versuchten mit den aus dem Bürgerkrieg geerbten Ängsten vor dem jeweils anderen Lager die Ihrigen zu mobilisieren und bezichtigten sich gegenseitig der Korruption. „Dabei sind die Korrupten auf allen Listen. Über 260 Politiker, die der Korruption angeklagt sind, oder schon in erster Instanz verurteilt, kandidieren“, nennt Andrés eine Zahl, die hier jeder kennt.

Die Menschen auf dem Platz fordern eine Verfolgung der Korruption und ein neues Wahlgesetz. Mit dem aktuellen Wahlverfahren haben kleine Parteien keine Chance. Ein Blick auf die Zusammensetzung des spanischen Parlaments, das im Frühjahr 2012 erneuert wird, zeigt dies. Die dritte Kraft im Lande, die Vereinigte Linke, hat mit einer Million Stimmen nur zwei Abgeordnete. Die regierende sozialistische PSOE und die konservative Volkspartei mit jeweils um die zehn Millionen Wählern 169 und 152 Abgeordnete, und damit knapp die Hälfte des Parlaments.

Ein „brutales Zweiparteiensystem“ nennt Fabio Gandara dies. Der 26-Jährige ist einer der wenigen bekannteren Gesichter der Proteste. Der Blogger und Facebook-Fan gehört zu den Gründern von „Echte Demokratie – jetzt!“ Vor drei Monaten entstand die Plattform im Internet. „Die Wenigsten kannten sich persönlich. Wir waren auf allerlei Facebook-Seiten mit sozialen und politischen Inhalten unterwegs“, erzählt der arbeitslose Anwalt. Auch er schimpft auf die Politik zur Krisenbewältigung. In der neoliberalen Wirtschaftspolitik, seien sich die beiden großen Parteien einig. „Dabei gibt es genug Geld, um die Krise sozial gerechter zu bewältigen“, meint er und redet von Steuern auf Finanztransaktionen. Doch die Politik sei längst „in den Händen der internationalen Märkte“.

Nach den Kommunal- und Regionalwahlen am 22. Mai will „Echte Demokratie – jetzt!“ konkrete Themen, wie die Mobilisierungen für ein gerechteres Wahlsystem, in Angriff nehmen. „Doch damit nicht genug. Wir wollen eine partizipative Demokratie. Längst werden Steuern per Internet eingetrieben, warum können die Bürger wichtige Entscheidungen nicht selbst per Online-Debatten und -Abstimmungen treffen?“, fragt Gandara. „Es geht hier nicht um links oder rechts, nicht um oben oder unten, es geht um den gesunden Menschenverstand“, endet er.

Im Feuilleton der FAZ heißt es zum selben Thema:

„In Spanien geht die Jugend endlich auf die Straße“ – „Ohne Job, ohne Angst“

Warum, so fragten in den vergangenen Monaten verblüffte Spanien-Besucher, warum merkt man denn auf der Straße nichts von der spanischen Krise? Die Leute sind alle so friedlich. Und die Antworten, die man sich zusammensuchte, waren meist psychologischer, mentalitätshistorischer oder meteorologischer Natur. Weil die Spanier Individualisten sind, sagte man. Weil sie aus leidvoller Erfahrung mit Armut umzugehen wissen. Weil sie dem Staat sowieso nichts zutrauen. Weil das Wetter so schön ist. Weil sie immer noch Fußball haben.

Das alles wird jetzt zum ersten Mal seit Beginn der Krise in Frage gestellt: Die Unzufriedenen mobilisieren sich. Seit dem vergangenen Sonntag sammeln sich „Los indignados“ (Die Empörten) zu Tausenden in Madrid, Barcelona, Valencia, Alicante und anderen Städten auf zentralen Plätzen, um in der Woche vor den Kommunalwahlen gegen den Niedergang ihres Landes und die allgemeine Chancenlosigkeit zu protestieren. Ob Stéphane Hessels Bestseller „Empört euch!“ dabei eine Rolle spielt, ist unerheblich; der Geist des Buches ist bei den Menschen „ohne Wohnung, ohne Job und ohne Angst“ spürbar. Es sind die Beschäftigungslosen, Unterbezahlten und Bedrohten einer Mittelklasse, die zum Proletariat zu werden droht, weil Spaniens Wohlstand des neuen Jahrtausends auf die Immobilienblase gegründet war und nach der großen Entzauberung offenbar niemand Ideen anzubieten hat, die den freien Fall aufhalten könnten – nicht der Schuldenstaat, nicht die Sozialsysteme, erst recht nicht die Politiker.

Diese und die Banken sind in den Augen der neuen Protestbewegung, die sich „Democracia Real Ya!“ (etwa: Wahre Demokratie jetzt!) getauft hat, die eigentlichen Verantwortlichen für den Schlamassel. Längst hat die Arbeitslosigkeit die Zwanzig-Prozent-Hürde übersprungen, und in den strukturschwachen Gebieten von Andalusien oder der Extremadura hat jeder zweite unter fünfundzwanzig keine Beschäftigung. (…)

AP meldet heute aus Madrid:

Tausende Spanier haben in der Nacht zum Donnerstag ein Demonstrationsverbot ignoriert und in Madrid gegen die Art protestiert, wie etablierte Parteien mit der Wirtschaftskrise umgehen. Die Kundgebung war von der Wahlkommission mit der Begründung untersagt worden, sie könnte die am Sonntag anstehenden Kommunal- und Regionalwahlen beeinflussen.

Die Demonstranten auf dem Platz Puerta del Sol haben erklärt, sie wollten dort bis zu den Wahlen ausharren. Ähnliche Proteste hatte es zuvor auch in anderen Städten, darunter Barcelona und Sevilla, gegeben. Rund 500 Bereitschaftspolizisten bezogen an dem Hauptstadtplatz Stellung, griffen aber zunächst nicht ein.

Die Demonstranten haben sich unter dem Motto „Wirkliche Demokratie jetzt“ gesammelt. Beobachtern zufolge schien die Kundgebung größeren Zulauf zu erhalten, nachdem sie verboten wurde. Viele Demonstranten kamen offenbar aufgrund der in sozialen Netzwerken im Internet verbreiteter Nachrichten auf den Platz.

Aus Libyen meldet AFP heute:

Die norwegische Armee ist nach dem Beginn ihrer Beteiligung am Libyen-Einsatz Opfer eines Cyber-Angriffs geworden. Die Attacke ereignete sich nach Angaben der zuständigen Behörde INI vom Donnerstag am 25. März, einen Tag nachdem norwegische Kampfjets zum ersten Mal Bomben auf das nordafrikanische Land abwarfen. Rund 100 Mitglieder der Armee erhielten demnach eine E-Mail, die einen Daten kopierenden Virus enthielten. „Nach dem was wir wissen, wurden aber keine wichtigen Informationen gestohlen“, sagte eine Behördensprecherin der Nachrichtenagentur AFP. Es sei lediglich ein einziger Computer mit dem Virus infiziert worden.

Aus Gaza schickte Susanne Knaul einen taz-Bericht über die bisher anonym gebliebenen Autoren des Manifests der zornigen Jugendlichen:

Sie sind jung, gebildet, ohne Angst, aber frustriert. Die Gründer von Gaza Youth Breaks Out (GYBO), die auf dem Weg des Internets die Blockade durchbrechen wollen und gleichzeitig gegen die Hamas rebellieren, wagen sich mehr und mehr an die Öffentlichkeit. Mit der Versöhnung zwischen Fatah und Hamas lockere sich der strenge Griff der Polizei in Gaza, so glauben sie. „Wir sind früher immer nur einzeln zum Interview gegangen“, sagt Abu Yazan, der zwar nichts gegen ein Foto hat, seinen richtigen Namen aber noch für sich behält. „Damit sie, wenn sie uns schnappen, nur einen von uns kriegen.“

Diesmal sind sie zu viert gekommen, zwei 24-jährige Männer, die sich als Abu Yazan und Abu Ghassan vorstellen, und zwei Frauen: die 30-jährige Samach und die um zehn Jahre jüngere Rauwan. Abu Yazan und Samach sind bereits mehrmals verhaftet und mit Stockschlägen malträtiert worden. „Die Polizisten hatten immer viel Spaß mit mir“, sagt Abu Yazan mit bitterem Lächeln. Gegen die Stockschläge habe er nichts, nur, „wenn sie mich ins Gesicht schlagen, flippe ich aus“. Günstig für Abu Yazan, dass sein Vater „ein hohes Tier bei der Hamas“ ist. Der Polizist, der ihn beim letzten Mal besonders quälte, musste sich nach Intervention des Vaters bei Abu Yazan entschuldigen.

Vor ein paar Monaten machten die jungen Palästinenser zum ersten Mal auf sich aufmerksam. „Fuck Hamas. Fuck Israel. Fuck Fatah. Fuck USA“, so ihre wütende Botschaft. Das auf Facebook veröffentlichte Manifest der Gruppe erklärt, wie die Hamas, die sie in ihrem Text die „Organisation“ nennen, „alles Lebende, jeden Gedanken und alle Träume tötet“. Tausende Facebook-Nutzer drückten innerhalb von wenigen Tagen auf die Taste „gefällt mir“, auch viele Israelis. „Wir haben sie darauf hingewiesen, dass wir auch ,Fuck Israel‘ meinen, denn Israel ist unser Feind“, sagt Abu Yazan, „damit wurden sie etwas ruhiger.“

Die jungen Leute sind erklärtermaßen gegen den Einsatz von Gewalt, dennoch müsse zuallererst die Besatzung beendet werden. „Alles andere ist sowieso nur ein Nebenprodukt der Besatzung“, meint Abu Ghazan, „vor allem die Spannung innerhalb der palästinensischen Bevölkerung“, die Israel stets gefördert habe. Mit Hilfe ihrer Internetseite will die Gruppe „am Diskurs über Gaza teilhaben“, sagt Abu Ghazan, und „nicht länger nur darauf hoffen, dass unsere Rettung von anderen kommt“.

Darüber, ob ihr Protest die innerpalästinensische Versöhnung vorangetrieben hat, wollen die Rebellen nicht spekulieren. Samach glaubt, dass „unsere Gruppe“ und andere wie die Bewegung des „15. März“, die in Ramallah aktiv war, „den Druck auf die Parteien erhöht haben“.

Besonders in den arabischen Staaten genießen die Studenten aus Gaza Sympathie. Dabei haben die jungen Palästinenser längst den Überblick über die Reichweite ihrer Aktion verloren. „Wir können nicht kontrollieren, wie viele Leute unser Manifest lesen“, erklärt Abu Yazan, denn „Facebook hat unsere Seite gesperrt“. Die Hauptinternetseite der GYBO sei ohne Angabe von Gründen blockiert worden und zeigt seither keine neuen „Gefällt mir“-Klicks an. „Wir haben uns schriftlich an die Facebook-Betreiber gewandt, aber nie eine Antwort erhalten.“

Die GYBO-Gründer gehören zu den Privilegierten im Gazastreifen. Fast alle ihre Väter beziehen entweder von der Hamas oder von der Palästinensischen Autonomiebehörde ein monatliches Gehalt. Die Perspektive, dass die innerpalästinensische Versöhnung Abstriche bei den Spenden aus dem Ausland zur Folge haben könnte, sollte der Westen am Boykott gegen die Hamas festhalten, schreckt die jungen Leute wenig. „Gebt mir Armut“, ruft Rauwan wütend über die internationalen Aufbaugelder, mit denen die Palästinenser „nur kaltgestellt werden“. Was die Leute in Gaza bräuchten, seien keine Nahrungsmittelspenden, „sondern Bücher“, schimpft die Politologiestudentin und fordert: „Lehrt mich angeln, anstatt mir einen Fisch zu geben.“

Sie selbst würde am liebsten für eine Weile ins Ausland gehen, um zu studieren und anschließend in Gaza „etwas für mein Volk und mein Land zu tun“. Ägypten hat die Öffnung der Grenzen angekündigt, doch damit ist für die jungen Palästinenser die Blockade längst nicht beendet. „Ich bin nicht nur Gazaerin, sondern Palästinenserin“, sagt Rauwan, die sich für Reisemöglichkeiten via Ägypten wenig interessiert. „Mein Volk lebt hier und im Westjordanland“, sagt sie. Frei werde sie sich erst dann fühlen, wenn sie nach Ramallah, nach Bethlehem und Jerusalem reisen kann.

Aus Tunesien meldet AFP heute:

In Tunesien sind einem Bericht zufolge Pläne für Anschläge auf touristische Ausflugsziele durchkreuzt worden. Im Gepäck von zwei mutmaßlichen Terroristen, die am Mittwoch bei einem Schusswechsel getötet wurden, sei eine Karte des Landes mit angekreuzten Zielen gefunden worden, berichtete die tunesische Zeitung „Le Temps“ am Donnerstag. Demnach wollten die Verdächtigen touristische Ziele in den Städten Bizerte, Tabarka und Hammamet im Norden des Landes angreifen. Von offizieller Seite wurde der Bericht zunächst nicht bestätigt.

Die mit Sprengstoffgürteln ausgerüsteten Terrorverdächtigen hatten am Mittwoch in Rouhia, rund 200 Kilometer westlich der Hauptstadt Tunis, wegen ihres schweren Gepäcks Aufsehen erregt. Nach Behördenangaben eröffneten sie das Feuer, als Sicherheitskräfte herbeieilten. Die Männer gehörten offenbar dem Terrornetzwerk El Kaida an, wie die Nachrichtenagentur AFP aus Sicherheitskreisen erfuhr. Laut „Le Temps“ waren sie unter falschem Namen mit gefälschten Pässen unterwegs.

Der Madrider taz-Korrespondent Reiner Wandler berichtet heute über Tunesien:

Etwas über zwei Monate vor den für den 24. Juli geplanten Wahlen zu einer verfassunggebenden Versammlung in Tunesien befürchten immer mehr Menschen, die erste erfolgreiche arabische Revolution des Jahres 2011 könnte Opfer eines Gegenschlages werden. Gerüchte verbreiten sich in Windeseile. Demonstrationen formieren sich innerhalb weniger Stunden. Die einen befürchten, die Wahlen könnten verschoben werden – die anderen wollen einen späteren Wahltermin.

Als Erster warnte der im Februar zurückgetretene Innenminister der Übergangsregierung, Farhat Rajhi, vor einer Verschwörung. In einem Interview, dessen Videoaufzeichnung eine Bloggerin vor zwei Wochen veröffentlichte, erklärte der Jurist: „Wenn die Islamisten die Wahlen gewinnen, werden wir ein Militärregime bekommen. Die Leute aus dem Sahel“ – damit werden in Tunesien gemeinhin die Heimatregionen des gestürzten Präsidenten Ben Ali und dessen Vorgänger Habib Bourguiba bezeichnet – „sind nicht bereit, die Macht abzugeben. Falls das Wahlergebnis nicht in ihrem Interesse ist, wird es einen Militärputsch geben.“ Wenige Stunden später versammelten sich hunderte Jugendliche im Zentrum der Hauptstadt Tunis und forderten den Rücktritt des Übergangspremiers Caid Essebsi.

Die Polizei griff mit ungewöhnlicher Härte ein, Journalisten und Pressefotografen wurden teils verletzt oder festgenommen. In den Vororten wurden Geschäfte geplündert. Mehrere Tage lang wiederholten sich diese Szenen, bis die Regierung erstmals seit dem Sturz Ben Alis Mitte Januar wieder eine Ausgangssperre verhängte.

„Ich glaube, dass es tatsächlich ein Komplott gibt“, sagt Omar Mestiri, der Chef des Oppositionsradios Kalima, das bisher mangels UKW-Lizenz nur im Internet sendet. Neben Protesten und Repression führt er als Beleg für seine Theorie, jemand wolle die Demokratisierung sabotieren, auch die fast zeitgleichen Massenausbrüche in fünf Haftanstalten an. Mestiri sieht darin den langen Arm der aufgelösten politischen Polizei und fordert die Übergangsregierung auf, „Licht ins Dunkel zu bringen“. Für den Journalisten sind auch die Plünderungen das Ergebnis einer gezielten Unterwanderung der Demonstrationen. Außerdem fürchtet Mestiri um die Meinungsfreiheit: Die Militärjustiz ermittelt jetzt gegen Exinnenminister Rajhi wegen „Diffamierung der Armee“, mehrere Internetseiten wurden aus dem gleichen Grund geschlossen.

„Im Hintergrund kämpfen zwei Strömungen miteinander“, analysiert Mustapha Ben Ahmed, zuständig für internationale Beziehungen bei der Gewerkschaft UGTT. „Zum einen sind da die Vertreter der alten Staatspartei RCD. Sie kontrollieren noch immer große Teile der Verwaltung, der Wirtschaft und des Sicherheitsapparates.“ Die RCDler „wollen keine Stabilität“, meint er, „vor allem nach der Entscheidung, sie nicht an den Wahlen teilnehmen zu lassen“. Als Zweites macht er „populistische Strömungen“ aus, allen voran die Kommunistische Arbeiterpartei (POCT), deren Chef Hamma Hammami die Verschiebung der Wahlen auf Oktober verlangt, „damit die Parteien Zeit haben, ihr Programm bekannt zu machen und die Bevölkerung tatsächlich ihre Wahl treffen kann“.

„Ich halte es für ziemlich unwahrscheinlich, dass die Wahlen tatsächlich wie geplant am 24. Juli stattfinden werden“, sagt Radiojournalist Mestiri. Inzwischen spricht selbst Premier Essebsi von „technischen Schwierigkeiten“ bei den Vorbereitungen. Eine Verschiebung, fürchtet Mestiri, könne „dazu genutzt werden, den gesamten Wahlprozess zum Scheitern zu bringen“.

Aus Saudi-Arabien meldet dpa heute:

In Saudi-Arabien sorgt der Tod eines jungen Mannes für Empörung, der nach seiner Festnahme durch die islamische Religionspolizei gestorben war. Die saudische Zeitung „Al-Watan“ berichtet am Mittwoch, ein Mitglied der Behörde für die Förderung der Tugend und die Verhinderung des Lasters habe den 28 Jahre alten Hassan Nabil Hmeid in der vergangenen Woche in der Provinz Asir angehalten, weil ihm die langen Haare des Jordaniers nicht gefielen. Gemeinsam mit einem Polizisten nahm er ihn fest und schnitt ihm die Haare ab.

Am Mittwoch vergangener Woche holte ihn ein Freund aus dem Gebäude der Religionspolizei ab. Wie der Vater des Toten der Zeitung berichtete, war sein Sohn zu diesem Zeitpunkt bereits ins Koma gefallen. Der junge Mann kam in ein Krankenhaus, wo er sechs Tage später an den Folgen einer Kopfwunde und einer Hirnblutung starb. Der Vater glaubt, dass sein Sohn von den Religionspolizisten misshandelt wurde. Der Bezirksgouverneur von Ahad Rafida, Said bin Medschri, erklärte dagegen, dass der junge Mann bei seinem Versuch, seiner Festnahme zu entgehen, vier Meter tief gestürzt sei. Die meisten Leser des Artikels gaben jedoch der Religionspolizei die Schuld an seinem Tod. „Gott möge Euch richten!“, schrieb einer von ihnen.

Gesetzliche Vorschriften über Männerfrisuren gibt es in Saudi-Arabien, wo das Tragen eines schwarzen Kopftuches für Frauen vorgeschrieben ist, nicht. Allerdings kann die Religionspolizei mehr oder weniger nach eigenem Gutdünken einschreiten, wenn ihr das Verhalten ihrer Mitmenschen „unislamisch“ erscheint.

Aus dem Irak meldet AP:

Bei einem Anschlag mit mehreren Bomben in der nordirakischen Stadt Kirkuk sind am Donnerstag mindestens 27 Menschen ums Leben gekommen. Bei den insgesamt drei Detonationen seien mindestens 70 Personen verletzt worden, sagte der Direktor der Gesundheitsbehörden der Provinz, Siddik Omar. Die meisten Opfer waren Angehörige der Sicherheitskräfte. Nach Angaben der Polizei explodierten zwei Autobomben zeitlich versetzt neben einer Polizeistation.

Aus Syrien berichtet AFP heute:

Die mehrere Wochen in Syrien und im Iran inhaftierte Journalistin des arabischen Nachrichtensenders El Dschasira, Dorothy Parvez, hat über Folter in einem syrischen Gefängnis berichtet. „Ich war in Syrien drei Tage und zwei Nächte in einem Gefängnis und hörte Geräusche brutaler Folter“, sagte die amerikanisch-iranisch-kanadische Journalistin am Mittwochabend im englischsprachigen Programm von El Dschasira, für das sie selber arbeitet.

„Zu jeder beliebigen Zeit des Tages und der Nacht hörte man Schläge, Schreie und Gebrüll. (…) Es schien endlos, irgendwann will man sich die Ohren zuhalten“, sagte Parvez, die am Mittwoch im Iran freigelassen worden und mit einem Flug nach Doha zurückgekehrt war. „Niemand trug eine Uniform, niemand hatte einen Namen, niemand hatte die Verantwortung (…), viele dieser Männer handelten wie Gauner“, sagte Parvez weiter.

In dem Interview sagte die junge Journalistin, sie sei in einer kleinen, sehr dreckigen Zelle mit einer Jugendlichen festgehalten worden, die auf der Straße festgenommen worden war. Diese habe hysterisch geweint, weil sie ihre Eltern nicht erreichen konnte. Parvez war am 29. April bei ihrer Einreise nach Syrien festgenommen worden, weil sie nach Angaben der Behörde mit einem abgelaufenen iranischen Pass einzureisen versuchte. Anschließend sei sie in den Iran ausgeliefert worden, weil dieser den Pass ausgestellt hatte.

„Gemäß dem Bilderverbot…“. Photo: burgenseite.com

„Blockiert das Bilderverbot die Verbreitung von Wissen“. Photo: tvprogramm.sf.tv

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