vonHelmut Höge 27.05.2011

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Der Berliner Chr.Links-Verlag veröffentlicht gerade ein Buch über „Die Arabische Revolution“ – u.a. von Thomas Schmidt, der kürzlich für die Berliner Zeitung aus Libyen berichtet hatte.

Der Hamburger Laika-Verlag veröffentlicht eine ganze Reihe Texte der Pariser Gruppe Tiqqun:

„Gewalt“, „Totalitarismus“, „Willkommen in interessanten Zeiten“, „Anleitung zum Bürgerkrieg“ und „Alles ist gescheitert, es lebe der Kommunismus“

Der Frankfurter Suhrkamp-Verlag veröffentlicht ein neues Buch von Eva Illouz: „Warum Liebe weh tut“

Die Kreuzberger Wochenzeitung „Jungle World“ veröffentlichte gerade „Geschichten von der Revolution und dem Leben danach“ – d.h. vier Porträts von Ägypterinnen, die sich am Aufstand auf dem Tahrir-Platz beteiligten von Juliana Schumacher:

1. Menna

Mit ihren alten Freunden hat sie sich gestritten. Denn sie sind gegen die Revolution, aber nicht aus politischen Gründen. »Seit das Militär die Ausgangssperre eingeführt hat, können sie nicht mehr die ganze Nacht ausgehen«, sagt Menna mit ernstem Gesicht. »Sie stammen alle aus unglaublich reichen Familien, sie interessieren sich nur für Partys, sonst nichts.« Menna ist 17 Jahre alt und das jüngste von fünf Geschwistern. Sie stammt ebenfalls aus einer Familie, in der Geld keine Rolle spielt. Ihr Leben unterschied sich bis zur Revolution kaum von dem ihrer Freunde. Sie besucht eine Privatschule, besitzt ein teures Pferd, in ihrem Geldbeutel finden sich Kreditkarten und die Mitgliedsausweise mehrerer Clubs. Anders als bei ihren Freunden hat Politik aber in ihrer Familie immer eine Rolle gespielt. Ihre Mutter ist Archäologin und war immer politisch aktiv. »Seit ich zehn war, hat sie mich auf jede Demo mitgenommen.« So kam sie auch am 25. Januar auf den Tahrir-Platz, mit ihrer Mutter, einigen Tanten und mehreren Cousins. Am nächsten Tag flog sie nach Boston, um an einer Jugendkonferenz in Harvard teilzunehmen. »Es war schrecklich, dort zu sitzen und nicht zu wissen, was passiert, ob es meiner Familie gut geht«, erinnert sie sich. Als sie am 4. Februar zurückkehrte, kaufte sie sich ein Zelt und fuhr direkt zum Platz. Dort erlebte sie die letzten Tage der großen Proteste. »Es waren die besten Tage meines Lebens. Die Zeit auf dem Platz hat mich für immer verändert«, sagt sie. »In der Stadt hatte ich oft Angst, als Frau unterwegs zu sein.« Während der Revolution lief sie nachts um zwei allein über den Platz, mit offenem Haar, und fühlte sich vollkommen sicher. Sie wusste, dass nichts passieren würde. »Es war ein Gefühl von Freiheit, das ich nie wieder vergessen werde.« Sie hat viel Mut aus diesen Tagen mitgenommen, und den Glauben, dass eine bessere Zukunft und ein anderes Zusammenleben möglich sind. »Die konservativen, die religiösen Männer hätten mich, eine Frau ohne Kopftuch, bis zur Revolution nicht einmal angeschaut. Und auf einmal saßen wir zusammen und diskutierten, sie nahmen mich ernst und hörten mir zu.« In den Tagen auf dem Tahrir-Platz hat sie vor allem der Umgang der Menschen miteinander beeindruckt: »Da kam ein Friseur, ein armer Mann, der jeden Tag über den Platz ging, den Leuten die Bärte schnitt und keinen Pfennig dafür haben wollte. Wenn das Essen ausgegeben wurde, das bisschen Essen, das wir hatten, dann ging das zweimal, dreimal im Kreis rum, weil niemand etwas nehmen wollte, obwohl wir alle so hungrig waren. Weil jeder wollte, dass die anderen genug bekommen.« Die Revolution, meint Menna, sei noch nicht vorbei. »Wir müssen dafür kämpfen, dass das Militär die Macht an eine zivile Regierung abgibt.« Aber sie ist optimistisch. »Ich habe viel Hoffnung für das Land.«

Jetzt geht sie wieder zur Schule, sie hat viel nachzuarbeiten. Wenn sie sich abends und nachts mit den neuen Freunden und ihren losen politischen Gruppen trifft, hat sie ihre Mathe- und Englischbücher dabei. Sie will einen guten Abschluss machen, um danach Politik zu studieren. »Ich möchte mehr lernen«, sagt sie. »Ich möchte den Hintergrund, das Wissen haben, um eine wirklich gute Aktivistin zu sein.«

2. Misho

Manchmal, in den Monaten vor der Revolution, ging er zu Demonstrationen. Aber wenn er ankam, zögerte er, blieb am Rand stehen und sah nur zu, wie die Menschen vorübergingen.

Misho ist 23 Jahre alt und ein stiller Mensch, der viel denkt und wenig spricht. Für Politik interessiert er sich schon immer, den Schritt auf die Straße wagte er jedoch erst, als die Revolution kam. Auf Facebook hatte er von den Protesten gelesen, am 28. Januar rief er seinen Freund Ramy an, der auf dem Tahrir-Platz war. Die Entschlossenheit und die Euphorie der dort anwesenden Menschenmassen packten Misho durchs Telefon, ebenso wie das Entsetzen über die Gewalt der Polizei. »Ich stieg in die nächste Metro und fuhr hin«, erzählt er. Es war die Fahrt in ein anderes Leben, das Eintauchen in einen Strudel, der seinen Alltag, seine Überzeugungen wegwischen würde.

Zehn Tage Ausnahmezustand folgten. Misho verbrachte die Nächte auf dem Platz, fuhr zurück in den Kairoer Vorort, wo er mit seinen Eltern und seiner Schwester wohnte, um mit den Nachbarn in selbstorganisierten Schichten die Häuser zu bewachen, dann fuhr er zurück auf den Platz. Manchmal nahm er nicht die Metro, sondern ging zu Fuß. »Ich wollte das alles in mich aufnehmen, diese Stadt in einem Zustand sehen, in dem sie nie wieder sein wird«, sagt er. Das Schlafen hat er irgendwann verlernt in jenen Tagen. Noch jetzt, drei Monate später, beginnt manchmal sein Bein oder seine Hand zu zittern, wenn er an diese Tage denkt. »Immer sind diese Bilder da.« Er hat sehr intensive Momente erlebt, »unglaublich schöne und unglaublich grausame«, wie er sagt. Die schönen Momente waren die, in denen alle zusammenhielten. Es war das berauschende Gefühl, stark zu sein, etwas erreichen und verändern zu können. Die grausamen Erlebnisse kamen später, als die erste Phase der Revolution schon vorüber und Mubarak geflüchtet war. »Dass das Militär tatsächlich gegen uns vorgegangen ist, die Soldaten, denen wir vertraut haben, das war ein solcher Schock, eine solche Enttäuschung.« Er stockt, findet keine Worte, schüttelt den Kopf.

Er war dabei, als das Militär den Tahrir-Platz am 9. März stürmte. Er sah, wie die Soldaten die Zelte zerrissen und auf die Protestierenden einschlugen. »Dieser Tag war der schlimmste«, sagt Mi­sho. Die Soldaten eröffneten das Feuer auf die Menge der Protestierenden, die sich auf dem Platz versammelt hatten. »Ich habe gesehen, wie Menschen neben mir erschossen wurden, überall sanken Menschen zu Boden. Und da war einer, der verfing sich, als er davonrannte, in einer Rolle Stacheldraht, ein gepanzertes Militärfahrzeug fuhr darauf zu, der Stacheldraht verfing sich in den Reifen, er versuchte rauszukommen, aber er hatte keine Chance, die gaben einfach Gas und schleiften ihn mit. Ich weiß nicht, ob er noch lebt. Ich weiß nichts über ihn. Aber diese Szene geht mir nicht aus dem Kopf.« Misho kam davon, aber sein Freund Ramy wurde verhaftet. Als er zurückkam, konnte er tagelang nicht aufstehen, so sehr hatten ihn die Soldaten mit Schlägen und Elektroschocks gequält.

In sein früheres Leben hat Misho nicht zurückgefunden, es scheint ihm wie eine »sinnlose, leere Hülle«. Es ist sein letztes Jahr an der Universität, aber er geht nicht mehr hin, er kann sich nicht aufs Lernen konzentrieren. Er hat Angst um die Revolution, »die noch nicht fertig ist«. Er hat das Gefühl, keinen Moment weg sein zu dürfen, alle Kraft in die politischen Aktivitäten stecken zu müssen, damit nicht alles Gewonnene wieder verloren geht. »Ich mache mir Sorgen«, sagt er. »So wie es jetzt ist, darf es nicht bleiben, es ist nicht besser als zuvor.« Mit seinen Freunden aus der Zeit vor der Revolution hat er keinen Kontakt mehr. Sie lästern, lassen abschätzige Bemerkungen fallen. Seine Eltern wissen so gut wie nichts über seine politischen Aktivitäten, von seinen Erlebnissen während der Revolution hat er ihnen auch nichts erzählt.

Entspannen kann er sich nur mit den Freunden, die er während der Proteste kennengelernt hat. Ihnen braucht er nichts zu erklären. Sie sitzen bis in die Nächte unter den bunten Lampions der Straßencafés in der Innenstadt. Sie schlafen zusammengedrängt in irgendwelchen Wohnzimmern bei Freunden, sie ziehen während der Ausgangssperre durch die verlassenen Straßen der Innenstadt. Manchmal, frühmorgens, gehen sie nach schlaflosen Nächten zum Tahrir-Platz und setzen sich ins noch kühle Gras.

3. Salwa

Salwas Geschichte ist eine Geschichte von Liebe und Gewalt. Die Gewalt begann für sie nicht erst mit der Revolution. Anders als viele Ägypterinnen und Ägypter, die Ende Januar auf den Tahrir-Platz zogen, hatte Salwa nichts zu verlieren, als sie sich den Protesten anschloss. Sie ist in Ober­ägypten aufgewachsen, in einer Familie, die so arm war, dass sie auf die Straße betteln ging. Ihr Vater dealte mit Drogen. Er versuchte sie zu vergewaltigen, einmal schlug er sie halbtot. Sie floh, schlug sich allein durchs Leben und wechselte oft ihren Wohnsitz. Als ihr Vater sie aufspürte, versuchte er, sie zu erstechen. Mittlerweile hat sie herausgefunden, dass auch er in Kairo lebt. Er gehört zu den baltagiya, den berüchtigten Schlägertrupps des ehemaligen Präsidenten Mubarak, die in dem Ruf stehen, für eine Handvoll Geld jeden umzubringen. Das Regime heuerte diese Gruppen während der Revolution mehrmals an, um die Protestierenden anzugreifen.

Als die Revolution ihren Lauf nahm, war Salwa in Alexandria. »Ich habe mich nicht getraut, nach Kairo zu fahren. Das war zu gefährlich ohne Ausweis in dieser Zeit«, sagt sie. Sie hat keine Papiere, offiziell existiert sie nicht, sie ist illegal im eigenen Land. Ihre Eltern haben nie eine Geburtsurkunde für sie ausstellen lassen, jetzt weigert sich ihr Vater, sie als Tochter anzuerkennen. Erst nach dem Rücktritt Mubaraks brach Salwa auf, zwei Tage später kam sie im Camp auf dem Tahrir-Platz an. Sie fand nach langer Zeit einen Ort, wo sie sich willkommen und sicher fühlte, sie wurde herzlich aufgenommen und bekam einen Schlafplatz in einem Zelt.

Dort traf sie Mustafa. Er war eigentlich mit einer anderen Frau verlobt, aber die beiden verliebten sich bereits nach wenigen Tagen ineinander. »Wir haben es beide gewusst, doch wir sprachen nicht darüber.« Sie organisierten die Proteste, halfen dabei, das Camp zu verwalten. In einem ruhigen Moment schrieben sie ihre beiden Namen auf einen Baum am Rande des Platzes, nahe der Moschee, mit Kajal und Lippenstift. Das Camp war ihre kleine Welt, in der sie sich sicher fühlten und zusammen sein konnten.

Bis zum 9. März, als die Armee, zusammen mit einem Trupp baltagiya, das Camp stürmte. Ein Trupp Soldaten griff Salwa am Rande des Platzes auf und zerrte sie mit sich. Ein Offizier schlug ihr ins Gesicht. Mustafa sah das, er kam zurück und sagte: »Lasst sie los, sie ist meine Verlobte.« »Okay«, sagten die Soldaten, »dann behalten wir dich.« Sie hatten während der Räumung des Platzes Mustafas Bein verletzt und seinen Arm gebrochen. Vor Salwas Augen brachen sie ihm auch den anderen. Sie wurde ins Ägyptische Museum gebracht. »Die Soldaten schlugen mich. Sie quälten mich mit Elektroschocks. Vollkommen nackt saßen wir vor ihnen in einem Raum, dessen Fenster und Türen offen standen, während sie uns der Prostitution bezichtigten«, erzählt sie. Als sie sagte, sie sei noch Jungfrau, brachten die Soldaten sie in einen anderen Raum und ein Mann, den sie nicht kannte, »überprüfte« ihre Aussage.

Nachdem sie freigelassen worden war, wartete sie auf Mustafa, doch er kam nicht. Nach einigen Tagen begann sie, in den Gefängnissen der Stadt zu suchen. »Ich fragte überall nach ihm. Nach 20 Tagen fand ich ihn.« Er war in Tora inhaftiert, dem größten Gefängnis Ägyptens, das am Rande Kairos gelegen ist. Als sie Mustafa das erste Mal wieder gegenüberstand, brach er zusammen. Sie war die erste Person, die ihn besuchte. »Seine Familie und seine Verlobte haben den Kontakt abgebrochen, als er verhaftet wurde, sie waren immer gegen sein politisches Engagement und gegen die Revolution.«

Salwa und Mustafa haben sich verlobt, obwohl er immer noch im Gefängnis sitzt. Alle zwei Wochen darf er für 30 Minuten Besuch bekommen. Salwa musste lernen, wie man ein Telefon ins Gefängnis schmuggelt, sie bringt Mustafa Zigaretten und Tomatenpüree. Ansonsten streunt sie durch die Straßen der Stadt, verbringt viele Nächte wach und schläft tagsüber dort, wo sie einen Unterschlupf findet. Wenn Leute auf dem Tahrir-Platz sind, geht sie dorthin und wartet.

Mustafa wurde in einem Schnellverfahren von einem Militärgericht zu drei Jahren Haft verurteilt. Nachdem eine Kampagne gegen die Militärgerichte großen öffentlichen Druck erzeugt hatte, verkündete das Militär Anfang Mai, es werde alle Verfahren gegen Protestierende noch einmal überprüfen. Alle, die nichts Spezifisches verbrochen hätten, könnten freikommen, in wenigen Tagen schon. Mustafa jubelte am Telefon, Salwa jubelte mit. Die ersten Tage sind verstrichen, aber der Anruf, der all dem Warten ein Ende setzen soll, ist noch nicht gekommen.

4. Ahmed

Saudi-Arabien. Oder die USA. Bis zur Revolution war sein Plan klar. Ahmed studiert Ingenieurwesen in Suez und pendelt jeden Tag. Eineinhalb Stunden dauert der Weg von Nasr City in Kairo, wo er mit seinen Eltern und zwei Brüdern lebt, bis zur Universität. Wenn er sein Diplom in der Tasche habe, dachte er früher, wolle er weg, raus aus Ägypten, aus dem Land, in dem sich nie etwas ändert, in dem man ohne gute Kontakte in die Partei oder den Geheimdienst ständig der Willkür der Polizei ausgesetzt ist.

Die Revolution hat für ihn alles verändert. Sein überschaubares Leben in Wartestellung, ein Leben auf den Moment hin, in dem ein anderes Leben beginnen könnte, brodelt nun vor Aktivität. Der schüchterne, nachdenkliche Ahmed hat auf einmal viele enge Freunde und ist immer unterwegs. Er hat begonnen zu bloggen und zu twittern. Wenn er nach Hause kommt, sitzt er oft noch lange am Computer, macht die Nächte durch und fällt gegen Morgen todmüde ins Bett. »Die Dinge sind jetzt noch nicht besser geworden, aber zumindest ist die Hoffnung da, für mein Leben und für dieses Land«, sagt er.

Dabei hat er sich langsam an die Revolution herangetastet. Über Facebook hatte er von der Demonstration am 25. Januar erfahren. Er ging auf die Straße, blieb zunächst aber in Nasr City und kam dann jeden Tag mit jeder Demonstration näher ans Zentrum des Protests. Am 28. Januar stand er mit einem Freund zum ersten Mal auf dem Tahrir-Platz. Er kehrte heim und kam wieder. Er sah, wie Menschen neben ihm erschossen wurden, immer wieder: »Überall sackten Menschen zusammen und blieben am Boden liegen.« Er sah aber auch den unglaublichen Zusammenhalt, den Mut der Menschen, ihre Entschlossenheit. »Da war ein Junge, den ich kannte, der fünfmal schwer verletzt wurde, als die Schläger angriffen. Er wurde zum Krankenzelt gebracht und behandelt. Aber er hat jedes Mal darauf bestanden, zu den Barrikaden zurückzugehen, um den Platz zu verteidigen. Er hat wie durch ein Wunder überlebt.« Die Revolution war mit Mubaraks Rücktritt nicht zu Ende. Als Anfang April das Semester begann, besetzten Studenten fast alle Universitäten des Landes. Ahmed gehörte zu jenen, die die Universität in Suez besetzten, um den Rücktritt der Universitätsleitung zu fordern, die vom alten Regime eingesetzt worden war. Erfolg hatten sie nicht mit der Forderung – aber darin, einen großen Teil der Studenten zu politisieren und den Zusammenhalt an der Universität vollkommen zu verändern.

»Die ersten Wochen nach der Revolution waren hart«, sagt Ahmed. Er konnte nicht schlafen, die Eindrücke, die Gedanken, die heftigen Gefühle waren noch zu präsent, und er war zu erschüttert, um sich sicher zu fühlen. Einige seiner alten Freunde haben sich der Revolution angeschlossen, mit den meisten jedoch konnte er nichts mehr anfangen. Die Leute, die er auf dem Platz kennengelernt hat, waren ihm näher, aber viele von ihnen wohnen in anderen Teilen der Stadt. Durch das Pendeln zur Uni hatte er nicht die Zeit, ständig in der Innenstadt, an den üblichen Treffpunkten zu sein. Es dauerte einige Wochen, bis sich sein neues Leben sortierte. Nun ist er Mitglied einer Gruppe, die sich regelmäßig trifft. Das Semester ist fast vorbei und ihm bleibt Zeit, sich seinen politischen Aktivitäten zu widmen. Er arbeitet in der Kampagne gegen Militärgerichte, er hilft, Flyer zu erstellen für den 27. Mai, den Tag der »Zweiten Revolution«. »Die Revolution war das Beste, was diesem Land passieren konnte«, sagt Ahmed. Aber was in letzter Zeit geschieht und wie das Militär sich verhält, macht ihm große Sorgen. »Wir müssen zurück auf den Platz, wir müssen weiter um unsere Rechte kämpfen. Sonst werden wir die Revolution im Nachhinein doch noch verlieren.«

Aus Kairo meldet AP heute:

Tausende Demonstranten sind am Freitag auf dem Tahrir-Platz in Kairos Innenstadt zusammengekommen. Die ägyptische Protestbewegung rief zu der Kundgebung auf, die sie als „zweite Revolution“ bezeichnete, um den Militärrat zu einem rascheren Wandel hin zur Demokratie zu drängen.

Friedensnobelpreisträger und Oppositionsführer Mohammed ElBaradei sagte am Freitag, er sei sehr besorgt über die Abwesenheit der Sicherheitskräfte. Der Militärrat hatte zuvor gewarnt, fragwürdige Elemente könnten versuchen, Chaos während der Proteste am Freitag zu schüren. Die Streitkräfte wollten zudem nicht präsent sein, um Zwischenfälle zu vermeiden.

Die taz veröffentlicht morgen ein „syrisches Tagebuch“ von Leila Djamila („als die Aufstände in Syrien gegen das Regime von Baschar al-Assad begannen, reiste sie für die taz undercover nach Damaskus, wo sie sechs Wochen lang als eine der letzten ausländischen Journalisten berichtete„):

hätte ich gedacht, dass der Alltag im Syrischen Frühling derart angespannt ist? Dass er sich in meinen Damaszener Freundes- und Bekanntenkreis hineinzieht, Gräben aufreißt, wo es vorher Verständnis, bedingungslose Hilfsbereitschaft und Gastfreundschaft gab? Dass niemand die Spannung gewohnt ist und alle so ausflippen, wie ich es nur aus dem Tel Aviver Nachtleben bei der Intifada kannte?

Vorhin ging ich zu meiner Freundin Asisa, natürlich in farblosen, unauffälligen Studentenklamotten, schlabberig und ausgewaschen, sah also aus wie alle ausländischen Studenten in Syrien. War schon ein bisschen komisch: An jeder Ecke standen Geheimagenten, zu fünft oder zu zehnt, trotz der untergehenden Sonne alle mit Sonnenbrillen, Schnurrbart und dem Erkennungsmerkmal Lederimitat-Blouson. Gab jetzt ja die ersten Demoaufrufe auch in Damaskus. Wenn ich Lieferwagen sah, wechselte ich die Straßenseite, es gibt einfach zu viele Geschichten, wie „verdächtige Ausländer“, vermeintliche Spione, einfach in diese Wagen gezerrt werden und erst mal verschwinden.

Als ich bei meiner Freundin klopfte, schrie sie panisch hinter der Tür, in ihrer Stimme die Angst vor dem Geheimdienst. Erleichterung, als sie mich sah. „Deine Klamotten sind gut“, kommentierte sie trocken. „Aber deine Tasche … bist du wahnsinnig, hier mit deiner Reportertasche anzukommen?“, kreischte sie mir entgegen. Ja, ich hatte Gemüse und Fleisch für die anstehende Party in eine Kameratasche gepackt, aber keine Kamera dabei, kein Aufnahmegerät, nichts, das mich als Journalistin entlarven hätte können. Mit strengem Blick befahl sie mir, nicht noch einmal mit der verräterischen Tasche aufzukreuzen.

Obwohl wir Essen zubereiten wollten und in einer Stunde die ersten Gäste kommen sollten, setzte sie sich, ungeduscht und in schmuddeligem Hausanzug, sofort wieder vor den Fernseher, ihren Laptop auf den Knien, Festnetz- und Mobiltelefon in Reichweite. „Fuck shit, ich kann nicht glauben, was hier los sein soll!“, rief sie, eine Zigarette nach der anderen rauchend. Ständig schaltete sie zwischen al-Dschasira und al-Arabia hin und her, die verwackelte Handybilder aus der Unruhestadt Daraa zeigten, in der auf friedliche Demonstranten geschossen wurde. Dann Wechsel zum Staats-TV, das immer weiter ruhige Bilder von blühenden Landschaften und glücklichen Bauern zu nationalistischer Musik zeigte und von Aufständen nichts meldete.

Seit über vier Wochen sitzt Asisa nun schon zu Hause, geht nur raus, um das Nötigste einzukaufen. Zu groß ist ihre Angst, wegen ihrer zahlreichen Kontakte zu Ausländern, besonders zu Journalisten und NGO-Mitarbeitern, auch einfach mal weggeschnappt zu werden. Freunde von ihr, Bekannte von mir, sind verprügelt und verhaftet worden, weil sie zur falschen Zeit – freitags nach dem Gebet – am falschen Ort, da wo Demos angekündigt waren, in Cafés saßen oder telefonierten. Asisa davon zu überzeugen, dass eine Party in dieser Situation das Beste sei, um sich von den Ängsten ablenken zu lassen, war mir nicht leicht gefallen. Aber ich konnte nicht mehr mit ansehen, wie sie stundenlang mit Verstopfung auf dem Klo hockte, sich nicht mehr aus dem Haus traute, kaum noch E-Mail-Kontakt zu ihren Freunden hielt und Anrufe aus Angst vor Überwachung wegdrückte. Dabei Kette rauchte und Unmengen von Brot mit Hummus oder kiloweise ölige Kartoffeln verschlang, die sie sich von mir einkaufen ließ.

Als die ersten Gäste kamen, saß Asisa immer noch im Hausanzug vor der Glotze. „Ich kenne diese Frauen nicht, sag besser nichts!“, zischte sie mir zu. Die beiden packten sofort ihre Laptops aus, fragten nach dem Passwort für Asisas W-Lan – normal auf Studentenparties, auch in Syrien – und begannen auf Facebook die einschlägigen Seiten „Syrian Youth for Revolution“ und „Syrian News Network“ zu checken. Asisa herrschte die Mittzwanzigerinnen an, dass sie das sofort zu lassen hätten, wenn die Dienste sie überwachen würden, dann würde der Aufruf über ihre IP-Adresse ja reichen, um sie als Oppositionelle in den Knast zu stecken! „Und das, wo ich den Präsidenten liebe!“, fügte sie zur Sicherheit hinzu.

Die nächsten Gäste kamen, fröhlich ausgelassene Sprachstudenten aus Japan, Frankreich, Australien. Da nichts gekocht war, bestellten wir Pizza. Alle sollten leise sprechen, wies Asisa an. Sie trug immer noch Hausanzug und vermutete hinter jedem Gast einen Spion, bis ein irakisches Flüchtlingspaar kam, das ebenfalls seit Tagen das Haus nicht verlassen hatte. Auch sie hatten eine Heidenangst, zwar nicht vor den Agenten, aber vor der Entwicklung der beginnenden Revolution. Falls der Staat zerfallen sollte, falls Hass zwischen den Religionen aufflammen würde, wären sie dann noch sicher im Exil? Würde dann in Syrien nicht das beginnen, wovor sie mit ihren drei Kindern vor Kurzem erst aus dem Irak geflüchtet waren? Er Schiit, sie Sunnitin, eine Verbindung, die dann angefeindet werden würde? Seine Frau hatte ihre sonst so sorgsam gelackten roten Fingernägel abgeknabbert, er sah aus, als hätte er Tage nicht geschlafen.

Ein Engländer, der mit seiner syrischen Verlobten kam, hatte gute Laune und Gin und Tonic dabei. Bis dahin hatten wir noch keinen Tropfen Alkohol angerührt, obwohl alle Rotwein oder Bier mitgebracht hatten. Als er fragte, ob jemand einen Drink wolle, wurde das Gespräch erstmals politisch: „In dieser Situation willst du Alkohol trinken?“, wollte der Iraker wissen, „was, wenn sie kommen und du nicht nüchtern bist und dich in schlimme Situationen hineinredest?“ Ach Quatsch, meinte er. Die Agenten hätten doch jetzt anderes zu tun, als uns harmlose Devisenbringer zu überwachen. Alle seien Studenten, könnten das nachweisen, wir machten hier Kulturaustausch! „Also“, rief er „ihr stolzen jungen Syrer aller Religionen, wollt ihr einen Drink? Für solch angespannte Situationen wie diese hier haben wir Briten nämlich Gin & Tonic erfunden! Lasst uns auf den Präsidenten trinken!“

Alle mussten lachen, die Pizzen kamen und wurden mit G & T, Wein und Bier hinuntergespült. Klar, das Thema war jetzt nur noch „die Situation“, und ich kam mir vor wie in Beirut, wenn die Hisbollah mal wieder ihre militärische Kraft gezeigt hat. Jeder hatte eine Geschichte zu erzählen, und Asisa staunte, wie viele Bekannte aktiv an der Cyber-Revolution beteiligt waren. Ohne dass die Agenten sie gleich einkassiert hätten.

Allerdings hörten wir auch andere Storys: von Sprachstudenten, die bei den Demos fotografiert hatten und dann so lange festgehalten wurden, bis sie ihre E-Mail-, Skype- und Facebook-Passwörter verraten hatten. Und jeder kannte jemanden, der verschwunden war. Asisa hörte gebannt zu und zischte, dass im Hause nur geflüstert werden dürfe.

Es ging auf Mitternacht zu, alle waren mehr oder weniger betrunken, als eine junge Irakerin plötzlich aufstand, die Faust reckte und schrie: „Verdammt, wovor habt ihr alle Angst, ich komme aus dem Irak und weiß, was Angst ist! Hier sind keine Amis, hier ist nur ein beschissener Präsident, yalla, morgen gehen wir auf die Straße und stürzen ihn! Revolution!“ Noch nie hatte ich Asisas Augen so weit aufgerissen gesehen – todernst. „Party is over“, zischte sie in das betrunkene Studentengelächter. Nur ich durfte bleiben, hinter ihr liegen und sie die ganze Nacht lang halten. Größer noch als die Angst, von Agenten geschnappt zu werden, war in dieser Nacht nur ihre Angst, allein zu sein, wenn sie denn käme.

Aus Syrien meldet AFP heute:

Beim gewaltsamen Vorgehen gegen regierungskritische Demonstranten in Syrien haben Sicherheitskräfte am Freitag mindestens drei Menschen getötet. Die Sicherheitskräfte hätten in der Ortschaft Dael im Süden des Landes das Feuer auf Demonstranten eröffnet, die auf Hausdächer gestiegen seien, erklärte die Syrische Beobachtungsstelle für Menschenrechte in London. In der Hauptstadt Damaskus und in Deir Essor im Nordosten des Landes lösten die Sicherheitskräfte nach Angaben der Syrischen Liga für Menschenrechte gewaltsam Demonstrationen auf.

In Deir Essor hätten sich rund 5000 Menschen nach dem Freitagsgebet zu Protesten versammelt, die Polizei habe Warnschüsse in die Luft abgegeben, teilten die Menschenrechtler mit. Im Stadtteil Rokn-Eddin im Norden von Damaskus gingen die Sicherheitskräfte demnach mit Schlagstöcken gegen hunderte Protestierende vor. Seit dem Beginn der Proteste gegen Staatschef Baschar el Assad wurden nach Angaben von Menschenrechtlern mehr als 1000 Menschen getötet und rund 10.000 weitere festgenommen.

In „Die Zeit“ schreibt die in Syrien untergetauchte Anwältin Razan Zeitouneh:

Aber meine Träume gebe ich nicht auf.

Das Regime glaubt offenbar immer noch, dass es sich retten kann, indem es einfach immer mehr Leute verhaftet und weiter auf Demonstranten schießt. Der vergangene Freitag war der beste Gegenbeweis: Fast überall gab es Proteste, und diesmal waren auch die Minderheiten dabei, Christen an vielen Orten, die Drusen in Swaida, die Ismailiten in Al-Salamia, Alawiten, Assyrer, die Kurden sowieso. Das ganze Volk. Nicht nur eine kleine Clique oder Randgruppe oder gar Terroristen, wie das Regime immer noch behauptet.

Die FAZ berichtet heute, dass der Hizbullah-Generalsekretär Nasrallah in Jordanien „alle Syrer aufgerufen hat, ihr Land ebenso zu bewahren wie das herrschende Regime, ein Regime des Widerstands“. Die FAZ bezeichnet diesen Blindfisch als Chef des „Islamischen Widerstands im Libanon“.

Aus dem Jemen melden Reuters und dpa:

1. Die jemenitische Luftwaffe hat am Freitag einem Fernsehbericht zufolge Angriffe gegen aufständische Stammeskämpfer geflogen. Wie der Sender Al-Arabija berichtete, wurden die Rebellen in einem Gebiet bei Sanaa bombardiert. Nähere Einzelheiten wurden zunächst nicht bekannt. Zuvor hatte eine Rebellengruppe erklärt, sie habe aus einem Gebiet rund 100 Kilometer von der Hauptstadt entfernt die Republikanischen Garden von Präsident Ali Abdullah Saleh vertrieben.

Die jüngsten Kämpfe entbrannten, als Kämpfer des Al-Ahmar-Clans im Norden Sanaas versuchten, Regierungsgebäude zu stürmen. Präsident Saleh hatte sich zuvor erneut geweigert, ein Abkommen zu unterzeichnen, das seinen Rücktritt binnen eines Monats vorsieht. Am Donnerstag kamen bei Zusammenstößen in Sanaa kamen mehr als 40 Menschen ums Leben.

2. Trotz der andauernden blutigen Zusammenstöße zwischen Regierungstruppen und aufständischen Stammeskämpfern im Zentrum von Sanaa hat die Opposition im Jemen für den heutigen Freitag zu neuen Massenprotesten gegen den Präsidenten Ali Abdullah Salih aufgerufen. Zugleich bekräftigten Salihs Gegner ihre Entschlossenheit, den Rahmen friedlicher Demonstrationen nicht zu verlassen. Auch Salih mobilisierte seine Anhänger zu einer Kundgebung beim Präsidentenpalast. Bei den Kämpfen zwischen regierungstreuen Truppen und Kämpfern des Stammesscheichs Sadik al-Ahmar im Stadtviertel Hasaba wurden seit Montag an die 100 Menschen getötet. Zahlreiche Bewohner flohen vor den Kämpfen.

In der Jungen Welt berichtet Heike Schrader heute aus Griechenland:

Nach spanischem Vorbild protestierten am Mittwoch Zehntausende Menschen in fast allen großen Städten. Der berühmte Tropfen, der das Faß zum Überlaufen brachte, war wahrscheinlich eine Falschmeldung: »Indignados« in Madrid hätten ironisch zur Stille aufgerufen, »um die Griechen nicht aufzuwecken«. Diese sich wie ein Lauffeuer auf diversen griechischen Blogs verbreitende Nachricht schaffte, was gleichlautende Aufrufe nach Beginn der Aufstände in Tunesien oder Ägypten nicht geschafft hatten: Überall im Land trafen sich am Mittwoch abend Tausende und Abertausende »Empörte« auf den zentralen Plätzen der Städte. Allein in Athen versammelten sich mehrere zehntausend Menschen auf dem Syntagma-Platz, zu deutsch Platz der Verfassung, direkt vor dem griechischen Parlament. Spontan und friedlich gaben sie ihrer Empörung über die Verhältnisse im Lande Ausdruck. Bis tief in die Nacht hinein – die letzten wenigen hundert Teilnehmer verließen den Platz erst am Donnerstag morgen – protestierten sie gegen die brutalsten Sparmaßnahmen, die sie je erlebt haben, und deren Verursacher. »Diebe, Diebe« wurde wie schon bei anderen Gelegenheiten den »Volksvertretern« im Parlament zugerufen. »Wir sind wach, für euch ist es ist Zeit zu gehen«, stand in spanischer Sprache auf einem der wenigen Transparente. »Alles für alle« lautete die griechische Botschaft auf einem zweiten. Für Donnerstag abend (nach Redaktionsschluß) wurde zu einer Fortsetzung der Proteste aufgerufen.

In der organisierten Linken wird der Aufbruch der »Empörten« zwiespältig diskutiert. Niemand dürfe daran zweifeln, daß es »bei einem verschlissenen bürgerlichen System« viele gäbe, die »einen Ausweg aus dem Druck suchten, den die Verschlechterung ihrer Lebensbedingungen« ausübe, kommentierte die Parteizeitung der KKE, Rizospastis, die Proteste. »Von dort bis zur Entdeckung, dem Verständnis und letztendlich dem Angriff auf die tatsächlichen Verursacher dieser Verschlechterungen aber hat das Bewußtsein einen langen und schwierigen Weg vor sich.« Im alternativen Internetportal athens.indymedia.org schwanken die Meinungen zwischen dem Aufruf, sich mit eigenen anarchistischen und autonomen Vorstellungen einzubringen, und der Einschätzung, daß der Protest ebenso schnell wieder in sich zusammenfallen werde, wie er entstanden sei. Als verdächtig wurde von allen die außergewöhnlich positive und umfassende Berichterstattung über die Aktionen in den Abendnachrichten gesehen.

Über Algerien weiß die Financial Times Deutschland:

Präsident Abdelaziz Bouteflika hat den Ausnahmezustand aufgehoben und politische Reformen versprochen. Mit einem neuen Wahlrecht und größerer Freiheit für Parteien hofft er, die Unruhen im Land unter Kontrolle zu bekommen. Auch in Algerien demonstrieren die Menschen seit Monaten gegen ihre schlechte wirtschaftliche Lage und die grassierende Korruption. Zudem regt sich der islamistische Terror wieder, der das Land in den 80er und 90er-Jahren heimgesucht hatte. Mit blutigen Anschlägen versuchen sie das Regime Bouteflikas zusätzlich zu destabilisieren. Algerien gilt als Hochburg der Al-Kaida-Filiale im Maghreb.

Ihrem Roman „Oran – Algerische Nacht“ stellte die Autorin Assia Djebar ein Zitat von Gérard de Nerval voran:

„Bald weiß ich nicht mehr, wohin ich meine Träume flüchten soll.“

Photo: freunde-des-orients.de

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