Umzugswagen der tunesischen Aufständischen auf dem Karneval der Kulturen in Kreuzberg. Photo: Antonia Herrscher
Wie in der Revolte – im Widerstand und von der Reaktion – die Wahrheit auf der Strecke bleibt, hat zum Einen 1990 Peter Weibel als Organisator eines Kongresses in Budapest über „Rumänien im Fernsehen“ herausarbeiten lassen (anschließend entstand aus den Ergebnissen ein Merve-Band). Und zum Anderen der Erfinder des sozialistischen Existentialismus: Der weißrussische Rotarmist und Schriftsteller Wassil Bykau, der sich mit nichts anderem als mit dem Partisanenkampf gegen die Deutschen beschäftigte. Er gab 1996 der Zeitung „Russkij Berlin“ ein Interview. Darin meinte er:
„Bis vor kurzem durfte man die ganze Wahrheit über den Krieg nicht sagen. Das lag nicht an der Zensur oder am dogmatischen Sozialistischen Realismus, die natürlich auch die Literatur unterdrückten, sondern an dem besonderen Charakter des gesellschaftlichen Bewußtseins in der Sowjetunion, das nach dem Krieg eine fast süchtige Beziehung – nicht zur Wahrheit des Krieges, sondern zu den Mythen des Krieges hatte: das betraf die Helden, die Flieger, die Partisanen usw. Diese schönen Mythen waren auch für die Veteranen annehmbar, obwohl sie ihren eigenen Erfahrungen widersprachen. Die Wahrheit über den Krieg war nutzlos und sogar amoralisch. Schon die kleinste Annäherung an die Wahrheit wurde sofort als ein Attentat auf das Allerheiligste – den Kampf für die Freiheit und Unabhängigkeit der Heimat – aufgefaßt. Die Autoren, die über den Zweiten Weltkrieg schrieben, waren jedoch begabte und durchaus zu Selbstopfern bereite Menschen, die der Wahrheit in ihren Büchern auf der Spur waren. Ihre Werke hatten deswegen auch oft ein schweres Schicksal (die russische Umschreibung für jahrelanges Druckverbot). Das ist jedoch nur allzu verständlich, wenn man bedenkt, daß diese Wahrheit nicht nur in Redaktionsstuben, sondern auch auf den Schlachtfeldern des Krieges selbst erobert werden mußte. Der Schriftsteller und Kriegsfreiwillige Ernest Hemingway hat einmal gesagt: ‚Über den Krieg zu schreiben, ist gefährlich, noch gefährlicher ist es aber, die Wahrheit im Krieg selbst zu suchen‘.“
Der französische TV-Philosoph Bernhard-Henry Lévy hat dies versucht – und darüber in der heutigen „Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung“ live aus der libyschen Stadt Misrata berichtet. Sein parteilicher Artikel trägt jedoch allzu dick auf.
Bewußt unternimmt dies seit einigen Jahren der Betreiber des „Lügenmuseums“ – mit der Vergangenheit. Zuletzt erreichte mich folgender Veranstaltungshinweis von ihm:
Liebe Freunde des Lügenmuseums,
am 19. Juni gibt es einen Rundgang durch die Gärten der
Jedermanngartenschau.
10 Uhr im Hof des Wallgebäudes
Einladung im Anhang
Mit freundlichen Grüßen
Reinhard Zabka
Invalidenstrasse 134, 10115 Berlin
Tel. 030 27 59 50 36 Handy 0176 – 99 02 56 52
In der taz von morgen findet sich folgende Lügengeschichte aus Syrien:
Syriens bekannteste Bloggerin berichtete von der Revolution – und war ein Medienstar. Jetzt wurde bekannt: Es gibt sie nicht, ein Amerikaner hat sie erfunden.
Sie gab der Revolution ein Gesicht, eine Stimme, eine Leidensgeschichte und somit die ideale Identifikationsfläche. Sie war jung, sie war lesbisch, sie war Amina Arraf und berichtete seit Februar in ihrem Blog „A Gay Girl in Damascus“ über die Repressalien des syrischen Assad-Regimes in Zeiten des versuchten Umsturzes. Sie ahne, dass sie festgenommen würde, schrieb die vermeintliche Aktivistin, dann verschwand sie. Ihre Cousine Rania gab an gleicher Stelle ein Update, Amina sei von drei Männern in ein Auto gezwungen worden. Medien aus aller Welt berichteten darüber – auch die taz. Es war einfach so schön, dass Informationen ungehindert aus Syrien rausflossen. Und es war so schön einfach, Arraf mit nur einem Mausclick am heimischen PC zu unterstützen.
Alles falsch, alles gelogen. Die gefühligen Zeilen stammten von einem 40-jährigen Amerikaner. Tom MacMaster schrieb auch nicht aus Damaskus, sondern aus Edinburgh, wo er studiert. Den letzten Eintrag, in dem er sich am Sonntag outet, unterzeichnet er aus Istanbul. „Er habe niemals erwartet, so viel Aufmerksamkeit zu erregen,“ schreibt er in seiner Entschuldigung. Und der BBC erklärte der selbsternannte Friedensaktivist, der sich seit Jahren eingehend mit der arabischen Welt beschäftigt, seine Beweggründe. Er sei, wenn er Fakten und Meinungen zu Nahost-Themen präsentierte, einfach oft gefragt worden, warum er antiamerikanisch, antijüdisch sei. Deswegen habe er das Alter Ego erfunden, so dass sich die Menschen auf die Fakten konzentrieren würden.
Eine krude Logik. Vor allem weil er ein hübsches Gesicht für seine Amina fand, das die auf das Blog gerichtete Aufmerksamkeit erheblich verstärkte. In einem Foto sieht man eine schlanke Frau mit dunklen Haaren, einen auffälligen, adretten Leberfleck. Es wurde nicht in Damaskus aufgenommen, sondern in Paris und gehört Jelena Lecic aus London, die nichts mit Syrien zu tun hat. Sie führt wie hunderte Millionen andere auch ein Facebook-Account, und von diesem nahm MacMaster, sagt er, das Bild.
Erste Unregelmäßigkeiten waren längst aufgefallen, als Lecic am 8.Juni bei der BBC saß und erzählte, wie mies es ihr – zu Recht – ginge, weil jemand ihr Foto gekapert hatte. Sie hatte es im Guardian entdeckt und daraufhin Kontakt zur Presse gesucht. Niemand kannte Amina, ihre IP-Adressen waren in Edinburgh registriert, es kursierte schon Gerüchte, Arraf sei nicht echt. Trotzdem gingen Lecic und der Moderator noch davon aus, die Bloggerin habe das Bild geklaut, um ihr eigenes Gesicht zu schützen. Ein anwesender Blogger sagte: „Es ist egal, wer du wirklich bist, wenn du als Cyberaktivist agierst.“ Lecic tröstete das wenig.
Warum also war ein Blog voller pathetischer Prosa so erfolgreich? Vielleicht weil es perverserweise das Geschehen aus einem Land veranschaulicht, aus dem kaum Informationen dringen. Vielleicht weil eine junge Frau mehr gefühlte Nähe vermittelt als ein älterer bärtiger Mann. Das Lesbische rundet die fiktive Persönlichkeit ab, ohne spezifisch zu sein. Es ist ein billiger Trick, um der Figur ein weiteres Attribut zu geben. Nur weil das syrische Regime ohne Zweifel wütet, spielt die Fälschung ihm nicht in die Hände. Zu viel von den schrecklichen Ereignissen in Syrien ist schon bekannt, als das diese Erfindung der dortigen Opposition schaden könnte. Das Regime kann nicht behaupten, Amina gibt es nicht, also gibt es auch keine Revolution.
Man könnte Amina Arrafs Entstehung als schlampige Arbeit unzähliger Journalisten abtun. Sie haben zu lange nicht hinterfragt. Doch worauf sollen sich Medien dann verlassen, wenn nichts aus einem Land dringt? Wäre man ganz konsequent, würde rein gar nichts berichtet werden.
Es stimmt schon, dass der Blog Aufmerksamkeit für die syrische Befreiung generieren konnte. Für den Rest der Welt ist es okay und die Empörung nicht zu groß, verglichen mit dem, was das Regime treibt. Für Lecic aber ist es, wie für die „falsche“ Neda aus dem Iran, eine Katastrophe. Sie leidet als Opfer eines Lernprozesses, den wir alle in dieser frühen Phase des Internets wohl mehrmals durchmachen müssen, bevor wir lernen, dass Bilder missbraucht werden können. Aber, auch das gehört zu den Begebenheiten, nur sie zahlt den Preis für diese Erkenntnis. Es bleibt zu hoffen, dass Jelena Lecic MacMaster auf Schadenersatz verklagt. Vielleicht sollte sich schnell eine Facebook-Gruppe gründen, um ihr den bestmöglichen Anwalt zu besorgen. Am Ende nämlich ist Tom MacMaster ein pfuschender Wichtigtuer, der die Sympathien der Welt ausnutzte. (Natalie Tenberg)
In der taz von morgen findet sich aber auch die folgende syrische bloger-Geschichte:
Immer wenn er seinen Laptop öffnet, dringen Stimmen aus allen Ecken Syriens auf ihn ein. Fließend manövriert er zwischen den verschiedenen Fenstern, die sich auf seinem Bildschirm überlappen. Auf Twitter flackern Bilder von Massenprotesten vorüber: In der Stadt Hama füllt eine dichte Masse die Straße vor einer Moschee, die Leiche eines Demonstranten wird vorübergetragen: „Es gibt keinen Gott außer Gott“, rufen die Menschen.
Über Twitter, Skype und Facebook strömt eine Flut von Nachrichtenschnipseln herein. „Nach einem großen Protest am Nachmittag: Massenverhaftungen im Dorf Naima“, schreibt Rami Nakhle, „Kerzenlichtwache heute Abend in Qamishli.“ Dann postet er das Video eines desertierten Soldaten, der von Rissen in der Armee berichtet.
Rami Nakhle, 28 Jahre alt, ein Politikwissenschaftsstudent aus Damaskus, ist einer der prominenstesten Cyberaktivisten, die den Aufstand gegen das autoritäre Regime von Präsident Baschar al-Assad an der virtuellen Front vorantreiben. „Das Internet spielt für die Proteste eine Schlüsselrolle“, sagt er in einem Interview über Skype. „Alles hat im Internet begonnen. Lange bevor die Menschen tatsächlich auf die Straße gegangen sind, haben wir angefangen, uns im Cyberspace zu vernetzen.“
Doch damit hat sich Rami Nakhle mächtige Feinde gemacht. Vor einigen Monaten ist er in der libanesischen Hauptstadt Beirut untergetaucht. Er versteckt sich bei Freunden, bleibt nie länger als ein paar Nächte an einem Ort. Er weiß, dass er auch im Libanon nicht sicher ist; der Einfluss der syrischen Sicherheitsdienste reicht weit in das kleine Nachbarland hinein.
So wie schon in Tunesien und Ägypten filmen auch die Oppositionellen in Syrien ihre Proteste und verbreiten die Aufnahmen über soziale Netzwerke. Doch anders als in diesen beiden Ländern sind die Bilder aus dem Internet die einzigen, die überhaupt zeigen, was derzeit auf den Straßen Syriens geschieht. Ausländische Journalisten lässt das Regime nicht einreisen, alle einheimischen Medien stehen unter der Kontrolle des Staates. Die brutalen Repressionen haben dazu geführt, dass ein Stoßtrupp von Aktivisten im Ausland die Führung der Onlinebewegung übernommen hat. Sie sitzen nicht nur im Libanon, wie Rami Nakhle, sondern auch in den USA, in Kanada und in England.
Nakhle sammelt Nachrichten, überprüft die Beiträge, bündelt das Material und leitet es an internationale Journalisten weiter. Er war schon auf BBC, CNN, al-Dschasira. Damit ist Nakhle zu einer Art inoffiziellem Sprecher der Protestbewegung geworden. „Ich bin so gut wie 24 Stunden am Tag auf Skype in einer Dauerkonferenz mit den Leuten vor Ort“, sagt er.
Als die Armee ganze Dörfer und Städte von der Außenwelt abriegelte und Telefon- und Internetverbindungen unterbrach, gelang es ihm noch, an Informationen zu kommen. „Unsere Kontakte sind bisher nie ganz abgerissen“, erzählt er. „Aber natürlich wird der Nachrichtenstrom dünner, wenn die Orte unter Belagerung stehen. Anstelle von zehn Kontakten haben wir dann nur noch den einen, der ein Satellitentelefon hat.“ Im Internet ist er unter dem Pseudonym Malath Aumran aktiv. Auf Facebook hat er über 4.000 Freunde, auf Twitter folgen ihm rund 5.600 User.
Das, was sich derzeit in Syrien abspielt, ist auch ein Informationskrieg. Nach offizieller Darstellung werden die Sicherheitskräfte derzeit eingesetzt, um einen Aufstand islamistischer Extremisten, ausländischer Verschwörer und bewaffneter Banden niederzuschlagen. Doch die Aufnahmen der Aktivisten zeigen eine andere Wirklichkeit. Also sind Menschen wie Rami Nakhle zu einer ernst zu nehmenden Bedrohung für das Regime geworden.
„Es ist ein Kampf um die Köpfe und die Herzen der Menschen, und das Regime hat ihn mit fliegenden Fahnen verloren“, sagt Joshua Landis, Professor für Nahoststudien an der Universität Oklahoma und führender Syrienexperte. „Deswegen ist die Onlinebewegung von extremer Bedeutung für die Proteste.“ Vor allem jetzt, da der Westen über neue Sanktionen verhandelt, entfalte der Einfluss der Cyberaktivisten sein volles Potenzial, meint Landis: „Diese Leute stellen die Informationen bereit und formen damit die Botschaft, die derzeit aus Syrien kommt.“
Entscheidend für den Erfolg sind nach Ansicht des Experten prominente Beispiele wie Rami Nakhle. Menschen wie er geben den Protesten ein Gesicht: „Das ist sehr wichtig, und die Opposition wird mehr in dieser Richtung tun müssen. Sie braucht Führungsfiguren, denn die breite Masse in Syrien will wissen, wer diese Leute sind, denen sie sich anschließen sollen.“
Längst ist auch der Geheimdienst auf Facebook und Twitter unterwegs. Zudem versuchen regimetreue User die Seiten der Dissidenten zu sabotieren. Sie nennen sich „syrische elektronische Armee“ und agieren gegen Bezahlung oder aus Überzeugung. Wann immer Rami Nakhle Fotos oder Videos hochlädt, erscheinen Sekunden später auch hasserfüllte Kommentare darunter. „Das sind keine Demonstranten, sondern Terroristen“, schreiben sie, oder: „Hör auf mit den Lügen, oder wir holen deine Schwester.“
Die Cybereinheit des Geheimdienstes wird immer besser darin, die elektronischen Spuren der Dissidenten zu verfolgen. „Wir wissen auch, dass sie in den Internetläden von Damaskus Hacker rekrutiert haben“, sagt Rami Nakhle. „Zudem lassen sie sich von ausländischen Firmen beraten, wie sie die Proteste im Internet ersticken können.“
Dem Studenten fiel etwa vor drei Jahren auf, dass etwas nicht stimmt in seinem Land. Bis dahin glaubte er an die Propaganda, mit der er aufgewachsen war. „Ich bin nicht eines Morgens plötzlich als Dissident aufgewacht“, sagt er. „Es war ein Prozess, der Schritt für Schritt ablief.“ Der Wendepunkt in seinem Leben kam, als eine gute Freundin von ihrem Bruder erschlagen wurde. Er kam mit einer sechsmonatigen Haftstrafe davon, weil die Gerichte die Tat als „Ehrenmord“ einstuften. Nach diesem brutalen Akt der Gewalt begann Rami Nakhle, sich Fragen zu stellen.
Im Internet suchte er die Antworten, die er sonst nirgends finden konnte. Er lernte Proxy-Server zu benutzen, um auf verbotene Seiten zuzugreifen, und legte sich das Pseudonym zu. Sein Profilbild auf Facebook zeigt ein Porträt, für das Gesichter von 32 verschiedenen Männern verschmolzen worden sind. Dann schrieb er auf, was ihn bewegt, und veröffentlichte seine Gedanken in Blogs, Foren und Newslettern. „Anfangs ging es mir eher um soziale Themen, vor allem Frauenrechte“, erinnert er sich. Erst allmählich wurde seine Kritik direkter, politischer. Schließlich sprach er sich offen gegen die Korrution und die Willkür des Regimes von Präsident Baschar al-Assad aus.
Es dauerte nicht lange, bis „Malath Aumran“ ins Visier des Geheimdienstes geriet. Die Fahdung zog sich immer enger um Rami Nakhle zusammen. Insgesamt 40-mal wurde er zum Verhör geladen. Im Dezember erkannte er, dass er keine Wahl mehr hatte. Er ließ sich für 500 US-Dollar von Schmugglern auf einem Motorrad in den Libanon bringen.
„Diese Revolution hat keine Führung, das ist ja gerade das Schöne daran: Es ist ein wahrer Aufstand des Volkes“, erkärt Nakhle. „Was wir tun, ist, die einzelnen Gruppen in den verschiedenen Städten zu koordinieren. Wir helfen ihnen dabei, in Kontakt zu bleiben.“ Das Regime setzt indessen weiterhin Armee und Geheimdienste ein, um die Protestbewegung niederzuschlagen. Immer wieder berichten Menschenrechtler, dass Demonstranten unter Folter gezwungen werden, ihre Facebook-Passwörter zu verraten.
Dann nutzen die Sicherheitskräfte die Profile als Falle, um die Freunde der Gefangenen aufzuspüren. „Trotz all der Gewalt gehen die Menschen noch immer auf die Straße. Sie wissen, dass sie ihr Leben riskieren, doch sie demonstrieren weiter“, meint Nakhle.
„Wir können jetzt nicht einfach aufgeben. Denn sonst werden sie jeden Einzelnen holen, der sein Gesicht je bei einem Protest gezeigt hat.“ (Gabriele M. Keller)
AFP meldet heute aus Syrien:
Viele verletzte Syrer, die sich bis in das Nachbarland schleppen konnten, bezeugen, beim Vorgehen gegen Demonstranten iranische Soldaten neben syrischen Sicherheitskräften gesehen zu haben. Der Iran bestreitet freilich, in die Unterdrückung der Protestbewegung in Syrien verwickelt zu sein. Doch die syrischen Augenzeugen haben zahlreiche Indizien: „Sie trugen einen Bart, obwohl das in der syrischen Armee verboten ist“, sagt Mustafa. Und sie trugen schwarze Uniformen – solche gibt es in Syriens Militär aber nicht.
Männer mit langen Bärten und rasierten Schädeln hat auch der 23-jährige Velit gesehen, der im Krankenhaus liegt. Sie hatten auf ihn geschossen, als er Verletzten helfen wollte. „Das waren riesige, robuste Kerle.“ Zwar will er sich nicht festlegen, dass es Iraner waren. „Aber Syrer waren das nicht.“ Auch zu einer Sondermiliz des syrischen Militärs, die schwarze Uniformen trägt, gehörten sie nicht. „Die kennen wir.“
Die Nachrichtenagentur dpa meldete am Wochenende aus Syrien:
Die syrische Armee ist am Freitag in die Offensive gegangen – im eigenen Land gegen das eigene Volk. Im Visier der Soldaten im Großeinsatz in der Provinz Idlib im Nordwesten des Landes stehen Regimegegner. Auf türkischer Seite der nahe gelegenen Grenze ist Geschützdonner zu hören. In mehreren Städten Syriens gingen nach dem Freitagsgebet Demonstranten auf die Straße, die zum Sturz des Regimes aufriefen. Nach Informationen arabischer TV-Sender wurden mindestens fünf Demonstranten erschossen, darunter auch ein Kind. Die staatlichen syrischen Medien sprachen von einem Einsatz gegen „bewaffnete Banden“ in Idlib und behaupteten, diese hätten Felder, Heuschober und Wälder angezündet.
AFP meldet aus Jordanien heute:
Bei einem Besuch im Süden des Landes soll der Fahrzeugkonvoi des Königs von Jordanien nach Angaben aus Sicherheitskreisen angegriffen worden sein. Eine Gruppe junger Männer habe Steine und leere Flaschen auf einen Teil der Fahrzeugkolonne von Monarch Abdullah II. geworfen, als dieser am Montag in die Stadt Tafileh eingefahren sei, sagte ein Vertreter der jordanischen Sicherheitskräfte. Wie auch der Königspalast bestätigte, gab es bei dem Vorfall keine Verletzten. Die Regierung dementierte allerdings wenig später, dass es einen Angriff auf den Konvoi des Königs gegeben habe.
AFP meldet heute aus Libyen:
1. Die libysche Rebellenhochburg Bengasi ist für den deutschen Außenminister Guido Westerwelle (FDP) ein schwieriges Pflaster.
2. Der russische Präsident des Weltschachverbands FIDE, Kirsan Iljumschinow, hat über seine jüngst absolvierte Schachpartie mit Libyens Machthaber Muammar el Gaddafi geplaudert und dabei keinerlei Gewissensbisse gezeigt. „Ich würde mit Freuden mit jedem spielen“, sagte Iljumschinow am Montag dem Radiosender Moskauer Echo telefonisch aus Libyen.
Die Junge Welt berichtet aus Libyen:
„Deutschland erwägt, nach einem Sturz von Gaddafi Soldaten nach Lib<en zu schicken.“
AP meldet aus Libyen:
„Vor der libyschen Küste ist es am Samstag zu gewaltsamen Auseinandersetzungen zwischen europäischen Umweltaktivisten und tunesischen Thunfischfängern gekommen. Die Aktivisten der Organisation Sea Shepherd Conservation Society versuchten mit ihrem Schiff „Steve Irwin“, illegalen Thunfischfang in der Flugverbotszone nördlich von Libyen zu verhindern.“
Einserseits: „Der Rote Thun, auch Blauflossen-Thunfisch genannt, laicht im Mittelmeer, bevor er in den Atlantik zieht. Der Fisch ist vom Aussterben bedroht, sein rohes Fleisch gilt vor allem in Japan als Delikatesse.“
Andererseits: Wegen der anhaltenden Revolte in Tunesien liegt die Wirtschaft danieder, zudem müssen die Tunesier noch hunderttausende Flüchtlinge aus den Nachbarländern versorgen.
In dem vom Ch.Links Verlag veröffentlichten Buch über „Die Arabische Revolution“ berichtet der Reporter Thomas Schmid über „Die Revolution gegen den Revolutionsführer“ in Libyen, sein Bericht endet mit der Einschätzung, dass es für Gaddafi keine Rückkehr zum „business as usual“ geben wird.
In der „Jungleworld“ berichtet in dieser Woche Hannah Wettig aus Benghasi:
In der Mitte des Tahrir Square, des »Platzes der Befreiung«, in Bengasi versammeln sich Männer zum Gebet. Die älteren von ihnen halten ein Schwätzchen in einem der Zelte, die den Platz umgeben. Dahinter tanzen junge Männer zum neuesten Revolutions-Rap. Halbstarke fahren etwas abseits Rennen auf Quads. Frauen sieht man hingegen nicht. Zu Beginn des libyschen Aufstands waren sie noch hier und schrien am 17. Februar gemeinsam mit den Männern vor dem Gerichtsgebäude nach »Freiheit«. Bis spät in die Nacht hinein saßen sie mit ihren männlichen Freunden auf dem Platz und diskutierten, nachdem die Stadt am 20. Februar aus der Herrschaft von Muammar al-Gaddafis Leuten befreit worden war.
Aber vor vier Wochen war Schluss damit. Die Frauen bekamen ein mit Brettern abgesperrtes Areal an der Strandpromenade zugewiesen. Nachmittags organisieren dort junge Frauen Kinderspiele: Kegeln, Malen, Türme Bauen. Abends ist der Platz verwaist. »Nach der Revolution kamen immer mehr Frauen zum Tahrir Square«, erzählt Dina al-Gallal. »Vielleicht haben einige der Jugendlichen Frauen belästigt. Deshalb brauchten wir einen sicheren Ort.« Die 27jährige arbeitet ehrenamtlich im Pressezentrum. Sie und ihre Kollegin Nada tragen kein Kopftuch. Das ist in Bengasi so selten wie eine Niqab tragende Frau in Berlin. Dina sagt, es gebe keine Probleme. »Niemand zwingt mich. Es ist hier gar nicht so streng. Wir können arbeiten. Wir können Auto fahren.«
Das mit dem Autofahren hört man oft. Tatsächlich sitzen viele Frauen am Steuer. »Ohne Auto kann man sich als Frau nicht bewegen«, erzählt Seham al-Elamani. Die 30jährige Englischlehrerin hat keines. Allein mit dem Taxi zu fahren, hält sie für zu gefährlich. Wenn sie zum Gerichtsgebäude will, wo sie als Übersetzerin arbeitet, kommt ihr Mann im Taxi mit. Zu Freundinnen kann sie nur, wenn eine sie abholt. »Das ist so wegen der Sicherheitssituation«, sagt sie.
Es gibt keine Polizei in der Stadt. In den Straßen, die zum Tahrir Square führen, stehen junge Männer in verschiedenen Uniformen: in grünen, blauen, in Camouflage. Dass sie tatsächlich zum revolutionären Sicherheitsdienst gehören, erkennt man an den Namensschildern, die um ihren Hals baumeln. Der Rest der Stadt wird nicht überwacht. Man erzählt sich von Überfällen. Gaddafis Getreue sollen vor ihrer Flucht Schwerkriminelle aus den Gefängnissen gelassen haben.
Lange galt »Bruder Führer« vielen westlichen Beobachtern als der Feminist unter den arabischen Diktatoren. Nur drei Monate nach dem Militärputsch von 1969, der Gaddafi an die Macht brachte, stellte er Frauen und Männer vor dem Gesetz gleich. 1972 verbot er Zwangsehen. Damit war er den anderen Diktatoren der Region einen Schritt voraus. Heutzutage allerdings unterscheidet sich die Familiengesetzgebung in Libyen nicht maßgeblich von der in Ägypten oder Syrien. Anders als in Tunesien wurde in Libyen die islamische Familiengesetzgebung nie vollständig aus den Gesetzbüchern verbannt. So blieb etwa Polygamie erlaubt. »Gaddafi hat nur so getan, als setze er sich für Frauen ein«, sagt Intisar al-Agileh, die juristische Beraterin des Übergangsrats. Als Beispiel nennt sie Gaddafis weibliche Bodyguards: »Das war eine Riesen-Show.«
Die 44jährige Rechtsanwältin ist eine derjenigen, die die libysche Revolution angestoßen haben. Am 15. Februar – zwei Tage vor den ersten Massenprotesten in Bengasi – wurde ihr Kollege Fathi Terbil verhaftet. Er vertrat die Hinterbliebenen der politischen Gefangenen im Abu-Salim-Gefängnis in Tripolis. Dort wurde 1996 ein Aufstand blutig niedergeschlagen. Menschenrechtsorganisationen schätzen die Zahl der Toten auf 1 200, die meisten sollen aus der Cyrenaika, dem Ostteil Libyens, gestammt haben. Erst vor zwei Jahren erfuhren die Angehörigen davon.
Nach der Verhaftung des Gefangenenanwalts zogen seine Mandantinnen und Mandanten sowie befreundete Rechtsanwältinnen und Rechtsanwälte vor das Sicherheitsdirektorat, in dem er gefangengehalten wurde. Diese sogenannte Frauendemonstration gilt vielen als Beginn der Revolte. »Es waren mehr Frauen als Männer, weil unter den Mandanten einfach viele Mütter und Ehefrauen waren«, stellt Agileh jedoch klar. Sie hält nicht viel von dem »Gerede über die Gleichheit von Männern und Frauen«. Sie seien schon gleich. »Ich bin eine starke Frau. Ich brauche keine Gesetze, die mich bevorzugen«, sagt sie. Als Grund für ihre Ansicht nennt sie die Religion: »Der Islam hat uns Gleichheit gegeben, bevor es die Menschenrechte gab.« Doch gilt die Gleichheit auch in Familienangelegenheiten, bei Scheidung, im Erbrecht, bei der Polygamie? »Das sind keine Gesetze, sondern das ist der Islam. Das können wir nicht ändern«, sagt die Anwältin.
Sie ist überzeugt, dass nun die Zeit der Frauen in Libyen gekommen ist. »Bisher haben die Leute ihre Töchter nicht in Führungspositionen gedrängt, weil sie es beschämend fanden, für Gaddafi zu arbeiten. Aber jetzt bin ich sehr optimistisch, weil die Männer uns sehr offen begegnen.« Sie selbst habe keinen Doktortitel, weil sie dafür Gaddafis Ideologie hätte vertreten müssen. Gerade den Frauen der Cyrenaika hat das Gaddafi-Regime häufig eine Karriere verbaut. Die Bevölkerung im Osten Libyens war dem neuen »islamischen Sozialismus« von Anbeginn nicht gewogen. Der 1969 gestürzte König Idris kam aus der Region. Gaddafi hingegen soll Tripolitanien, das Gebiet seiner Herkunft, immer bevorzugt haben.
Majda Zahli wollte Lehrerin werden und ging 1973 nach Tripolis, um dort Mathematik zu studieren. In ihrem dritten Studienjahr schloss sie sich Studentenprotesten an. »Wir wollten, dass Gaddafis Revolutionskomitee die Studentenvertretung in Ruhe lässt«, erzählt sie. Sie flog von der Universität, jegliche Ausbildung war ihr fortan verboten. »Wir waren Studenten aus allen Landesteilen, aber nur die aus der Cyrenaika flogen von der Uni.«
Zahlis Traum von einem eigenständigen Leben war zerstört. »Ich musste sofort heiraten«, sagt sie. Mit ihrem Mann ging sie nach Großbritannien. Als sie 1984 wiederkam, nahm sie Kontakt zu früheren Mitstreiterinnen auf. »Ich habe nur mit ihnen telefoniert«, versichert sie. Die Gruppe von zehn Freundinnen wurde verhaftet. »Nachts stülpten sie uns Tüten über und schleiften uns durch die Gänge«, berichtet Zahli. Vier Jahre saß sie im Gefängnis, ohne jede Verbindung zur Außenwelt. Ihre Zwillinge waren zum Zeitpunkt der Verhaftung sechs Jahre alt.
Zahli gehört seit der Revolution in Bengasi dem Organisationskomitee für soziale Aufgaben an. Dieses trifft sich in einer Schule weit vom Zentrum. In dem Theaterraum des schmucklosen Flachbaus koordinieren etwa 30 Frauen und einige Männer Freiwilligendienste: Besuche von Kriegswitwen, die Verpflegung der Soldaten an der Front, die Versorgung von Flüchtlingen aus den Kriegsgebieten.
Auch die Ingenieurin Maryam Swissa und die Zahnärztin Jamila Hamid sind zu der Sitzung gekommen. Swissa hält diese Arbeit für den ersten Schritt zur Demokratie. Zivilgesellschaftliche Arbeit sei lange nicht möglich gewesen, berichtet sie. Erst nach den Reformen, die Muammar al-Gaddafis Sohn Saif al-Islam in den vergangenen vier Jahren eingeführt habe, sei es Frauen möglich gewesen, sich wohltätig zu engagieren. »Aber wir durften nur Geld sammeln und es den Armen geben. Wir durften nicht fragen, warum sie arm sind.«
Swissa hält Gaddafis Feminismus für zynisch: »Als er Gleichheit für Frauen forderte, wusste er, dass die Leute das Gegenteil machen würden. Wenn er uns einfach in Ruhe gelassen hätte, hätten wir uns wie andere Gesellschaften entwickeln können.« Die hochgewachsene Ingenieurin trägt einen langen, weißen Hijab und schwarze Handschuhe – man könnte sie für eine stramme Islamistin halten. Will sie denn überhaupt, dass es in Libyen wird wie in Tunesien oder Ägypten, wo junge Frauen gemeinsam mit Männern im Kaffeehaus sitzen und Wasserpfeife rauchen? »So Gott will«, sagt sie. Ihre Mitstreiterin, die Zahnärztin Jamila Hamid, verspricht: »In einem Jahr wird Libyen ein neues Land sein.« Werden Frauen dann in Cafés sitzen? Die beiden lächeln und wiegen den Kopf. »So Gott will.« Die Übersetzerin Elamani wirft ein: »Wir werden Einkaufszentren haben wie in Ägypten. Dort gibt es respektable Cafés und Restaurants, wo auch Frauen hinkönnen.« Die Zahnärztin und die Ingenieurin halten das für eine gute Idee.
Im „Freitag“ dieser Woche macht sich die Algerien-Spezialistin Sabine Kebir Gedanken über den „Arabischen Frühling – Immer trägt eine Revolution auch die Restauration auf dem Rücken“:
Welchen Charakter tragen die arabischen Revolutionen in Tunesien, Ägpten, im Jemen und in Libyen, die seit Anfang des Jahres die Welt erschüttern, in Wirklichkeit aber in Gestalt des islamistischen Gespenstes schon lange durch die Welt geisterten? Bricht sich im Strom der Demokratisierungsbewegungen schließlich etwas Bahn, was den arabischen Völkern tatsächlich mehr Partizipation und soziale Teilhabe im eigenen Land ermöglicht? Werden die neu entstehenden Ordnungen religiöser Natur oder doch eher säkular sein? Oder – diese Befürchtung gibt es auch – wird die Entwicklung vom Westen mit der Absicht gesteuert, unter dem verführerischen Banner der Demokratieversprechungen den eigenen Einfluss noch einmal auszudehnen und somit auch die neuen Eliten auf alte neoliberale Muster einzustimmen? Da eindeutige Ergebnisse ausstehen, die man gemeinhin von Revolutionen erwartet, beginnt das Interesse zu erlahmen. Gleichzeitig wächst die Einmischung von außen – über diplomatische Kanäle, über die Instrumente der Wirtschaftssanktion, aber auch durch die kriegerische Intervention.
Das idealtypische Bild einer Revolution prägen noch immer die keineswegs realitätsnahen Überlieferungen der französischen Jakobiner-Revolution und der Oktoberrevolution. Die Inbesitznahme symbolisch wichtiger öffentlicher Räume wie der Avenue Bourguiba in Tunis und des Tahrir-Platzes in Kairo durch Zehntausende scheint zwar ein Muster zu bedienen, wie es 1789 durch den Sturm auf die Bastille und 1917 durch die Einnahme des Petersburger Winterpalais vorgegeben worden ist. Aber wo ist die mit einer Programmatik agierende Avantgarde? Kann man die vor den Kameras in die Luft schießenden Libyer als Revolutionäre betrachten?
Revolution und Restauration
Um sowohl Erwartungshaltungen als auch Enttäuschungen zu dämpfen, die vom Geschehen in der arabischen Welt hervorgerufen werden, sei an die von Antonio Gramsci eingeführte Begriffskombination „Revolution – Restauration“ erinnert. Revolution und Restauration seien nicht idealtypisch und losgelöst voneinander zu verstehen, schrieb der italienische Philosoph. Vielmehr seien sie ein und derselbe, komplex verschlungene historischer Prozess, in dem vorwärts- und rückwärts drängende Strömungen, aber auch viele von außen wirkende Kräfte vom ersten Augenblick an präsent sind und gegeneinander arbeiten.
Gerade hier liegen die Tragik, die Widersprüchlichkeit, aber auch die Produktivität revolutionärer Prozesse. Interpretation und Parteinahme erfordern ein Höchstmaß von dialektischer Flexibilität. Unsere Regierenden bringen sie auf, indem sie ihre Fähnchen in den Wind hängen, in Wirklichkeit jedoch Interessenpolitik betreiben.
Dass sich die Restauration international organisiert, ist nicht erst seit der französischen und russischen Revolution so. Man konnte es auch beim Kampf des Protestantismus gegen den Katholizismus beobachten, den Gramsci gleichfalls als Revolution gedeutet hat. Alle europäischen Mächte griffen – dabei vermeintlichen oder realen Interessen folgend – in jenen Konflikt ein, weil sie nicht zu Unrecht fürchteten, dass sich diese Revolution auch in ihren Ländern ausbreiten würde. Tatsächlich lösten schon Luther und Calvin internationale Dominoeffekte aus – nichts anderes war später der französischen Revolution vorbehalten.
All das fand stets ein Pendant in ebenfalls internationalen Gegenbewegungen. In diesem, seit Jahrhunderten stattfindenden europäischen Prozess von Revolution und Restauration konnte nie eine Seite einen vollkommenen und dauerhaften Sieg erringen. Das Personal der Restauration – so Antonio Gramsci – behaupte sich längerfristig nur dann, wenn es früher oder später einen Teil der revolutionären Ziele akzeptiere und sogar selbst durchsetze. Nicht selten treten an einem Scheitelpunkt dieses Widerspiels Figuren wie Napoleon, Stalin oder auch Bismarck auf, die Revolution und Restauration zugleich verkörpern. Um sich Ausmaß und Zeitdynamik der Internationalisierung der revolutionär-restaurativen Prozesse in Europa vor Augen zu führen, sei daran erinnert, dass die französische Revolution nicht nur die Leibeigenschaft im eigenen Land abschaffte, sondern deren Ende für den gesamten europäischen Kontinent einläutete. In Deutschland konnte 1813 der Freiheitskrieg gegen Napoleon nur deshalb gewonnen werden, weil die feudalen Regimes, wie zum Beispiel in Preußen, ebenfalls ein Ende der Leibeigenschaft besiegelten. Und schließlich wurde diese – wenn auch mit jahrzehntelanger Verspätung – sogar im zaristischen Russland beseitigt.
Bis der 1922 an die Macht gelangte italienische Faschismus sowohl die bürgerliche Demokratie als auch die Zivilgesellschaft zerstörte, hatte auch Gramsci diese Phänomene eher als Revolutionshindernisse betrachtet. Zu allererst beseitigt wurden dann aber die Institutionen der Arbeiterbewegung, ihre politischen und kulturellen Organisationen, ihre Medien und Versammlungsorte. Gramsci erkannte, dass nun die Verteidigung der Demokratie und des Rechts für die Arbeiterbewegung überlebensnotwendig sei. Nur auf einem Terrain der Demokratie und des Rechts könne sie um mehr Einfluss kämpfen, resümierte er.
Fataler Irrtum
Leider findet sich in linken Kreisen bis heute eine – aus der Ablehnung der konkreten Formen von Demokratie und Recht entspringende – grundsätzliche Geringschätzung von Demokratie und Recht. Diese Haltung führt auch zur Skepsis gegenüber den arabischen Demokratiebewegungen. Diese Reserviertheit erscheint insofern besonders fatal, weil der beklagte Mangel an Programmatik der arabischen Revolutionen gerade auf einem Mangel an elementaren demokratischen Freiheiten beruht.
Die bestenfalls scheindemokratischen Systeme der meisten arabischen Staaten haben die Unterschichten wie die Jugend bisher daran gehindert, sich politisch zu artikulieren. Das dafür nötige Geld und die dafür gebotene mediale Macht besaßen allein die zumeist eng mit dem Westen verbündeten Eliten. Wenn es jetzt in dieser Hinsicht einen demokratisch-institutionellen Fortschritt gibt, sollte das nicht unterschätzt werden. Gleiches gilt für das Bekenntnis zum Rechtsstaat, das den Arabischen Frühling durchzieht. Eine starke Präsenz von Anwälten in den oppositionellen Strömungen zeigt, dass der juristische Apparat nicht mehr willens ist, in seiner jetzigen Formen zu überwintern.
Richtig ist freilich auch, dass dringend verbesserungsbedürftige Lebensbedingungen in allen arabischen Ländern nicht automatisch mit mehr Demokratie oder Rechtsstaat erreicht werden. Dafür müssen die einheimischen Wirtschaftsmächtigen in die Schranken gewiesen und deren Verflechtungen mit dem neoliberal geprägten Weltmarkt entscheidend reduziert werden. Genau hier liegen letzten Endes die Gründe für die diplomatischen und militärischen Interventionen des Westens. Man fürchtet, den bisherigen Einfluss in der Region zu verlieren. Wenn aber in Ägypten nicht nur der Präsidenten-Clan, sondern auch Wirtschaftsführer, die für die vielen falschen Privatisierungen in den achtziger und neunziger Jahren verantwortlich sind, unter Anklage stehen, dann ist das mehr als ein Indiz dafür, dass die aufständischen Bewegungen begriffen haben: Die Demokratie allein wird uns nicht helfen.
Realiter hat der Westen kaum Chancen, seinen Einfluss noch einmal zu vergrößern. Er kämpft vielmehr darum, so wenig Einfluss wie möglich zu verlieren. Das ist der Grund, warum in den vergangenen Monaten auch für die Palästinenser die Möglichkeit entstanden ist, von einem veränderten regionalen Kontext zu profitieren. Nicht nur die ägyptische Politik hat sich in der Palästina-Frage bereits bewegt. US-Präsident Obama wie auch viele EU-Politiker erhöhen den Druck auf Israel, einen unabhängigen Palästinenser-Staat zu akzeptieren.
Was Libyen betrifft, wird immer wieder gewarnt: Die NATO darf dort nicht siegen. Nein, das soll sie tatsächlich nicht. Nur darf uns der Protest gegen die Militärintervention ebenso wenig daran hindern, das Streben der Libyer nach mehr Demokratie zu verstehen. Denn man muss sich keineswegs mit allem identifizieren, was in revolutionären Prozessen vor sich geht, um sie trotzdem zu unterstützen.
Aus dem Jemen meldet AP:
Mindestens 40 Menschen sind bei Kämpfen zwischen Extremisten und Regierungstruppen am Samstag im Süden des Jemen ums Leben gekommen. Nach Angaben des Verteidigungsministeriums kamen bei den Gefechten in der Nähe der Städte Lawdar und Sindschibar 21 Al-Kaida-Kämpfer und 19 Angehörige der Sicherheitskräfte ums Leben.
Angeführt wurden die Einheiten der Regierungstruppen nach Angaben lokaler Verwaltungsmitarbeiter von dem Kommandeur Faisal Ragab, der sich gemeinsam mit weiteren führenden Personen innerhalb der Streitkräfte im März dem Aufstand gegen Präsident Ali Abdullah Saleh angeschlossen hatte.
Aus dem Iran meldet dpa:
Zwei Jahre nach dem umstrittenen Wahlsieg von Präsident Mahmud Ahmadinedschad ist es in der iranischen Hauptstadt Teheran zu Zusammenstößen zwischen Sicherheitskräften und Demonstranten gekommen. Kurz zuvor war ein seit der Wiederwahl Ahmadinedschads inhaftierter Dissident nach einem Hungerstreik gestorben.
Die Opposition hatte zum zweiten Jahrestag der Wiederwahl Ahmadinedschads am Sonntag zum „stillen Protest“ aufgerufen. Laut Oppositions-Websites folgte eine große Menge dem Appell. Gleichzeitig seien zahlreiche Polizisten und Sicherheitskräfte aufmarschiert. Bei den Kundgebungen sollen mehrere Demonstranten festgenommen worden sein. Augenzeugen berichteten, Angehörige der berüchtigten Basidsch-Milizen seien mit Stöcken bewaffnet gewesen.
Unterdessen starb ein seit der Wiederwahl Ahmadinedschads inhaftierter Dissident nach einem Hungerstreik. Der Journalist Resa Hoda Saber habe einen Herzinfarkt erlitten, berichtete die iranische Agentur ISNA. Der 54-Jährige hatte seinen Hungerstreik vor zehn Tagen im Evin-Gefängis von Teheran begonnen, um gegen den ungeklärten Tod der Dissidentin Haleh Sahabi zu protestieren. Sie war Anfang Juni bei der Beerdigung ihres Vaters, des Oppositionellen Esatollah Sahabi, ums Leben gekommen. In Oppositionskreisen hieß es, sie sei von Polizisten geschlagen worden.
Aus Europa kommen folgende Nachrichten:
Madrid: Gregorio mit seinem Besen auf der Madrider Puerta del Sol war ein beliebtes Motiv für die Fotografen. Jeden Tag kehrte er den Platz, auf dem seit Wochen Tausende zumeist junge Spanier täglich protestierten. Jetzt hat er den Platz an die Stadtreinigung übergeben – besenrein. Die Protestbewegung hat den symbolträchtigen Ort in der Nacht zum Montag geräumt. Bis auf einen Infostand hat sie ihre Zelte abgebaut. Die nach dem Datum ihrer spontanen Geburt, dem 15. Mai, benannte Bewegung 15M will jedoch weitermachen.
„Wir fangen jetzt erst richtig an“, sagt der 23-jährige Alejandro. Der Musikstudent hat die vergangenen vier Wochen im Zelt auf der Puerta del Sol geschlafen. Als am 15. Mai in ganz Spanien über 100.000 Menschen einem Protestaufruf folgten, brach für den jungen Pianisten eine neue Zeit an. „Ich war frustriert, unzufrieden und sah auf einmal, dass es nicht nur mir so ging“, erzählt Alejandro am Treppenabgang zur Metro-Station, die normalerweise „Sol“ heißt und die die Protestierenden in „soluciones“ umbenannt haben. Aus dem „Sonnenplatz“ haben sie den „Platz der Lösungen“ gemacht. (epd)
Stuttgart: Dort wollen die Bürger ihre Proteste gegen den weiteren Abriß des Hauptbahnhofs wieder aufnehmen. (taz)
BRD: „Für deutsche Verhältnisse hat es am Donnerstag eine außergewöhnliche Häufung von Streiks in unterschiedlichen Branchen gegeben – vom Einzelhandel bis zu den Privatbahnen und Zeitungsverlagen.“ (Junge Welt)
Griechenland: Die Nachrichtenagenturen berichten keine einzige Zeile über die Proteste und Streiks der Griechen, stattdessen bringen sie hundert Meldungen über die Griechen als Objekt – der EU-Politiker, der Banken und Ratingagenturen und anderer Wichtigtuer.
Warschau und Split: Starker Polizeischutz und Chaos bei Schwulen- Demos in Polen und Kroatien: Während eine Kundgebung von Schwulen und Lesben in der polnischen Hauptstadt Warschau am Samstag friedlich verlief, endete eine Homosexuellen-Parade in der kroatischen Hafenstadt Split mit Krawallen. Schwulenverbände kritisieren seit langem, auf dem Balkan gebe es wenig Toleranz für Homosexuelle.
Rund 10 000 Menschen attackierten die rund 300 Teilnehmer des ersten öffentlichen Schwulenumzuges in der größten Hafenstadt Kroatiens mit Steinen, Feuerwerkskörpern, Eiern, Gläsern und Flaschen. „Bringt die Homos um!“, rief die aufgebrachte Menge immer wieder. Die Polizei nahm etwa 300 Randalierer fest. Fünf Personen wurden bei den Zusammenstößen verletzt.
In Warschau demonstrierten rund 3000 Menschen für mehr Rechte für Schwule und Lesben. Die teils bunt gekleideten Teilnehmer der „Parade der Gleichheit“ zogen am Samstagnachmittag mit Trillerpfeifen durch die polnische Hauptstadt. Auch mehrere linke und sozialdemokratische Politiker marschierten mit. Sie forderten die rechtliche Anerkennung der gleichgeschlechtlichen Partnerschaften, Verbesserungen beim Steuer- und Erbschaftsrecht sowie eine wirksamere Bekämpfung der Übergriffe gegen Homosexuelle.
Mitglieder rechtsnationaler Organisationen hatten die Demonstranten in Warschau vor dem Start der Parade beschimpft und mit Knallkörpern beworfen. Starke Polizeikräfte trennten beide Gruppen. Danach habe es keine Zwischenfälle gegeben, sagte ein Polizeisprecher.