Tage des Zorns in Libyen. Photo: de.rian.ru
„Nein, was uns fehlt, ist das innerliche Prinzip, die Seele der Sache, die Idee des Sujets. Wir machen Notizen, wir machen Reisen; Elend, Elend! Wir werden Gelehrte, Archäologen, Historiker, Mediziner, Schuhflicker und Leute von Geschmack. Was ändert das alles daran? Aber das Herz, der Schwung, der Saft? Von wo aufbrechen, und wohin gehen?“
So resümierte Gustave Flaubert seine Orient-Reisen und -Arbeiten, hier zitiert nach Edward Said: „Orientalismus“. Zwar geben sich inzwischen eine Reihe von Zeitungen Mühe mit der Berichterstattung – und treiben auch immer mehr arabische „Stimmen“ dazu auf, aber dort – „im Orient“ – ist man schon wieder weiter:
„Die Revolution gibt uns Gelegenheit zu träumen,“ meint ein tunesischer Aktivist – der mit anderen derzeit darüber streitet, ob sie vorbei ist oder erst richtig losgeht. Einige mischen bereits in der neuen Regierung mit, die JW schreibt – in einem langen Text über „Revolution und Realpolitik“ in Tunesien – „Was tun?“ überschrieben: „Die Übergangsregierung weiß ganz genau, dass alles, was als ‚Verrat an der Revolution‘ wahrgenommen wird, zu neuen massiven Protesten führt.“
„Hier spricht die Revolution“ – so ist das heutige Dossier der taz über die arabischen Aufstände überschrieben. Die Artikelserie beginnt mit einem kleinen Text von Hashim Omar, Redakteur der oppositionellen Tageszeitung „Al-Masry Al-Youm“, über die Unwissenheit und Ignoranz des Westens gegenüber Ägypten:
Die ägyptische Revolution hat bewiesen, dass der Westen nicht viel über Ägypten weiß, dass er nicht besonders gut im Umgang mit dem ägyptischen Volk ist und mit seinem Festhalten am Regime Mubarak auf das falsche Pferd gesetzt hat. Wir kennen die Vorgeschichte. Der Westen sah zu, wie Ägypter von Kugeln getötet wurden, ohne dazu ernsthaft Stellung zu beziehen. Der Aufschrei, der sonst schon bei geringfügigeren Anlässen durch die Welt geht, blieb aus. Glaubt ihr, dass wir diese Doppelzüngigkeit nicht spüren? Denkt an Frankreich – Heimat der Menschenrechte -, das bis zuletzt Ben Ali unterstützt hat und sich erst gegen ihn wandte, als klar wurde, dass Frankreich seine Interessen in Tunesien verlieren würde. Wir erwarten, dass ihr mit dieser Doppelzüngigkeit aufhört. Denn die ägyptische Revolution hat die Vogelscheuche verjagt, die das ägyptische Regime aufgestellt hatte, um seine Tyrannei zu rechtfertigen. Immer hieß es, nur Mubarak könne verhindern, dass die Extremisten die Macht ergreifen und Christen verfolgt werden.
Doch während der aktuellen Ereignisse fand kein Angriff auf einen Christen oder auf eine Kirche statt. Stattdessen wurde der Innenminister des Mubarak-Regimes beschuldigt, bei dem Bombenanschlag auf die Kirche von Alexandria letztes Jahr zu Weihnachten die Hände im Spiel gehabt zu haben – worauf die Muslime in allen Teilen der Republik spontan besondere Schutztrupps für die Kirchen bildeten. Ihr solltet auch verstehen, dass es keineswegs der ägyptischen Mentalität entspricht, Extremisten die Macht zu überlassen, von denen es in Ägypten ohnehin nur sehr wenige gibt. Die Muslimbruderschaft gehört nicht dazu, sie ist eine gemäßigte Kraft. Um die Freundschaft der Ägypter und Araber zu gewinnen, muss der Westen auch klar Position zu den israelischen Angriffen beziehen. Wenn ihr über ägyptische Angelegenheiten redet, dann müsst ihr mit den Ägyptern auf eine kluge Art und Weise sprechen, denn sie reagieren extrem empfindlich, wenn man sich in ihre inneren Angelegenheiten einmischt oder Druck von außen auf sie ausüben will.
(Übersetzt wurde dieser Text von Achmed Khammas, der lange Zeit in Damaskus lebte, wo er u.a. die Energiegewinnungstheorie eines Wasserträgers ausarbeitete, während seine Freundin Unterwassergeburten in der Wüste propagierte.)
Tage des Zorns in Algerien. Photo: wiwo.de
Deniz Yücel interviewte Mona Seif, eine junge Krebsforscherin der Uni Kairo. Die Bloggerin war aktiv am Aufstand beteiligt:
taz: Frau Seif, Sie waren 18 Tage lang auf dem Tahrir-Platz – was haben Sie da gemacht?
Mona Seif: Ich habe wie jeder normale Demonstrant Parolen gerufen und geholfen, die alltäglichen Dinge zu organisieren. Als das Internet abgestellt wurde, übernahm ich mit Freunden die Aufgabe, tagsüber Videos zu drehen und Zitate zu sammeln und diese abends in die benachbarte Wohnung eines Freundes zu bringen, der noch Internetzugang hatte. Von dort aus haben wir Material vom Tahrir-Platz und Material, das wir von Freunden aus Alexandria bekamen, in die Welt gesendet. Das war eine Art Social-Network-Informations-Hub. Wie organisiert man unter solchen Umständen die alltäglichen Dinge? Zum einen brachten uns Unterstützer Essen, Wasser und Medizin. Zum anderen sammelten wir Geld, und ein paar Leute zogen los, um die notwendigen Sachen einzukaufen und reinzuschmuggeln. Am Anfang war das schwierig, denn die Polizei und die Schläger versuchten die Versorgung zu unterbinden. Durch sie haben wir viel Essen und Medizin verloren. Wie behält man den Überblick, wie viel wovon gebraucht wird? Vieles passierte spontan, anderes nicht. Gerade die Versorgung mit Decken oder Zelten übernahmen Aktivisten, die Erfahrung damit hatten, große Mengen unter vielen Menschen zu verteilen.
Wie haben Sie die Verteidigung des Platzes bei den Attacken am 2. Februar organisiert?
Auch das geschah eher spontan, glaube ich. Die Leute verteilten sich auf alle Straßen, die zum Tahrir führen, und formten Verteidigungslinien. Am Ägyptischen Museum, wo die Hauptfront der Schlägertrupps war, gab es mehrere Verteidigungslinien. Und wenn irgendwo Verstärkung gebraucht wurde, wurde das mit Lautsprechern durchgegeben. Am Museum wurde auch ein Feldlazarett eingerichtet, um den Leuten Erste Hilfe zu leisten, die nicht warten konnten, in unser besser ausgestattetes Lazarett gebracht zu werden, das in einer Seitenstraße lag.
Stimmt es, dass Ultras den Platz mit verteidigt haben?
Ja, Ultras von den beiden Kairoer Fußballclubs Ahly und Zamalek waren dabei – aber nicht nur bei der Verteidigung des Platzes, sondern in der ganzen Bewegung.
Was war Ihre wichtigste Erfahrung?
Genau dieser 2. Februar, der blutige Mittwoch. Das war der intensivste Moment. Es war auch das erste Mal, dass ich sah, wie weit die Menschen gehen würden. Ab da wusste ich, dass wir den Kampf gewinnen würden. Einige Leute sprechen von der „Republik des Tahrir“.
Sie auch?
Diejenigen, die Tag für Tag dort waren, haben ein anderes Ägypten gesehen. Mit tausenden von Menschen zu leben, mit den unterschiedlichsten Hintergründen und mit allen religiösen Richtungen, glücklich zu sein und zueinander zu gehören. Es war eine ausdauernde Gemeinschaft, in der die normalen Probleme von den Straßen Ägyptens nicht existierten: keine sexuellen Belästigungen, keine Diskriminierung wegen der Religion. Wir waren alle verbunden durch einen Grund. Und nur das zählte. Was wird aus dieser Erfahrung? Es ist jetzt jedem von uns überlassen, die Werte des Tahrir zu verbreiten. Das bedeutet Arbeit. Aber das ist es wert.
Tage des Zorns im Jemen. Photo: fireballs-land.de
Beate Seel interviewte einen anderen Organisator vom Tahrir-Platz: den Ingenieur und Gründer der „Jugendbewegung 6.April“ Ahmed Maher:
taz: Herr Maher, Sie sind einer der Gründer der „Jugendbewegung 6. April“, die über Facebook zu einer Demonstration am 25. Januar aufgerufen hat. Nach 18 Tagen ist Präsident Husni Mubarak zurückgetreten. Haben Sie ihre Ziele erreicht?
Ahmed Maher: Wir haben es noch nicht erreicht, sind aber auf dem Weg dahin. Wir räumen die Straßen auf und sagen den Leuten, wie sie dafür sorgen können, dass ihr Land „sauber“ bleibt. Wir versuchen, die Menschen zu motivieren, und geben ihnen Anregungen, wie sie ihr Land verändern können. Wir wollen auch die Mentalität junger Leute verändern und sie dazu bewegen, sich am politischen Leben zu beteiligen. Das ist unser Ziel. Wir klären die Leute außerdem über unsere Bewegung auf. Wie werden Sie sich jetzt organisieren, nachdem die Demonstrationen vorbei sind? Wir haben keinen Anführer. Alle von uns versuchen, ihr eigenes Umfeld zu organisieren. Jeder ist sein eigener innerer Anführer und versucht, die Ziele zu verbreiten.
Nun hat der Oberste Militärrat die Macht übernommen, aber das Militär ist Teil des alten Systems. Ist es die richtige Institution, um den Übergang zur Demokratie zu organisieren?
Nein, das ist nicht unser Problem. Unser Problem ist, dass das Militär versucht, nach der Art des alten Systems vorzugehen, während sich unsere Bewegung sehr schnell weiterentwickelt hat. Wir wollen, daß die Armee unsere Bewegung unterstützt, damit der richtige Weg in Richtung eines schnellen friedlichen Übergangs und sozialer Gerechtigkeit eingeschlagen wird. Der Militärrat hat sich am Sonntag mit Aktivisten vom Tahrir-Platz getroffen. Einige haben sich hinterher sehr angetan geäußert.
Sie waren nicht dabei. Was aber halten Sie von diesem Treffen?
Jeder hat seine eigene Meinung und ich respektiere sie. Die Leute auf dem Tahrir-Platz haben sich sehr gut selbst organisiert. Hatten Sie dafür Vorbilder?
Wir haben uns um die Verpflegung und um die Sicherheit auf dem Platz gekümmert. All das sind Beispiele und Vorbilder. Wir haben uns an keiner Organisation orientiert.
Auf dem Tahrir-Platz gab es keine organisierte Führung der Demonstranten. Halten Sie das heute für ein Problem, nachdem Mubarak weg ist?
Meiner Meinung nach ist es kein Problem, keine Führung zu haben. Im Gegenteil, es ist eine gute Sache. Wenn wir einen Anführer hätten, hätten wir eher ein Problem bekommen, schätze ich. Er hätte seine Meinung, und wir unsere. Wir haben keinen Anführer, wir gehen von uns selbst aus, und das ist das Richtig.
Es gibt Berichte über die Gründung einer „Jugendkoalition“. Andere wiederum berichten von einem „Komitee zur Verteidigung der Revolution“. Worum geht es dabei?
Dabei geht es um die Belange der Jugend, darum, unsere Zukunft zu gestalten und das Land in Bewegung zu bringen.
Steht der 6. April mit anderen Organisationen weiterhin in Kontakt?
Ja, beispielsweise mit der Gruppe „Justiz und Freiheit“ oder der „Nationalen Vereinigung für den Wechsel“ von Mohammed al-Baradei.
Für Freitag rufen Sie zu einer weiteren Demonstration auf. Warum?
Wir wollen am Freitag unseren Sieg feiern. Sie haben doch am 11. Februar schon gefeiert. Wir feiern, aber wir werden auch die Militärführung unter Druck setzen, im Sinne der Bewegung zu handeln und den richtigen Weg einzuschlagen.
Tage des Zorns im Iran. Photo: iranische-frauenbewegung.blogspot.com
Die ägyptische Englischdozentin und Oppositionelle Shereen Abou el-Naga schreibt, warum die Geschlechtersensibilität jetzt Priorität haben muß und die alten Rollen nicht fortgeschrieben werden dürfen. Ihr Text wurde aus dem Englischen von Dominic Johnson übersetzt:
Die wichtigste Parole in den 18 Tagen Protest lautete „Eine Hand“ – eine wörtliche Übersetzung aus dem Arabischen, die sinngemäß „Wir sind alle vereint“ heißen soll. Von Anfang an war es den Protestierenden klar, dass Dissens und Diskriminierung zwei mächtige destruktive Waffen gewesen sind, um die Gesellschaft zu untergraben. Nun, die Parole funktionierte wunderbar und spontan. Es schlossen sich nicht nur Orthodoxe, Katholiken und Anglikaner an, sondern auch Frauen, junge und alte, verschleierte und unverschleierte, Musliminnen und Christinnen, Arbeiterinnen und Hausfrauen. Sie saßen nebeneinander in einem Geist der Freundschaft, der völligen Akzeptanz, nicht nur der Toleranz, und der geistigen und materiellen Großzügigkeit. Bis zum 11. Februar gewann jeder Protestierende auf dem Tahrir eine große Zahl Freunde. Man mag sich fragen, was die Frauen die 18 Tage lang eigentlich gemacht haben. Erstaunlicherweise gab es nichts Frauenspezifisches. Ab dem „Freitag des Abgangs“, dem 28. Januar, waren sie draußen, erlitten Tränengas, Schläge und führten zuweilen die Gesänge an – wobei niemand an diesem Tag viel Atem zum Singen übrig hatte. Sie schliefen auf dem Tahrir neben den Männern, nicht alle hatten den Luxus eines kleinen Zeltes, zwei Decken waren genug. Logischerweise hätte es getrennte Räume von Frauen und Männer geben müssen, dies war nicht der Fall. Die Leute schliefen durcheinander und bis zum Ende gab es keine einzige der zuvor gemeldeten sexuellen Belästigungen.
Es muss betont werden, dass die völlige Abwesenheit solcher Vorfälle während der Demonstrationen die Verantwortung der Polizisten für solch schändliches Benehmen in der Vergangenheit belegt. Als die „bezahlten“ Schläger am 2. und 3. Februar die Protestierenden angriffen und einschüchterten, wurden die Frauen so hart geschlagen wie die Männer. Eine, Sally Zahran, wurde totgeschlagen. Auf den Frauen lag eine zusätzliche Bürde, weil sie Frauen waren. Während sie Schläge einsteckten, wurden sie oft von Schlägern noch sexuell belästigt. Es gab zwei Räume: den des Tahrir-Platzes, wo es eine Kultur der Gleichheit gab, und einen draußen, wo sexuelle Ungleichheit herrschte, die das Verhalten der Schläger und Sicherheitskräfte bestimmte. Von daher war es nicht nötig, die Anwesenheit einer Frauenbewegung auf dem Platz hervorzuheben. Das Bedürfnis dazu verschwand ganz von allein. Als erste Schlussfolgerung lässt sich feststellen, dass ein ehrliches Gefühl der Solidarität und ein einheitliches Ziel der Demokratie unweigerlich jede kulturelle Rollenteilung und Stereotypen abschaffen. Ich wage zu sagen, dass wir uns selbst überraschten.
Der Weg ist noch lang und steinig. Die Parole „Das Regime soll gehen“ hat sich noch nicht vollständig erfüllt. Das Regime setzte eine patriarchalische Kultur durch, die die Frauen einschränkte und ihr Potenzial erstickte. Um sich einen Platz in der Zukunft der Revolution zu sichern, sollten sich alle Beteiligten darauf besinnen, was wirklich geschah.Das wichtigste Feld ist das der Medien, besonders das Fernsehen. Es ist sehr enttäuschend, dass alle Programme die alte Politik weiterführen und wie früher Prominente interviewen – außer dass diese jetzt zur Opposition gehören. In den meisten Komitees, die in den letzten Tagen gebildet wurden, gibt es auffallend wenige Frauen. Die Hauptforderung wurde offenbar nicht wirklich verstanden.
In diesen Zeiten ist das Politische kulturell, und diese ideologische Überzeugung muss obenan stehen, sonst werden die Errungenschaften der Revolution untergraben. Das Politische ist auch persönlich – eine Parole der siebziger Jahre -, und die Familienpolitik sollte im Sinne der Gleichheit reformiert werden. Geschlechtersensibilität ist ein Eckpfeiler der Zukunft. Es wäre ein fataler Fehler, die alte Politik zu wiederholen, Geschlechterfragen hintanzustellen und zu behaupten, jetzt habe die Sache der Nation Vorrang. „Eine Hand“ ist die Parole, und sie bezieht sich auf alles: Politik, Gesellschaft und Kultur.
Abdel Monem Abopu el-Fetouh, einer der Führer der ägyptischen Muslimbruderschaft, wurde von Deniz Yücel interviewt:
taz: Herr el-Fetouh, haben Sie sich an den Protesten beteiligt?
Abdel Monem Abou el-Fetouh: Natürlich.
Diese Revolution ist die aller Ägypterinnen und Ägypter, besonders der jungen. Waren Sie von Anfang an dabei?
Unsere jüngeren Brüder und Schwestern waren von Anfang an dabei. Wir Führer haben uns, wie die Führer anderer Organisationen, erst später angeschlossen. … und dann mit Linken, Liberalen und Christen demonstriert. Wir Muslimbrüder arbeiten seit den Siebzigern mit verschiedenen politischen Strömungen zusammen. Denn alle Ägypter leiden unter den gleichen Problemen: Korruption und Unterdrückung. Und wir alle haben das gleiche Verlangen nach Frieden, Gerechtigkeit und Fortschritt.
Meinen Sie damit das Gleiche wie die Linken und Liberalen?
Wir Muslimbrüder sind für einen demokratischen, gemäßigten und unabhängigen Staat, der die Einheit aller Ägypter berücksichtigt.
Welche Rolle soll die Religion in diesem Staat spielen?
Wir sind gegen einen religiösen Staat. Aber auch ein ziviler Staat sollte die Geografie und die Geschichte dieses Landes respektieren. Die Ägypter sind seit 7.000 Jahren sehr religiöse Menschen. Alle Ägypter, ob Kopten oder Muslime, tragen die Religion in ihren Zellen. Auch die Türkei ist ein ziviler Staat, und die AKP ist eine zivile Partei. Aber sie respektiert die religiösen Werte aller.
Dort gibt es aber keine Bestimmung wie Artikel 2 der ägyptischen Verfassung, der die Scharia als wichtigste Quelle des Rechts definiert. Wollen Sie diesen Artikel ändern?
Das Schlimme an der ägyptischen Verfassung ist das Fehlen von Demokratie, Freiheit und Gerechtigkeit. Sie gibt dem Präsidenten zu viel Macht. Da wollen wir vieles ändern. Der Rest der Verfassung aber ist sehr gut, und wir akzeptieren sie.
Es bleibt also bei der Scharia?
Scharia meint nicht Hände abhacken. Sie in Europa sollten Ihre Vorstellungen von der Scharia an den gemäßigten Muslimen ausrichten, nicht an den Extremisten. Denn im Verständnis der Muslimbruderschaft meint Scharia Freiheit, Gerechtigkeit und Entwicklung, wie es unser Prophet Mohammed gepredigt hat. Ja, es sind in der Scharia auch Strafen vorgesehen. Aber das Strafrecht sollte vom Parlament beschlossen und von der Mehrheit der Bevölkerung akzeptiert werden.
Sollten Alkohol oder Sex zwischen unverheirateten Menschen erlaubt sein?
Kein Gesetz sollte die individuelle Freiheit eines ägyptischen Staatsbürgers – ob Mann oder Frau – einschränken. Wenn jemand Alkohol trinken will, ist das seine Sache. In Saudi-Arabien ist es Frauen untersagt, das Haus allein zu verlassen. In Frankreich es ist ihnen verboten, ein Kopftuch zu tragen. Beides ist nicht richtig, beides verstößt gegen ihre Freiheiten. Und es ist etwas anderes, ob man Frauen dazu rät, ein Kopftuch zu tragen, oder ob man sie dazu zwingt.
Welche Außenpolitik soll Ägypten in Zukunft verfolgen, zum Beispiel im Hinblick auf Israel?
Wir sollten – auf Grundlage unserer eigenen Interessen – gute Beziehungen zu der internationalen Gemeinschaft pflegen. Bei internationalen Beziehungen ist Einvernehmen anzustreben. Und der Islam wie das internationale Recht sehen vor, dass Abkommen respektiert werden. Aber Abkommen können verändert oder gekündigt werden. Darüber muss ein frei gewähltes Parlamente entscheiden.
Welche Abkommen wollen Sie ändern?
Den Friedensvertrag mit Israel von 1978? Wir Muslimbrüder sind nur eine Gruppe von Ägyptern. Es geht nicht darum, was wir wollen, sondern was die Mehrheit der Ägypter will. Wir müssen akzeptieren, was diese Mehrheit fordert oder ablehnt, auch wenn dies unseren Ideen widerspricht.
Und welche sind nun Ihre außenpolitischen Ideen?
Wir brauchen eine unabhängige Außenpolitik, die unseren Interessen entspricht, nicht dem Interesse Amerikas oder anderer.
Der ägyptische Architekt Mamdouh Habashi erklärt, warum sein Land eine „Vollversammlung braucht, die alle Kräfte einbindet“:
So etwas wie die Revolution in Ägypten (und zuvor in Tunesien) hat es bislang nicht gegeben. Vernetzt über das Internet, aber ohne politische Führung haben es die Ägypterinnen und Ägypter geschafft, mit friedlichen Mitteln und einem hohen Maß an Einigkeit einen Despoten wie Husni Mubarak zu stürzen. Aber ist es wirklich schon eine Revolution? Der Definition nach nicht. Die Forderungen des Aufstands sind noch nicht erfüllt, die gesellschaftlichen Strukturen noch unverändert. Aber wir genießen gern die Kraft dieses Wortes: Revolution. Und wir brauchen dieses Wort, damit die Leute spüren, welch großen Schritt sie bereits gegangen sind und wie viel noch vor ihnen liegt. Alle wollen die Diktatur überwinden; alle sprechen von einem zivilen Staat und meinen nicht nur einen nichtmilitaristischen, sondern auch einen nichtreligiösen Staat. Selbst die Muslimbrüder teilen im Moment diese Forderung. Aber sobald die Debatte über die neue Verfassung beginnt, wird es mit der Einigkeit vorbei sein. Was wird zum Beispiel aus dem 1971 eingeführten Artikel 2 der Verfassung, der besagt, dass Ägypten ein islamischer Staat und die Hauptquelle der Gesetzgebung die Scharia ist? Außerdem: Im Moment stimmen aller darin überein, dass sie soziale Gerechtigkeit wollen. Aber sobald wir darüber diskutieren, wie dieses Ziel in konkrete Politik umgesetzt werden kann, werden wir die Differenzen merken.
Denn natürlich gibt es auch bei uns Kräfte, die das Land mit einer neoliberalen Politik voranbringen wollen. Wir hingegen sind für Mindestlöhne und wollen, dass Güter wie Bildung, Gesundheitsversorgung, Transportmittel für die Masse erschwinglich bleiben. All das sind wichtige Fragen. Aber es sind dies die Fragen von morgen. Die von heute sind andere: Schon in den ersten Tagen wurde klar, was die größte Schwäche dieses Aufstands ist: das Fehlen einer richtigen Führung. Deswegen lautet mein Vorschlag, den auch andere – keineswegs nur linke – Oppositionelle teilen: Die künftigen Verhandlungen sollten über eine Mandatierung erfolgen. Das heißt, unsere Aufgabe ist es, eine Art Volksversammlung einzuberufen, die die jungen Cyberspace-Aktivisten von heute ebenso einschließt wie jene, die in den letzten 30, 40 Jahren Opposition gemacht haben. Damit sie von den Massen akzeptiert wird, müsste diese Versammlung alle Kräfte einbinden. Dann wäre sie auch dazu legitimiert, Einzelne zu beauftragen und zu sagen: Du gehst in unserem Namen in diese Verhandlungen und setzt die folgende Punkte durch.
Aus vielen Diskussionen mit den jungen Aktivisten weiß ich, dass das Bedürfnis nach einer Organisation besteht. Sie wissen: Die Revolution kann nicht nur Software bleiben, sie muss auf Hardware treffen. Natürlich wird dies eine neue Organisationsform sein – weder eine Organisation, die den Einzelnen knebelt, noch der lose Austausch übers Internet. Etwas dazwischen. Und dafür brauchen die Jungen uns Alte mit den weißen Haaren genauso wie wir sie brauchen.
Tage des Zorns in Jordanien. Photo: news.de.msn.com
Doris Akrap interviewte den bisher einzigen Wehrdienstverweigerer Ägyptens – den Zahnarzt Maikel Nabil Sanad:
taz: Herr Sanad, vertrauen Sie als Kriegsdienstverweigerer dem Versprechen des Militärs, den Übergang zu einer Demokratie zu gewährleisten?
Maikel Nabil Sanad: Das Militär hat in den letzten Tagen viele unserer Forderungen erfüllt und uns respektiert. Es gibt derzeit also für uns keinen Grund, gegen die Armee zu sein. Die Zukunft wird zeigen, ob es ein Freund ist.
Sie zweifeln daran?
Ja. Denn die Armee hat zwar nicht auf die Demonstranten geschossen, aber sie hat ab dem 31. Januar versucht, die Demonstrationen zu beenden, und Leute verhaftet. Auch ich wurde von Soldaten festgenommen, die mich in die Geheimdienstzentrale brachten, wo ich verprügelt und sexuell genötigt wurde. Außerdem hat das Militär die Mubarak-Unterstützer nicht davon abgehalten, die Demonstranten anzugreifen, aber Leute daran gehindert, Medikamente und Essen auf den Tahrir-Platz zu bringen. Man kann die Beziehung zwischen der Armee und den Demonstranten auf dem Tahrir-Platz also nicht gerade eine freundliche nennen.
Als bekannt wurde, dass Verteidigungsminister Hussein Mohammed Tantawi die Regierungsgeschäfte übernimmt, haben Sie in Ihrem Blog geschrieben: „Ich bin ein toter Mann.“ Haben Sie Angst vor Repressionen?
Ja, alle Aktivisten, die die Militärregierung ablehnen, sind in Gefahr. Aber ich stehe da wohl ziemlich weit oben, weil ich den Militärdienst verweigert habe. Ich war zwar nur einen Tag in Haft, aber schon am Tag nach meiner Entlassung wurde meinem Vater gekündigt. Meine Eltern erhalten ständig Anrufe von der Polizei und dem Geheimdienst. Wenn die Demonstration weitergehen, wird das schlimmer werden.
Werden die Leute denn weitermachen?
Ja, wir werden am Freitag wieder eine Demonstration organisieren, die Revolution geht immer noch weiter. Aber wir brauchen keinen Kampf mit der Armee, und viele Leute wollen der Armee eine Chance geben, bevor sie weiterdemonstrieren.
Was wird Ihre Gruppe „Nein zum Militärdienst“ jetzt tun?
Wir werden in den nächsten Monaten versuchen, den Druck auf die Armee zu verstärken, damit sie so schnell wie möglich in die Kasernen zurückgeht.
Sieht die Mehrheit der jungen Leute Ägyptens Zukunft ohne Militär?
Umringt von Iran, Israel, der Hisbollah und dem Sudan, wird die Abschaffung des ägyptischen Militärs in nächster Zukunft wohl kaum durchzusetzen sein. Aber die Mehrheit der Leute will, dass die Armee sich allein darum kümmert, die Einwohner des Landes zu beschützen.
Vor wem? Vor Israel?
Ich sage offen, auch auf meiner Homepage, dass ich ein proisraelischer Aktivist bin. Mubarak hingegen war nie ein Freund Israels, er hat Israel gebraucht, um an der Macht zu bleiben. Wie kann Mubarak ein Freund Israels sein, wenn sein Geheimdienst, der mich gefoltert hat, mir erklärte, meine Freunde und ich seien zionistische Agenten?
Wie kam Israels Unterstützung von Mubarak und Suleiman an?
Israels Unterstützung für diesen Diktator hat Leute wie mich wütend gemacht – und uns in eine schwierige Situation gebracht. Wir erzählen die ganze Zeit, dass Israel ein demokratisches und freundliches Land ist. Was sollen wir den Leuten jetzt sagen? Aber auch Israel wird das schaden. Wenn wir jetzt freie Wahlen haben, werden die Leute für antiisraelische Parteien votieren. Ein großes Problem.
Hat die Revolution Ihrer Meinung nach bereits die Gesellschaft verändert?
Revolutionen verändern Menschen. Es ist das erste Mal in meinem Leben, dass ich ungebildete Menschen auf der Straße sehe, die Demokratie und Menschenrechte fordern. Auf dem Tahrir-Platz gab es keine Trennung von Männern und Frauen. Die meisten Leute haben Dinge erlebt, die sie vorher noch nie erlebt hatten. Und das wird sie verändern.
Tage des Zorns in Stuttgart. Photo: bild.de
Auf Seite 1 machte sich der taz-Kairo-Korrespondent Karim El-Gawhary Gedanken über die „Ägyptischen Ungewissheiten“, d.h. darüber, wie es weiter geht. Er hat bisher quasi mit gebremstem Schaum berichtet, wahrscheinlich weil die Kürzung des Etats der taz-Auslandskorrespondenten, gegen die er sich besonders vehement gewehrt hatte (sogar mit einem extra dafür angefertigten Videoclip) ihn bis heute ausbremst.
Auf der fünften Seite des taz-Revolutions-Dossiers fragt sich der britische Ägypter Khalid Abdalla, er ist Schauspieler, warum die englischen Regierungen so lange eine Komplizenschaft mit Mubarak eingegangen sind:
Ich musste es einfach tun. Nachdem ich von den Protesten erfahren hatte, hielt ich es in London nicht mehr aus, und es war eine Erleichterung, das Ticket zu kaufen und im ersten Flugzeug nach Kairo zu sitzen. Das war am Donnerstag, dem 27. Januar, am Tag vor der ersten ganz großen Demonstration. Noch als ich vom Flugzeug aus die Londoner Skyline betrachtete, wusste ich, dass sich meine Beziehung zu dieser Landschaft für immer verändern würde – genauso wie ich wusste, dass sich meine Beziehung zu Ägypten verändern würde.
Und so kam es auch: Mein Verantwortungsbewusstsein, mein Gefühl dafür, was dieses Land ist und sein sollte, alles hat sich verändert. Es ist ein historischer Moment, und es geht nicht nur darum, Zeuge zu sein, sondern darum, an dieser Entwicklung teilzuhaben. Und die ist noch nicht zu Ende. Das Regime war nicht nur Husni Mubarak, das Regime sind der Polizeistaat, die Notstandsgesetze, das korrupte Parlament, die korrupten Behörden. Mubaraks Rücktritt ist ein Zeichen, dass wir diesen Kampf gewinnen werden.
Als britischer Staatsbürger frage ich mich, warum unsere Regierungen über 30 Jahre lang eine Komplizenschaft mit Mubarak eingegangen sind. Die Antwort lautet natürlich: aus politischen und wirtschaftlichen Interessen. Die westlichen Regierungen unterstützten gewisse korrupte Diktatoren und hielten diesen Status quo für stabil. Das war er lange Zeit auch, aber es war eine Stabilität, die auf einer korrupten Basis aufgebaut war und deshalb nun zusammengebrochen ist. Eine demokratische Basis wird für viel mehr Stabilität sorgen. Dabei kann der Westen helfen. Aber wenn es darum geht, wie die künftige Regierung aussehen wird, sollte sich niemand von außen einmischen. Ratschläge sind willkommen, Druck ist es nicht.
Denn bis zur ägyptischen Revolution hielt man den Nahen Osten für eine Region, die nicht bereit sei für die Demokratie. Jetzt aber haben die ägyptischen Menschen ihre Stimme gefunden und gezeigt, dass sie der Demokratie würdig sind. Sie haben den Diskurs über Demokratie verändert – nicht nur in ihrem Land, sondern überall. Sie haben ihre Angst und die Apathie überwunden, das Gefühl, dass alles, was sie im Leben machen, wertlos ist. Schon am Tag nach der ersten großen Demonstration sind sie mit einer völlig anderen Vorstellung darüber aufgewacht, wer sie sind. Sie sind auf einmal Herr über ihre Zukunft. Und das ist ein Gefühl, das sie zuvor nicht kannten.
Auch ich fühle mich frei, ich bin optimistisch und stolz. Ich sehe all die Möglichkeiten, die vor uns liegen; die Chance, endlich teilzuhaben. Wenn ein Staat nicht zugänglich ist, wenn er keine Beziehung zu den Menschen aufbaut, sind die Möglichkeiten der Teilhabe gering. Und jetzt ist diese Möglichkeit riesengroß. Ich bin nicht naiv und sage, dass alles möglich ist. Aber das, was die Menschen wollen, wird auch passieren. Und wenn es etwas gibt, was die Menschen wollen, werden sie keine Angst mehr davor haben, es zu verwirklichen. (Protokoll: Rieke Havertz)
Tage des Zorns in Berlin. Photo: abendblatt.de
„Die Islamisten lehnen sie ab, den Westen kopieren wollen sie auch nicht, über das Militär sind sie uneins, doch ihre Hoffnungen sind groß,“ drei junge Ägypten erzählen, warum – moderiert von Frauke Böger:
taz: Salma, Ashraf, Sherif, habt ihr erwartet, dass die Proteste gegen Mubarak erfolgreich sein würden?
Sherif: Ich habe nie geglaubt, dass Demonstrationen in diesem Land etwas bringen. Wir haben 30 Jahre in einer Diktatur gelebt.
Salma: Du befürwortest doch eher Stabilität als Wandel.
Sherif: Ja, ich habe immer Stabilität bevorzugt, obwohl ich nicht glücklich war. Ich dachte immer, es wird sich etwas ändern, wenn Mubarak tot ist.
Ashraf: Da war ich anderer Meinung. All die Probleme Ägyptens hängen nicht allein an einer Person, sondern am System, dem alten Regime.
Salma: Genau.
Ashraf: Und dieses Regime ist immer noch an der Macht und der Kampf noch nicht vorbei.
Salma: So wie du, Sherif, hatten viele ihren Glauben verloren, das sie selbst etwas ändern können. Ein Sieg wie dieser gibt den Menschen Vertrauen, vor allem ein so hart erkämpfter, für den Hunderte starben.
Vertraut ihr den Militärs?
Ashraf: Ich nicht.
Sherif: Bisher traue ich ihnen, sie haben noch nichts getan, was mich zweifeln lassen würde.
Salma: Ashraf und ich trauen ihnen nicht, aber wir glauben auch nicht, dass sie die Macht übernehmen wollen.
Sherif: Ich bin mir sicher, dass sie das nicht wollen.
Ashraf: Wir zahlen jetzt den Preis dafür, dass wir keine Führung haben. Die Militärs sind Teil des Systems, und ihre Hände sind nicht rein. Viele der jetzigen Gouverneure waren zuvor Generäle und in Korruption verwickelt.
Sherif: Es ist komplizierter.
Was meinst du damit, Sherif?
Sherif: Nach dem 28. Januar hat die Armee nichts gegen das Volk unternommen.
Ashraf: Aber so hast du nicht gedacht, als das alles anfing, du hattest Angst, sie würden putschen.
Sherif: Ich hatte Angst, als die Ausgangssperre verhängt wurde. Aus Erfahrung wissen wir, dass das nicht gut ist. Aber dieses Mal haben sie zum Volk gehalten.
Ashraf: Aber Tantawi [der Verteidigungsminister; d. Red.] ist immer noch an der Macht.
Sherif: Er ist nicht allein.
Salma: Die Soldaten haben uns nur nicht angegriffen und versucht, halb neutral zu bleiben. Aber sie haben uns nicht beschützt.
Wollt ihr ein politisches System wie das in Westeuropa?
Salma: Nein.
Ashraf: Wir versuchen nicht, ein Modell zu kopieren.
Salma: Außenpolitisch gibt es da große Differenzen zu Westeuropa. Zum Beispiel die Palästinafrage und die Abkommen mit Israel. Da sind die meisten dagegen.
Sherif: Ich will keine islamische Regierung.
Salma: Niemand will das. Wie kommst du darauf?
Sherif: Ich sage nur, wovor ich Angst habe: dass eines Tages die Muslimbruderschaft an der Macht ist.
Salma: Aber sie haben selbst gesagt, sie wollen eine zivile Regierung.
Ashraf: Das Problem ist, dass die meisten liberalen Ägypter nicht an der Politik teilhaben.
Salma: Ein Argument der alten Regierung gegen Demokratie.
Sherif: Das stimmt nicht, Salma. Ich habe immer gedacht, dass die derzeitigen Parteien eine Rolle spielen müssen. Das haben sie bisher nicht, weil sie alle auf die ein oder andere Weise mit dem Regime verbunden sind. Alles, was ich will, ist ein ziviler Staat.
Salma: Da stimmen wir überein. Aber ich glaube, dass die Islamphobie, die propagiert wird, Propaganda ist, um Demokratie in Ägypten zu verhindern.
Ashraf: Die Islamphobie lässt die Leute denken, der Islam sei ein Angriffsziel und sie müssten für ihre Religion kämpfen. Und das schürt Wut und Rassismus.
Gibt es einen Common Sense in der Bevölkerung, wie eine neuen Verfassung aussehen kann?
Ashraf: Schwer zu sagen, wir hatten keine ordentlichen Wahlen oder Umfragen. Aber ich weiß, es gibt große Unterschiede zwischen dem, was man in Westeuropa, und dem, was man in Ländern wie Ägypten glaubt. Etwa was nichtreligiöse Ehen angeht.
Sherif: Das stimmt.
Ashraf: Das muss sich ändern, aber nicht durch Zwang.
Sherif: Aber religiöse Parteien sollten nicht zugelassen werden.
Salma: Das ist scheinheilig, warum solltest du selbst anerkannt werden, aber nicht sie? Sie müssen jede Form der Ehe akzeptieren – und wir müssen ihre Existenz akzeptieren.
Sherif: Ist irgendwer dazu bereit?
Salma: Ich schon. Und ich glaube, wir sind schon nah dran.
Ashraf: Ich muss dazu bereit sein, da ist keine Wahl. Wie sollte ich sonst von Demokratie sprechen können? Die Türkei ist ein gutes Beispiel. Die Armee dort schützt den zivilen Staat. So sollte es auch bei uns sein.
Muss eine politische Revolution mit einer Revolution der Gesellschaft einhergehen?
Ashraf: Ich glaube, die Menschen sind dabei, sich zu verändern. Aber das wird lange dauern.
Salma: Armut und Korruption haben die schlechtesten Seiten der Menschen hervorgebracht.
Sherif: Stimmt.
Ashraf: Und die Revolution die besten.
Salma: Ja. Auf dem Tahrir-Platz waren die Menschen anders. Kooperativ und tolerant.
Wird das anhalten?
Salma: Nein.
Ashraf: Nein, aber ich glaube, wenn sich das politische System ändert, werden sich auch die Menschen ändern.
Sherif: Das ist ein langer Prozess. Was den Staat angeht, müssen wir kurzfristiger denken. Er muss wieder laufen, als Staat des Volkes, nicht mit einem neuen Diktator.
Salma: Das Polizeisystem muss ein anderes werden.
Sherif: Das sollte in der Verfassung stehen.
Ashraf: Das Problem mit der Polizei ist, das sie an ihre Macht, die sie durch das Notstandsgesetz hat, gewohnt ist. Korrupt ist sie auch.
Was ist mit den Frauenrechten?
Ashraf: Das überlasse ich Salma.
Sherif: Ja, Salma.
Salma: Ich glaube, dass Frauen, wenn sie die Chance dazu haben, ihre Bedürfnisse aussprechen und sich von denen lösen werden, die sich „Frauenrechte-Organisation“ nennen und vom alten Regime gelenkt waren.
Ashraf: Ich glaube, gute Bildung und ein besserer Lebensstandard werden schon viel erreichen.
Salma: Als Frau und Aktivistin bin ich insbesondere von der Polizei bekämpft worden. Sie wollten mich mit sexueller Belästigung einschüchtern. So lange ist das nicht her.
War eure Rebellion auch eine gegen eure Eltern?
Sherif: Ich glaube schon. So wie ich das ich wahrnehme, will die ältere Generation vom Militär regiert werden.
Salma: Die Revolution wandte sich gegen den Glauben, dass wir selbst nichts tun können.
Ashraf: Aber das heißt nicht, dass da ein Kampf zwischen Generationen stattfand. Es ist eher eine Kontinuität.
Salma: Ja, sogar die Lieder, die wir gesungen haben, sind die unserer Eltern. Es ist wie ein alter Kampf, der gerade erst gewonnen wurde.
Anissa Noman ist skeptisch: der Jemen ist fragil, Fehden drohen, und Aktionismus allein hilft nicht. Kerstin Griessmeier protokollierte ihr Statement:
Ich lebe derzeit nicht in Sanaa, aber ich stehe in engem Kontakt zu meiner Heimat. Meine Landsleute protestieren gegen die Regierung, weil sie unter den jahrelang angestauten wirtschaftlichen Problemen leiden. Die Folgen des wirtschaftlichen Abstiegs bekommen wir alle deutlich zu spüren: Der Rial, unsere Währung, ist immer weniger wert, die Preise steigen ständig, vor allem für Nahrung und Medikamente. Die Masse der Bevölkerung kann die eigene Familie kaum über die Runden bringen und lebt im Durchschnitt von 3 Dollar am Tag!
Allerdings glaube ich, dass die Jemeniten am Zustand ihrer Wirtschaft nicht unschuldig sind, zum Beispiel, weil sie so viele Kathblätter konsumieren. Zum Klatschen braucht man bekanntlich zwei Hände, also müssen Regierung und Bevölkerung begreifen, dass sie die Wirtschaft des Landes nur gemeinsam voranbringen können.
Mein Gefühl sagt mir, dass die Regierung früher oder später aufgeben wird. Allerdings bezweifle ich stark, dass wir im Jemen erst eine funktionierende Übergangsregierung und dann die Demokratie bekommen werden. Der Jemen ist von den Stämmen geprägt – selbst wenn die Regierung zurücktritt, werden diese gegeneinander um die Macht kämpfen, so wie das in Somalia passiert ist. Das könnte zu einem Bürgerkrieg führen, schließlich sind hier die meisten Stämme schwer bewaffnet.
Ich finde, bevor wir gegen die Regierung aktiv werden, sollten wir klare Ziele und Pläne für die Zukunft haben. Aktionismus wird nur zu Blutvergießen führen und unser Land in eine Katastrophe stürzen, aus der wir vielleicht nicht mehr herausfinden werden.
Ich sehe uns in einem Dilemma: Wir brauchen Reformen, aber vorschnelle Reformen könnten uns ins Chaos stürzen, statt zum Fortschritt zu führen, vor allem dann, wenn diese weder transparent noch organisiert durchgeführt werden. Ich frage mich, ob wir Jemeniten es schaffen, diese Kriterien zu erfüllen und den derzeitigen politischen Jemen organisiert und transparent zu reformieren. Ich bezweifle es.
Tage des Zorns in Palästina. Photo: welt.de
Der algerische Journalist, Blogger und Aktivist Elias Filali beschreibt, wie der Wandel in seinem Land zu schaffen wäre, Deniz Yücel hat es protokolliert:
Die Revolutionen in Ägypten und Tunesien haben den Menschen in den arabischen Ländern die Hoffnung gegeben, dass sie die Dinge ändern können. Auch wir in Algerien wollen einen regime change. Vielleicht ist unser Präsident Abdelasis Bouteflika nicht so schlimm wie Mubarak oder Ben Ali. Aber er ist umgeben von korrupten Leuten. Das ganze System ist korrupt. Nicht einmal einen Arbeitsvertrag bekommt man, ohne jemanden zu bestechen. Hinzu kommt: Drei Viertel der Algerier sind unter 25 Jahren, die Regierung dagegen ist alt. Die meisten Mitglieder sind 65, 70 Jahre alt. Und sehr reich. Ein weiterer Unterschied ist: Wir haben einen furchtbaren Bürgerkrieg mit 200.000 Toten hinter uns. Die Menschen haben Angst und sind die Gewalt leid. Die Menschen wollen zwar einen Wandel, aber wir haben keine Opposition, die das herbeiführen könnte. Es gab in den letzten Jahren zwar immer wieder Aufstände, aber das alles war und blieb immer unorganisiert.
In Ägypten gab es zwar auch keine große Organisation, aber die Ägypter hatten das Internet. Sie sind diejenigen, die das Internet am meisten nutzen in der arabischen Welt. Hier sind viele sehr religiös, was ein großes Problem ist. Die Menschen sind nicht vernetzt, viele können nicht lesen und schreiben. Vielleicht beschränkt sich die Unterdrückung der Medien in Algerien deshalb auf das Fernsehen, während die Presse freier ist, als sie es in Ägypten oder Tunesien war. Algier war Wochen vor der Demonstration am Samstag von Polizisten abgeriegelt, hunderte Menschen wurden verhaftet. Wenn der Platz des 1. Mai frei zugänglich gewesen wäre, wären da Zehntausende gewesen, vielleicht Hunderttausende. Aber ich habe keine Angst. Sie sind diejenigen, die Angst haben sollten. Sie sind die Korrupten, die, die unser Land zerstören. Wir haben unsere Rechte, wir liegen nicht falsch, sie liegen falsch.
Wir Aktivisten haben unsere Angst verloren. Und die anderen verlieren sie langsam auch. Das merkt auch die Regierung und versucht, die Lage zu beschwichtigen. Die Preise für Grundnahrungsmittel wurden gesenkt, und der Präsident hat versprochen, den Notstand aufzuheben. Aber sobald das passiert ist, werden sich mehr und mehr Gruppen formieren und demonstrieren. Die Zivilgesellschaft wird aktiv werden. Das ist nur eine Frage der Zeit. Wir brauchen nur eine gute Führung. Auch die islamischen Parteien müssen sich modernisieren und toleranter werden. Algerien hat keine guten politischen Anführer, das ist das größte Problem.
Lina Ben Mhenni, laut taz die bekannteste Bloggerin Tunesiens (sie wird auf dem taz-Medienkongreß im April anwesend sein), schreibt über die Rolle der Medien in ihrem Land. Ihr Text wurde von Sabine Seifert aus dem Französischen übersetzt:
Am 14. Januar 2011, nach 23 Jahren der Unterdrückung, Verfolgung und des Unrechts, trat ein Diktator die Flucht an. Vor Freude kletterten die Tunesier auf die Dächer ihrer Häuser und stimmten die Nationalhymne an, obwohl die Armee den Ausnahmezustand verhängt hatte. „Wir sind frei, frei“, riefen sie. Aber stimmt das auch? Über die Zusammensetzung der Übergangsregierung gab es lange Diskussionen. Viele waren unzufrieden, weil sie mehrheitlich aus Parteigängern des entthronten Präsidenten bestand. Die Menschen aus den inneren Landesteilen wie Sidi Bouzid (wo alles angefangen hat) oder Kasserine, Regueb und Thala (wo es die meisten Toten gab) machten Sit-ins auf dem Regierungsplatz in Tunis. Die Bewohner von Tunis brachten ihnen Nahrungsmittel, Medikamente, Decken und Zelte. Unter dem öffentlichen Druck wurde die Übergangsregierung neu zusammengestellt, trotzdem waren manche unzufrieden, ihnen war der Wandel nicht radikal genug. Die ganze Zeit über versuchen wir jungen Leute etwas zu beobachten und zu verstehen, das nur ein unscharfes Bild ergibt. Man sieht einen großen Kuchen, den sich die Großen zu teilen versuchen, wobei sie vergessen, wer für ihre Freiheit gekämpft hat.
Uns ist klar, dass unser Land in großer Gefahr schwebt. Jeder versucht auf seine Weise zu helfen. Mit meinen Blogger-Freundinnen und -Freunden beobachten wir die Lage und melden sofort, wenn jemand versucht, diese neuen Freiheiten zu beeinträchtigen. Wir wissen, dass unsere Medien noch nicht wirklich frei oder befreit sind. Wir sammeln Zeugenaussagen der Leute, denen Unrecht oder Gewalt angetan wurde, und veröffentlichen sie in unseren Blogs, auf Facebook oder Twitter. Wir versuchen all die Leute anzuprangern, die vom alten Regime profitiert und jetzt die Seite gewechselt haben, um ihre Privilegien zu sichern. Wir kümmern uns jetzt darum, den unaufgeklärten Jugendlichen auf die Sprünge zu helfen. Sie sind Opfer des alten Regimes, das uns zu Idioten gemacht hat, die sich nur für Fußball und Clubnächte interessieren sollten. Die jungen Leute geben nicht auf. Sie haben ihren Mut unter Beweis gestellt und tun das auch weiterhin. Wir haben begriffen, dass die Revolution noch immer im Gang ist, dass wir weiterkämpfen müssen. Es stimmt, der Weg ist lang, aber wir haben die Geduld, die Energie und die Intelligenz, um unseren Traum von Freiheit und Demokratie zu verwirklichen.
Der syrische Aktivist Yasar Fattoom, heute in Rom lebend, schreibt über die Rolle des Internets in der Protestbewegung und berichtet, dass sie gerade dabei sind, eine „Tarnsoftware“ zu entwickeln:
Wie der Rest der Region erlebt Syrien durch die Ereignisse in Tunesien und Ägypten einen Schock. Und wie die anderen Diktaturen versucht auch die syrische zu verhindern, dass der Funke überspringt. Zugleich hat die Regierung die Blockade gegen Facebook und Youtube aufgehoben. Das hat allerdings auch einen Nachteil: Früher nutzten Syrer diese Seiten anonym. Jetzt weiß die Regierung genau, wer was auf diesen Seiten tut.
Proteste gibt es in Syrien nicht. Aber ich weiß von einer kleinen Gruppe, die aus Solidarität mit den Ägyptern zwei Sit-ins gemacht hat. Das erste Mal blieben sie eine Stunde lang sitzen. Als sie es zwei Tage darauf wieder versuchten, schlugen Geheimpolizisten auf sie ein. Die reguläre Polizei sah tatenlos zu.
Eine Situation wie in Ägypten oder Tunesien kann ich mir für Syrien leider nicht vorstellen. Denn dort stand das Militär auf der Seite der Menschen.
Die Syrer hingegen wissen: Die Armee wird von der Familie Assad kontrolliert. Falls sie das für notwendig hält, würde sie die Hälfte der Bevölkerung erschießen. Die Jugend in Tunesien und Ägypten wusste das Internet zu nutzen. In Syrien haben viele Leute schon Angst, ein paar Artikel online zu lesen.
Wenn Hafis al-Assad noch Präsident wäre, könnte ich mir eher vorstellen, dass etwas passiert. Aber Baschar al-Assad ist jung, und viele halten ihn für einen Helden, weil er keinen Frieden mit Israel geschlossen hat. Das Internet ist trotzdem wichtig. Die Aktivisten beziehen daraus ihre Informationen und kommunizieren über das Netz miteinander. Syrer sind bekannt dafür, die Netzzensur technisch zu umgehen. Gerade in diesen Tagen versuchen junge Leute, Tarnsoftware zu verbreiten, damit sich die Menschen trauen, online aktiv zu werden und auch auf die Straße zu gehen.
Aber das Internet in Syrien ist teuer, und man bekommt es nicht ohne Weiteres ins Haus. Und es ist langsam. Es wird hauptsächlich von jungen Leuten genutzt und von Angestellten in der Wirtschaft.
Bloggen ist nicht sehr verbreitet, es ist verboten, und die meisten Syrer wissen überhaupt nicht, was ein Blog ist. Viele haben zum ersten Mal davon gehört, als die 19-jährige Bloggerin Tal al-Mallouhi verhaftet wurde, die vor wenigen Tagen wegen Spionage für die USA zu fünf Jahren Haft verurteilt worden ist. Kluge Menschen wie sie machen dem Regime Angst. Sie sprach über Freiheit anstatt über Fußball. Das ist bei uns bislang noch ein Verbrechen.
Tage des Zorns in Bahrain. Photo: 20min.ch
„Die Zeit“ macht ihren Arabien-Schwerpunkt mit sieben Redakteurskommentaren auf: „Sieben gute Gründe, warum die arabischen Revolutionen die Welt verbessern können – von Kreuzberg bis Peking und Ramallah“. Die Überschrift lautet: „Fürchtet euch nicht!“
U.a. geht es dabei um die Rolle von „Facebook“ beim „Demokratiefähig“-Werden und die Funktion der arabischen Aufstände bei der Lösung des „Nahostkonflikts“. Ein schönes Nullwort: „Nahostkonflikt“. Im übrigen geht die Zeit-Redaktion davon aus, dass die „Umwälzung“ in der nächsten Zeit „auf immer neue Schauplätze übergreift“. „Schauplätze“ – das klingt nach Theatervorstellung oder Revolution im Fernsehen. Dabei geht es genaugenommen bei den arabischen, wie bei allen Aufständen, darum, dass die aus dem Theatralischen übernommene „Repräsentation“, d.h. die repräsentative Demokratie in diesem Fall, überwunden wird zugunsten einer direkten bzw. einer Basis- oder Räte-Demokratie.
Des weiteren beschäftigt sich der Zeit-Schwerpunkt mit der Rolle der ägyptischen „Volksarmee“ in der Gesellschaft. Sehr löblich ist ferner der Artikel über die tunesischen Bootsflüchtlinge auf Lampedusa: „Was heißt hier ‚Flut‘?“ Es sind dort erst wenige tausend Flüchtlinge angekommen – „aber Europa fühlt sich schon bedroht und überfordert.“ Ein weiterer Artikel thematisiert die Rolle und Funktion der Deutschen Stiftungen im ägyptischen Aufstand: Sie „sind Partner der Protestbewegung“. Wer’s glaubt wird seelig! Charlotte Wiedemann beschäftigt sich in einem langen Artikel mit den Protesten im Iran, die sie erneut „scheitern“ sieht.
Der „Freitag“ hat den langjährigen Direktor des deutschen Orient-Instituts Udo Steinbach über „arabische Massen, israelische Ängste und iranische Illusionen“ interviewt, sein Denken bewegt sich jedoch durchweg im bürgerlichen Politikrahmen. Im übrigen kommt in einem zweiten Artikel Uri Avnery zu Wort, der sich ebenfalls über das sich derzeit verändernde Kräfteverhältnis zwischen Israel und den arabischen Staaten Gedanken macht. Ein ganzseitiger Artikel befasst sich außerdem mit der Lage in Dubai, das sich langsam finanziell erholt, aber nie mehr ein „Millionärsspielplatz“ sein wird. Und ein halbseitiger Artikel thematisiert die Lage in Katar, dessen Botschafter in Berlin zu einem Journalistenempfang geladen hatte, auf dem es jedoch nur um die Wirtschaft und den Fußball ging. Schließlich beschäftigt sich ein weiterer Artikel noch mit dem Rapper Ramy Fool: „Die deutsche Stimme der ägyptischen Revolution“. Irgendein Journalist wird demnächst bestimmt auch noch den Aggro-Rapper Bushido interviewen – über die „tunesische Revolution“.
Die Süddeutsche Zeitung ist heute wieder sehr zurückhaltend – bei ihrer Begeisterung für den arabischen Aufstand: Ein Artikel befaßt sich mit der Rolle des ägyptischen Militärs, das in zehn Tagen die Verfassung „revolutionieren“ soll/muß/will. Ein weiterer Artikel diskutiert die seltsamen Versuche der Folterorgane – in der ägyptischen Armee und Polizei, sich zu wenden, d.h. fürderhin der Revolution und dem Volk zu dienen. Natürlich hat der Erfolg viele Väter, aber dass „Bushs Außenpolitiker jetzt Arabiens Revolution für sich reklamieren“, wie die SZ berichtet, ist schon ein starkes Stück. Daneben findet sich ein langer Artikel über die serbische Internet-Gruppe „Otpor, nunmehr Belgrader „Zentrum für gewaltlose Aktionen“, die von George Soros finanziert wurde und u.a. die Kairoer „Facebook“-Aktivisten schulte. In einem SZ-Artikel über den Aufstand gegen den König von Bahrain hebt der Autor auf den Konflikt zwischen der schiitischen Mehrheit und der sunnitischen herrschenden Klasse ab.
Über Libyen wird vermeldet, dass das dortige Regime „Waffen an treue Gefolgsleute austeilt“ – gegen die oppositionellen Kräfte. Im SZ-Feuilleton schließlich findet man eine euphorische Besprechung des Buches „Im Taxi“ von Khalid Al-Khamissi, das leider erst im März in den deutschen Buchhandel kommt. Auch darin geht es u.a. um die postkoloniale europäische Ignoranz gegenüber Arabern – und speziell Ägyptern.
Die „Jungle World“ widmet ebenfalls wie die taz mehr als fünf Seiten dem arabischen Aufstand: „Freie Fahrt für freie Bürger – Revolution in Ägypten“ betitelt.
„Das war erst der Anfang“ meint gleich der Autor des ersten Artikels. Im zweiten wird behauptet, dass nicht nur die „Facebook-Generation“ die Proteste organisiert hat, vor allem waren die „sozialen Netzwerke der Lohnabhängigen entscheidend für den Sturz Mubaraks“ – also die Gewerkschaften. Das meint auch mein Chavez-Verbindungsmann zur Partei „Die Linke“ – Francisco. Im 3. Artikel wird ein „Revolutionsvergleich“ zwischen den Aufständen in Tunesien und Ägypten angestellt. Der 4. Artikel befaßt sich mit den „zweifelhaften Freunden der Araber in den USA“ – also mit Obama, Clinton und wie diese Ami-Arschlöcher alle heißen. Im 4. Artikel befasst sich der Autor mit den Waffenlieferungen der BRD an das ägyptische Schweineregime – von Wasserwerfern über Maschinenpistolen bis zu U-Booten. Ja, wir haben hier noch viele Arschficker im eigenen Land, die es zu stürzen und zu verjagen gilt – bis wir mit den ägyptischen „Facebookern“ auf gleicher Augenhöhe diskutieren können.
Im 5. Artikel behauptet der Autor, dass die iranische oppositionelle Bewegung trotz der harten Repression „lebendig ist“. Der 6. und letzte Artikel in der „Jungle World“ schließlich befaßt sich mit der Frage: „Erleben wir im arabischen Raum gerade eine Zeitenwende, den Beginn einer neuen Epoche mit neuen weltpolitischen Konstellationen, so wie 1989?“ Der Autor beantwortet sie wie folgt: „Absolut ja, aber der arabische Aufstand ist dennoch nicht mit der Implosion des Ostblocks vergleichbar – und auch nicht mit der ‚iranischen Revolution‘ von 1979. Er wird etwas Neues hervorbringen.“ Der arabische Aufstand wurde von unten initiiert. Und die „Implosion“ des Ostblocks war ein lange geplantes KGB-Projekt, das nur geringfügig aus dem Ruder lief.
Tage des Zorns in Marokko. Photo: kurier.at
Die Nassauische Neue Presse meldet heute: „In Ägypten gärt es weiter – die Westernwelle reist nach Kairo.“ Der klappert nun sämtlich arabischen Aufstände ab und verschenkt dort Kugelschreiber mit der Deutschlandfahne drauf.
Die Nachrichtenagentur dpa sendete um 17 Uhr 2 einen Überblick über die arabischen Aufstände: „In Bahrain droht die Lage nach neuen Protesten außer Kontrolle zu geraten. Die Sicherheitskräfte haben eine friedliche Demonstration nach dem Muster der ägyptischen Proteste mit Gewalt beendet. Jetzt schaltet sich die Armee ein. Auch in Libyen herrscht Aufruhr. Bei Protesten gegen die Machthaber in der arabischen Welt fließt wieder Blut von Demonstranten. Nach schweren Zusammenstößen zwischen Protestierenden und der Polizei fuhren in der bahrainischen Hauptstadt Manama am Donnerstag Panzer auf. In Libyen folgten landesweit tausende Regimegegner dem Aufruf der Opposition zum „Tag des Zorns“. Bei Protesten gegen Staatschef Muammar al-Gaddafi starben binnen zwei Tagen mindestens elf Menschen, in Bahrain waren es fünf. Das Auswärtige Amt rät von nicht notwendigen Reisen in das arabische Königreich ab. Die Formel-1 ist alarmiert: ob in der bahrainischen Hauptstadt Manama wie geplant am 13. März die Formel-1-Saison starten kann, war ungewiss. In Ägypten rief die Demokratiebewegung zu einer neuen Großkundgebung auf dem Tahrir-Platz in Kairo auf. Dabei soll an diesem Freitag der „Sieg“ über Ex-Präsident Husni Mubarak gefeiert werden. Die Regierung in Algerien versprach weitere Reformen und eine baldige Aufhebung des Ausnahmezustands.“
Um 24 Uhr trudelte die taz von morgen hier ein. Sie titelte: „Aufstand in Gefahr“ – in Bahrain rollen Panzer gegen die Demonstranten und in Libyen wird auf sie geschossen, auch der „revolutionäre Funke“ in Ägypten und Tunesien soll erstickt werden, befürchtet die taz.
Georg Baltissen kommentiert auf Seite 1: „Die vielen Gründe des Zorns“. Auf den Schwerpunkt-Seiten wird die Schlagzeile ausgeführt – mit Berichten aus Tunesien, Ägypten, Bahrain und Libyen, auf Seite 10 wird ferner berichtet, dass die afghanische Regierung die von Hilfsorganisationen geführten Frauenhäuser übernehmen will – um sie zu schließen. Was für schreckliche Taliban-Opportunisten!
Ansonsten geht es in der heutigen taz um Sport, Berlinale, Kunstbücher, Einkommenszuwächse, Theateraufführungen, Wasserwerke, Ökostrom, Gentrification, Angela Merkel, die Plagiate des Verteidigungsministers, Joschka Fischers Memoiren – und ähnlichen Alltags-Mist, für den sich hoffentlich bald niemand mehr interessieren wird, weil dieser ganze mitteleuropäische Lifestyle-Dreck Schnee von gestern geworden ist.
Der Steglitzer Tagesspiegel titelt morgen: „Die Revolte geht weiter“ – fügt jedoch hinzu: „Außenamt warnt vor Reisen in gefährliche Gebiete“ – was für Spießer! Nie waren diese Regionen so ungefährlich wie während des arabischen Aufstands. Aber es ist schon klar, was die Steglitz-Klientel des Tagesspitzels meint: Die Gemütlichkeit in den bescheuerten Tourist-Resorts könnte durch die Randale empfindlich gestört werden – z.B. dadurch dass die ganzen Dienstpesel plötzlich aufmüpfig grinsen – über diese bescheuerten deutschen Lohnabhängigen, die in den arabischen Strand-Sonne-Ländern die „kostbarsten Wochen“ ihres öden grauen Arbeitsjahres verbringen wollen.
Letzte AFP-Meldung aus Ägypten um 2 Uhr früh:
„Die ägyptische Armee ist fortan mit einer eigenen Seite auf dem Internet-Netzwerk Facebook vertreten. Der Oberste Militärrat, der nach dem Rücktritt von Präsident Husni Mubarak am 11. Februar in Ägypten die Macht übernahm, widmete die Seite „den Kindern und der Jugend Ägyptens, die die Revolution des 25. Januar ausgelöst haben, und ihren Märtyrern“. Demnach wurde die Seite von dem Chef des Militärrats, Hussein Tantawi, geschaffen. Sie soll offenbar dazu dienen, die Kommunikation mit der Jugend zu verbessern, die Facebook zur Mobilisierung gegen die Regierung genutzt hatte.
Die Armee betont auf der Seite, dass sie keine „politischen Ambitionen“ habe und sich für einen demokratischen Übergang und die Übergabe der Macht an eine zivile Regierung einsetze. Die Seite der Armee, die im Gegensatz zu der Polizei keine Gewalt gegen die Proteste eingesetzt hatte und weiterhin großes Ansehen in der Bevölkerung besitzt, zog rasch hunderte Internetnutzer an, von denen viele „die Helden Ägyptens“ würdigten. Die Menschenrechtsorganisation Amnesty International warf der Armee am Donnerstag jedoch vor, während der Proteste festgenommene Demonstranten gefoltert zu haben.“
Tage des Zorns in Tunesien. Photo: wiwo.de