vonHelmut Höge 19.02.2011

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Gestern Abend fand in der Prenzlauer Berg Dichterkneipe „Rumbalotte“ mit einer russischen Aktions-Performance unter der Leitung von Alexander Brener und Barbara Schurz die Präsentation der neuesten Ausgabe der Zeitschrift „Konnektör/Drecksack“ statt. Letztere wird von Florian Günther redaktionell betreut. Diesmal finden sich darin zwei Artikel – von seiner Tochter Amira Neila Jehia und von ihm – über Arabien:


Aufstand in Kairo. Photo: zib21.com


Kairo. Mein Kairo. Amira Neila Jehia schreibt:

„Als ich mich im Sommer 2008 dazu entschloß, nach Kairo zu ziehen, war mir nicht bewußt, was mich erwartete. Trotz mehrmaliger Besuche meiner Familie hatte ich keine Vorstellung, davon wie es sein würde, in dieser 20-Millionen-Metropole zu leben. Zwar ist Berlin auch nicht gerade klein, im Vergleich zu Kairo jedoch geradezu dörflich. Nun möchte man meinen, in einer solch gigantischen, lauten, hektischen, belebten Metropole käme man nicht zur Ruhe. Doch weit gefehlt! Kairo wurde zu meinem persönlichen Ort der Ruhe. Seitdem habe ich weitere drei Male das Land gewechselt und sowohl den Orient als auch den „Westen“ erkundet. Dabei fand ich durchaus ruhigere Orte, saubere Orte, luxuriösere Orte und auch geordnetere. Doch etwas fand ich bis heute nirgendwo anders: Harmonie. Besonders vor dem Hintergrund der Ereignisse der letzten zwei Wochen mag das verwunderlich erscheinen, doch Kairo ist weit mehr als nur sein äußerliches Erscheinungsbild. Die Stadt, die niemals schläft, lebt von ihren Menschen: Menschen, die Werte wie Respekt, Hilfsbereitschaft und Zivilcourage genauso kennen wie leben. An sich ist das nicht unüblich in Ländern, in denen der Alltag von Armut, Chancenlosigkeit und Korruption geprägt ist. In Ägypten kommt jedoch noch ein weiterer entscheidender Faktor hinzu. Seit Husni Mubarak 1981 die Präsidentschaft übernahm, gewannen so genannte „Expatriates“ (Mitarbeiter ausländischer Firmen) an Einfluß und Macht, während die Ägypter in ihrem eigenen Land die stille Beobachterrolle einnahmen. Aufbauend auf den Leistungen der Bevölkerung entwickelte sich das Land rapide. Der Profit landete jedoch meist andernorts. So besagt ein ägyptisches Sprichwort: „Das Kamel trägt Zuckerrohr und kriegt doch nur die Dornen zu fressen.“

Gerade in Kairo angekommen und über die Maße fasziniert vom Puls der Stadt und den Schönheiten der arabischen Kultur, mußte ich realisieren, daß die Ägypter selbst eine sehr gegensätzliche Meinung von ihrer Heimat hatten. Im Grunde arbeiteten meine engsten Freunde Tag und Nacht darauf hin, ihre Heimat eines Tages verlassen zu können. Heimat – das bedeutet für jeden Menschen etwas anderes und hat für jeden einen anderen Stellenwert. Für Araber jedoch ist Heimat etwas sehr existenzielles. Nicht nur spielt Nationalstolz eine große Rolle, der besonders im Falle der Ägypter historisch sicherlich begründet ist: Auch sind die Verbundenheit mit der Familie, die Nähe zu Freunden und die berufliche Verwirklichung auf Heimatboden ungemein bedeutend. Die arabische Kultur basiert auf dem Zusammenleben und Zusammenerleben des Alltags. Mehrgenerationenhaushalte sind selbstverständlich und keine Zwangsgemeinschaften. Kinderreichtum dient nicht dem Fortbestand des Rentensystems, sondern der Freude und der Lebensqualität. Der Begriff „Mutterland“ hat eine ganz besondere Bedeutung. Daß so viele junge Menschen davor regelrecht fliehen wollten, war unbegreiflich für mich. Daß ich mir meine Haltung aber nur leisten konnte, weil ich mit meinem deutschen Paß mehr Rechte genoß als jede Ägypterin, verstand ich erst später.

Seit dem 25. Januar diesen Jahres beherrschen Ägypten und besonders Kairo die Nachrichten in aller Welt. Angespornt vom Teilsieg der Tunesier über Diktatur und Unterdrückung, strömen täglich Millionen Ägypter auf die Straßen und demonstrieren gegen das Regime; das heißt in erster Linie gegen ihren Präsidenten Husni Mubarak und seine Gefolgschaft. Sie haben genug von der Ungleichverteilung der Wirtschaftsprofite, der Chancenlosigkeit für junge Hochschulabgänger, der Unterdrückung oppositioneller Kräfte und der Folter von Regimegegnern. Sie kämpfen für eine echte Demokratie. Für Neuwahlen. Für Verfassungsänderungen. Für sich. Für andere. Da Ägypten im Nahen Osten eine enorme Bedeutung hat, beeinflussen die Proteste maßgeblich andere arabische Völker. Daher werden die Demonstrationen nicht nur von Ägyptern im Ausland, wie zum Beispiel hier in London weitergeführt, sondern auch vor Ort von Libanesen, Algeriern, Tunesiern, Jordaniern und zahlreichen anderen unterstützt. Man hilft sich. Man kämpft für gleiche Ziele und man hofft echte Veränderungen für die gesamte Region durchsetzen zu können.

Zum wichtigsten Ort der Proteste ist in diesen Tagen der Midan Tahrir (Platz der Befreiung) im Zentrum Kairos geworden. Für die Menschen, die in den letzten Tagen die Live-Berichterstattungen von Al-Jazeera, NTV und CNN verfolgt haben, muß er wie ein Kriegsschauplatz wirken. Nachdem die ursprünglich friedlichen Proteste vom Regime zu gewalttätigen Auseinandersetzungen zwischen Regime-Gegnern und Regime-Befürwortern getrieben wurden, glich der Platz tatsächlich einem Kampffeld. Kurze Zeit später hingegen saßen beide Parteien zusammen und debattierten friedlich ihre gegensätzlichen Ansichten. Meine Freunde, die das Land lieber heute als morgen verlassen wollten, waren in den vergangenen Wochen im Gefängnis, auf der Straße, im Kampf und im Verhör. Und doch stehen sie auch heute noch jeden einzelnen Tag auf dem Midan Tahrir und kämpfen für ihre Rechte, und die ihrer Landsleute. All das macht mich als Teilägypterin unglaublich stolz. Genau das ist es, was für mich die Harmonie Kairos und Ägyptens generell ausmacht: Menschen aus allen Bevölkerungsschichten, allen Teilen des Landes und aller ethnischer und religiöser Zugehörigkeiten vereinigen sich in Momenten der Angst, der Trauer und auch der Freude. Sie sind nicht „die anderen“ oder „die Fremden“ sondern „die Ägypter“ und letztlich auch „die Araber“. Damit sind sie die erste und bisher einzige Gruppierung, der ich als ansonsten glückliche Einzelgängerin wirklich angehören möchte. Was ich den Ägyptern heute für die nahe Zukunft am meisten wünsche, ist was ich immer wieder selbst von ihnen bekomme: ein Gefühl der Harmonie.“

Photo: deutsche-synchronsprecher.de


Ein Schweizer in Marokko. Florian Günther schreibt:

„Als ich von einigen Wochen in Kairo war, um meine Tochter zu besuchen, riefen mir zwei kichernde, in tiefschwarze Burkas gehüllte Omas etwas nach. Ich blieb stehen und machte eine hilflose Geste in ihre Richtung, während mich meine Tochter, des Arabischen mächtig, lachend aufklärte: „Weißt, du was sie gesagt haben? – ‚Du bist aber ein schöner Mann!’“ Jetzt mußte ich selber lachen. Und ich erzähle das nicht aus Eitelkeit – vermutlich bedurften die betagten Damen ja nur mal eines Termins beim Augenarzt –, sondern um zu zeigen, daß die Dinge oftmals anders sind, als sie uns scheinen oder glauben gemacht werden sollen. Das kürzlich in Axel Montes Verlag BOOKS EX ORIENTE erschienene „Carnet de Fes – Ein Sommer in Marokko“, von Florian Vetsch, ist ein weiterer Beleg dafür.

Vetsch – Philosoph, Lehrer, Schriftsteller und Übersetzter u.a. der Gedichte von Paul Bowles und Ira Cohen, führt sein Notizbuch während eines vierwöchigen Urlaubs in Marokko, der Heimat seiner Frau. Er läßt sich die Füße machen, liest Falladas „Trinker“ bei einem guten Schluck Volubilia, besucht zahlreiche Freunde aus der gebildeten und intellektuellen Mittelschicht und genießt das Leben, die Sonne und die Menschen in vollen Zügen. Marokko, das schwingt in jeder Zeile mit, befindet sich im Aufbruch. Das Alte ist noch gegenwärtig, aber das Neue gewinnt an Zugkraft. Und um das zu zeigen benötigt Vetsch nicht mehr als die kurze Beschreibung der unterschiedlichen Strandmoden muslimischer Frauen in einer öffentlichen Badeanstalt.

Das erfrischend schmale, gut lesbare Buch ist in rasantem Tempo geschrieben. Choukri, Bowles und Camus winken aus der Ferne, aber auch Henry Millers lichtdurchflutetes Griechenlandbuch „Der Koloß von Maroussi“ kommt einem wieder in den Sinn. Man spürt den Wind, der durch die Palmen fährt, riecht das Meer, schmeckt den guten, marokkanischen Wein, die „wilden, zügellosen“ Frauen, hört das fröhliche Kreischen der Kinder. Vetsch kennt diese Menschen nicht nur seit vielen Jahren, er liebt sie auch, und er zeigt sie uns Abseits der mit einseitigen Schlagzeilen operierenden Nachrichten. Marokko – und das gilt auch für andere Länder Afrikas – ist längst nicht mehr das was viele meinen zu wissen. Es ist moderner, weltoffener und trotz aller noch vorhandener Probleme toleranter, als es uns immer wieder vorgegaukelt wird.

Daß Reisen bildet ist ein alter Hut. Für all diejenigen, die dennoch zu Hause bleiben müssen, gibt es Autoren wie Florian Vetsch und Verleger wie den ebenfalls vielgereisten Ethnologen Axel Monte. – Alhamdulillah! möchte man auch als eingefleischter Atheist ausrufen. An alle ist gedacht.“

Edward Said – im Exil


Anläßlich des 2003 gestorbenen palästinensischen Literaturwissenschaftlers Edward Said,  er lebte und lehrte zuletzt in New York, veröffentlichte die „Le Monde Diplomatique“ einen Text von ihm auf Deutsch. Im Vorwort dazu heißt es:
1978 erschien das Hauptwerk von Edward W. Said, „Orientalismus“. Darin untersucht der US-amerikanische Intellektuelle palästinensischer Herkunft die Versuche des Westens, durch eine Rekonstruktion des „Orients“ die eigenen kolonialen und neokolonialen Unternehmungen zu rechtfertigen. Heute, 25 Jahre später, besteht er noch entschiedener auf seinem Grundgedanken: Wer andere Kulturen wirklich verstehen will, muss zuallererst lernen, jeden Überlegenheitsanspruch abzulegen. Für Said geht es nicht um einen „Kampf der Kulturen“ sondern um eine „Kultur des Kampfes“.

Vor neun Jahren habe ich zu meinem Buch „Orientalismus“(1) ein neues Nachwort verfasst. Darin bin ich nicht nur auf die vielen Diskussionen eingegangen, die das Buch seit seinem Erscheinen 1978 angestoßen hat, sondern ich habe auch darauf hingewiesen, dass meine Überlegungen zu den Wahrnehmungs- und Darstellungsweisen „des Orients“ immer öfter missverstanden worden sind. Dass mich dies heute eher ironisch als ärgerlich stimmt, betrachte ich als ein Zeichen meines fortgeschrittenen Alters. Der Tod von Eqbal Ahmad und von Ibrahim Abu-Lughod(2)- zweien meiner wichtigsten intellektuellen, politischen und persönlichen Mentoren – hat bei mir Trauer und das Gefühl von Verlust und Resignation ausgelöst, aber auch den hartnäckigen Willen, weiterzumachen.

In meinen Memoiren „Am falschen Ort“(3) beschrieb ich die seltsamen und widersprüchlichen Welten, in denen ich aufgewachsen bin, und versuchte den Lesern zu vermitteln, welche Einflüsse mich in meiner Jugend in Palästina, Ägypten und im Libanon geprägt haben. Aber das war ein subjektiver Bericht, und er endet vor dem Krieg von 1967, der den Beginn meines politischen Engagements markiert. Das Buch „Orientalismus“ hingegen ist ganz von der Dynamik des Zeitgeschehens durchdrungen. Es beginnt mit einer Beschreibung des Bürgerkriegs im Libanon, verfasst im Jahr 1975. Dieser Bürgerkrieg endete 1990, doch auch danach haben die gewaltsamen Auseinandersetzungen und das Blutvergießen nicht aufgehört. Der Oslo-Friedensprozess scheiterte, die zweite Intifada begann, und die Palästinenser im Westjordanland und im Gaza-Streifen leiden unter der neuerlichen Besatzung.

Heute stehen wir vor dem Phänomen der Selbstmordattentate und deren ungeheuren Zerstörungen, die ähnlich düster und apokalyptisch sind wie die Anschläge vom 11. September 2001 und deren Folgen – die Kriege gegen Afghanistan und den Irak. Während ich diese Sätze niederschreibe, geht die imperiale, völkerrechtswidrige Besetzung des Irak durch die USA und Großbritannien weiter; die Folgen sind schrecklich. All diese Entwicklungen gelten vielen als Teil des clash of civilizations („Kampf der Kulturen“). Ich halte das für falsch.

Nur allzu gern würde ich behaupten können, dass heute in den USA ein größeres Verständnis für den Nahen Osten, die Araber und den Islam existierte, doch das ist leider nicht der Fall. In Europa scheint es aus diversen Gründen erheblich besser darum zu stehen. Die politische Führung der USA und ihre intellektuellen Lakaien sind offenbar unfähig, zu verstehen, dass man die Geschichte nicht einfach wegwischen kann (wie das, was in der Schule an der Tafel steht), um anschließend den minderwertigen Völkern der Region „unsere“ (die US-amerikanische) Zukunft und „unsere“ Lebensweise aufzunötigen. Immer wieder hört man in Washington und anderswo aus Regierungskreisen, es gehe darum, die Landkarte des Nahen Ostens zu verändern – als könne man gewachsene Gesellschaften und hunderte von Völkern wie Erdnüsse in der Dose durcheinander schütteln. Aber genau dies ist dem „Orient“, diesem halbmythischen Gebilde, schon allzu häufig widerfahren – wie oft schon wurde er seit der Invasion Napoleons in Ägypten Ende des 18. Jahrhunderts aufgelöst und neu zusammengesetzt. Dabei wurden jedes Mal die zahlreichen Sedimente der Geschichte sowie die verwirrende Vielfalt von Menschen, Sprachen, Erfahrungen und Kulturen beiseite gefegt oder ignoriert – um am Ende irgendwo in der Wüste zu landen, ganz wie die Kunstschätze, die aus Bagdad herausgeschafft wurden und heute nur mehr wenig aussagekräftige Bruchstücke sind.

Die Geschichte, von Menschen gemacht, kann auch von ihnen umgeschrieben oder gar rückgängig gemacht werden, sodass „unser“ Osten, „unser“ Orient eines Tages wirklich „unser“ sein könnte, sprich: unter „unsere“ Herrschaft oder in „unseren“ Besitz gelangen. Doch auch wenn ich, wie gesagt, nicht weiß, was ein „wahrer“ Orient sein könnte, von den Menschen in dieser Region, davon, wie sie ihre Vorstellungen von sich und ihrer Zukunft verteidigen, habe ich eine sehr hohe Meinung.

Heute werden die arabischen und muslimischen Gesellschaften wegen ihrer Rückständigkeit, ihres demokratischen Defizits und ihrer Missachtung der Frauenrechte so heftig attackiert, dass darüber etwas ganz Einfaches in Vergessenheit gerät: Begriffe wie Modernität, Aufklärung und Demokratie sind eben keine simplen und von allen geteilten Konzepte, auf die jedermann früher oder später stoßen wird, wenn er es nur richtig anstellt. Die atemberaubende Sorglosigkeit aufstrebender Jungwissenschaftler, die in der offiziellen Außenpolitik mitreden, ohne auch nur eine Ahnung von der Sprache der betroffenen Menschen zu haben, hat dazu beigetragen, dass die USA aufgrund ihrer Macht jetzt in einem Wüstenstrich ein Ersatzmodell von „marktwirtschaftlicher Demokratie“ errichten können. Man braucht ja nicht Arabisch oder Persisch oder auch nur Französisch zu können, um ex cathedra zu verkünden, dass die arabische Welt auf den verheißenen Dominoeffekt der Demokratisierung nur gewartet hat.

Doch es gibt einen Unterschied zwischen dem Wunsch, im Interesse der Koexistenz und der Erweiterung des eigenen Horizonts eine fremde Kultur zu verstehen, und dem Versuch, sich Wissen zu verschaffen, um ein Land unter seine Kontrolle zu bringen. So gesehen ist der Irakkrieg ganz sicher auch eine der großen intellektuellen Katastrophen der Geschichte: Hier wurde ein imperialistischer Krieg, den sich eine kleine Gruppe von (durch keine Wahl legitimierten) Experten der US-Regierung ausgedacht hatte, gegen eine bankrotte Dritte-Welt-Diktatur geführt – und zwar aus rein ideologischen Gründen, verbunden mit Weltmachtansprüchen, Sicherheitsinteressen und knappen Ressourcen.

Unter den Leuten, die diesen Krieg beschleunigt und gerechtfertigt wie auch seine wahren Ziele verschleiert haben, befinden sich Orientalisten, die ihr wissenschaftliches Ethos verraten haben. Experten wie Bernard Lewis oder Fouad Ajami(4) haben Pentagon und Nationalem Sicherheitsrat zugearbeitet; sie halfen den US-Falken, sich so abstruse Konstrukte auszudenken wie „die arabische Vorstellungswelt“ oder die Theorie vom „jahrhundertelangen Niedergang des Islam“, der nur durch die USA aufgehalten werden könne.

Derzeit findet man in unseren Buchläden ganze Regale voll armseliger Traktate über „Islam und Terror“, die „Entlarvung des Islam“, die „arabische Bedrohung“ und die „muslimische Gefahr“. All diese Bücher stammen von politischen Schreibern, die so tun, als ob die Experten, auf die sie sich berufen, diesen sonderbaren orientalischen Völkern in die Seele geschaut hätten. Unters Volk gebracht wird die Fachliteratur der Kriegshetzer von Fernsehsendern wie CNN oder Fox TV sowie von unzähligen religiösen und rechten Rundfunkmoderatoren, jeder Menge Boulevardzeitungen und selbst halbseriösen Zeitschriften, die allesamt die gleichen unbelegbaren Erfindungen und groben Verallgemeinerungen in Umlauf halten, um „Amerika“ gegen die fremden Teufel aufzubringen.

Ohne das systematisch produzierte Gefühl, diese fernen Völker im Nahen Osten seien nicht wie „wir“ und würden nicht „unsere“ Werte hochhalten – und das genau macht den Kern des Orientalismus-Dogmas aus -, hätte es keinen Krieg gegeben. Die Berater des Pentagons und des Weißen Hauses entsprachen also genau dem Typus von bezahlten Berufsakademikern, den schon die holländischen Eroberer von Malaysia und Indonesien angeheuert hatten; oder die britischen Truppen in Indien, Mesopotamien, Ägypten und Westafrika; oder die französische Armee in Indochina und Nordafrika. All diese Leute hantierten, damals wie heute, mit den gleichen Klischees, den gleichen abschätzigen Stereotypen, den gleichen Begründungen für den Einsatz von Gewalt (getreu dem gemeinsamen Credo, dass Gewalt die einzige Sprache sei, die diese Völker verstünden). Im Gefolge dieser Experten rückt nunmehr im Irak eine ganze Armee von cleveren Unternehmern und Geschäftemachern ein, denen alle möglichen Aufträge zufallen werden – vom Verfassen neuer Schulbücher und der Ausarbeitung einer neuen Verfassung bis zur Reorganisierung des politischen Lebens und der Ölindustrie.

Offiziell hat noch jedes Empire von sich behauptet, dass es ganz anders sei als die anderen: Die historischen Umstände seien besondere, zudem habe man ja eine aufklärerische und zivilisierende Mission, man wolle nur Ordnung und Demokratie bringen und Gewalt werde man natürlich nur als letztes Mittel einsetzen. Bedauerlicherweise findet sich dabei stets ein Chor willfähriger Intellektueller, die beschönigend von einem gutartigen oder altruistischen Empire reden.

25 Jahre nach der Veröffentlichung meines Buches drängt sich erneut die Frage auf, ob der moderne Imperialismus je verschwunden ist – oder ob er nicht doch seit dem Einmarsch Napoleons in Ägypten vor 200 Jahren im Orient immerzu fortbestanden hat. Araber und Muslime haben zu hören bekommen, dass sie mit ihren ewigen Verweisen auf die eigene Opferrolle und ihrem ständigen Mit-dem-Finger-Zeigen auf das räuberische Empire lediglich versuchen wollten, sich aus der Verantwortung für die Gegenwart zu stehlen. „Ihr habt versagt, habt alles falsch gemacht“, sagt der moderne Orientalist. Genau diese Botschaft enthalten auch die Romane von V. S. Naipaul: Die Opfer des Empire hören nicht auf, sich zu beklagen, während ihr Land vor die Hunde geht.

Man erinnere sich daran, wie die Geschichte mit dem Feldzug Napoleons begann und mit dem Aufstieg der Oriental Studies und der Eroberung Nordafrikas weiterging. Später folgten dann ähnliche Studien über Vietnam, Ägypten und Palästina, und Anfang des 20. Jahrhunderts begann der Kampf um das Öl und die strategische Kontrolle in der Golfregion, im Irak, in Syrien, Palästina und Afghanistan. Man erinnere sich des Weiteren an das Erwachen der antikolonialen Nationalbewegungen während der kurzen Periode von Unabhängigkeitskämpfen mit progressiven Inhalten, an die darauf folgende Ära der Militärputsche, an die Aufstände und Bürgerkriege, an den religiösen Fanatismus, an den irrationalen, brutalen Kampf gegen die letzten „Eingeborenen“ im alten Sinne. Jede dieser Phasen und Epochen hat eine ganz eigene verzerrte Wahrnehmung des „Anderen“, eigene Vereinfachungen und unfruchtbare Debatten hervorgebracht.

Als ich seinerzeit an „Orientalismus“ arbeitete, glaubte ich, durch eine humanistische Kritik mögliche neue Schauplätze erschließen und unser in Kurzatmigkeit blockiertes Denken durch längere Gedankengänge und ausführlichere Analysen ersetzen zu können. Was ich auf diese Weise verfolge, bezeichne ich nach wie vor und unbeirrt als „Humanismus“, obwohl superschlaue postmoderne Kritiker für den Begriff heute nur noch Verachtung übrig haben. Bei dem Wort „Humanismus“ denke ich zunächst an den Blake’schen Versuch, die vom Verstand angelegten Fesseln zu sprengen(5), um diesen somit zu historischem und reflektierendem Verstehen zu befähigen. Im Übrigen beruht der Humanismus auf dem Empfinden einer Gemeinsamkeit mit anderen Denkern, anderen Gesellschaften und anderen Epochen, ein isolierter Humanist ist deshalb ein Widerspruch in sich. Alles in unserer Welt ist miteinander verbunden, und nichts, was geschieht, ist völlig isoliert und von fremden Faktoren unbeeinflusst. Auch über Unrecht und Leiden müssen wir also in weiten historischen, kulturellen und sozioökonomischen Zusammenhängen reden. Unsere Aufgabe als Intellektuelle ist es, den Horizont der Diskussion zu erweitern.

In den letzten 35 Jahren habe ich viel Zeit darauf verwendet, für das Recht des palästinensischen Volkes auf nationale Selbstbestimmung einzutreten. Dabei habe ich mich stets bemüht, der Realität des jüdischen Volkes und dem, was dieses Volk durch Verfolgung und Genozid erlitten hat, gerecht zu werden. Am wichtigsten ist in meinen Augen, dass der Kampf für gleiche Rechte in Palästina/Israel ein humanes Ziel haben muss, nämlich die Koexistenz – und nicht auf fortgesetzte Unterdrückung setzt.

Als Humanist, der sich mit Literatur beschäftigt, kam ich bereits vor vierzig Jahren mit der vergleichenden Literaturwissenschaft in Berührung, deren Grundideen im späten 18. und frühen 19. Jahrhundert in Deutschland entstanden waren. Doch sollte ich zunächst noch den neapolitanischen Philosophen und Philologen Giambattista Vico erwähnen, dessen überaus kreative Beiträge die deutschen Denker Herder und Wolf vorwegnahmen – später kamen Goethe, Wilhelm von Humboldt, die Philosophen Dilthey, Nietzsche und Gadamer und schließlich die großen Romanisten des 20. Jahrhunderts, also Erich Auerbach, Leo Spitzer und Ernst Robert Curtius.

Heute denken junge Menschen beim Begriff „Philologie“ sofort an etwas Antiquiertes und Verstaubtes, in Wirklichkeit ist die Philologie jedoch die grundlegendste und kreativste aller interpretativen Disziplinen. Das bewundernswerteste Beispiel für diese Kunst bietet die Beschäftigung Goethes mit dem Islam im Allgemeinen und mit dem persischen Dichter Hafis im Besonderen(6). Aufgrund seines leidenschaftlichen Interesses für Hafis verfasste Goethe den „Westöstlichen Diwan“ und entwickelte später seine Gedanken über die Weltliteratur – über das Studium aller Literaturen der Welt als eines symphonischen Ganzen, das man theoretisch als das Bemühen begreifen könnte, der Individualität jedes einzelnen Werks gerecht zu werden, ohne das Ganze aus dem Auge zu verlieren.

Paradoxerweise bringt unsere heutige globalisierte Welt ausgerechnet jene Art von Homogenität und Standardisierung hervor, der Goethe entgegenwirken wollte. In seinem Essay „Philologie der Weltliteratur“ hat Erich Auerbach genau diesen Punkt herausgestrichen – der Essay erschien 1951, im Zuge der Nachkriegszeit, zu Beginn des Kalten Krieges. Auerbachs großes Buch „Mimesis“(7) – das im Exil in Istanbul entstand, wo er als Romanist lehrte, aber erstmals 1946 in Bern erschien – war eine späte Hymne auf die mannigfaltige und konkrete Darstellung der Wirklichkeit in der westlichen Literatur von Homer bis Virginia Woolf. Aber wenn man den Essay von 1951 heute wieder liest, spürt man, dass für Auerbach dieses Buch eine Elegie war auf jene Zeit, da man die Texte noch philologisch, konkret, sensibel und intuitiv interpretierte – und dank einer umfassenden Belesenheit und einer tadellosen Beherrschung mehrerer Sprachen ein Verständnis entwickeln konnte, wie Goethe es im Hinblick auf die islamische Literatur für geboten hielt.

Konkrete Sprachkenntnisse und historisches Wissen waren notwendig, aber niemals hinreichend; so wie etwa das mechanische Sammeln von Fakten keine angemessene Methode wäre, um die Größe eines Autors wie Dante zu begreifen. Die wichtigste Voraussetzung für die Art philologischen Verstehens, für die Auerbach und seine Vorgänger eintraten und die sie zu erlangen versuchten, bestand darin, sich empathisch und subjektiv auf den Stoff eines Textes einzulassen und diesen aus der Perspektive seiner Zeit und seines Verfassers zu begreifen. Auerbach nannte dies das Prinzip der Einfühlung. Für ihn war eine auf die Weltliteratur angewandte Philologie unvereinbar mit Fremdheit gegenüber und Feindschaft gegen eine andere Zeit und eine andere Kultur, ihre Voraussetzung war vielmehr ein tiefer humanistischer Geist der Großzügigkeit und, wenn das Wort gestattet ist, der Gastfreundschaft. Der Literaturwissenschaftler schafft also bewusst in seinem Kopf Platz für das fremde „Andere“. Und dieses kreative Platzschaffen für Werke, die ihm andernfalls fremd und entlegen blieben, ist die wichtigste Dimension literaturkrischen Arbeitens.

In Deutschland wurde all dies bekanntlich durch den Nationalsozialismus untergraben und zerstört. Doch auch nach dem Krieg waren die Bedingungen, wie Auerbach bedauernd feststellte, keineswegs besser geworden: Durch eine weitere Standardisierung der Ideen und eine immer stärkere Spezialisierung des Wissens wurden die Spielräume für eine derartige, neugierige und ständig weiterfragende Philologie, wie Auerbach sie repräsentierte, schrittweise immer enger. Seit Auerbachs Tod im Jahre 1957 hat die humanistische Wissenschaft traurigerweise theoretisch wie praktisch an Reichweite und Bedeutung weiter eingebüßt. Zum unmittelbaren Lesen kommen die Studenten heute meist nicht mehr, weil Internet und Massenmedien sie mit fragmentiertem Wissen überhäufen.

Noch schlimmer ist freilich, dass die Bildung durch eindimensionale, national und religiös geprägte Lehrmeinungen bedroht ist, die meist über die Massenmedien verbreitet werden. Das gilt vor allem für die ahistorische und sensationslüsterne Berichterstattung über ferne elektronische Kriege, die wie chirurgisch präzise Operationen dargeboten werden – die Schrecken und Zerstörungen des modernen Krieges bleiben dabei ausgeblendet. Mit der Dämonisierung eines unbekannten Feindes – der mit dem Etikett „Terrorist“ versehen wird, um die Wut der Menschen zu schüren – werden die von den Medien fabrizierten Bilder übermächtig und können in Zeiten der Krise oder Unsicherheit, wie nach dem 11. September 2001, nur zu leicht manipuliert werden.

Als jemand, der zugleich Amerikaner und Araber ist, muss ich meine Leser bitten, nicht zu unterschätzen, welche Wirkung die simplifizierende Weltsicht hat, die eine Hand voll Leute aus der zivilen Hierarchie des Pentagons als US-Strategie für den gesamten arabischen und islamischen Raum ersonnen haben. Die zentralen Elemente dieser Konzeption sind Terror, Präventivkrieg und erzwungener Regimewechsel – mit dem größten Rüstungshaushalt der Geschichte im Rücken. Bis zur Erschöpfung bieten die Medien „Expertenmeinungen“ zu diesen Themen, die allesamt darauf hinauslaufen, die politische Linie der Regierung zu rechtfertigen. Es geht also weder um den Austausch rationaler Argumente noch um moralische Prinzipien, die auf der Auffassung beruhen, dass die Menschen ihre Geschichte selbst gestalten müssen. Stattdessen herrschen abstrakte Ideen, die den amerikanischen oder westlichen Überlegenheitsanspruch feiern, die Bedeutung des Kontextes bestreiten und fremden Kulturen mit Verachtung begegnen.

Möglicherweise wird der Leser einwenden, dass ich zu abrupt von der humanistischen Interpretation zur internationalen Politik übergegangen bin; eine moderne, technologisch führende Gesellschaft, die neben einer unerhörten Machtfülle über das Internet und die modernsten F-16-Kampfflugzeuge verfügt, müsse nun einmal von technisch-politischen Koriphäen wie Donald Rumsfeld und Richard Perle geführt werden. Mir geht es jedoch darum, dass mit dieser Entwicklung etwas ganz Entscheidendes verloren geht: das Gespür für den engen Zusammenhalt zwischen den Menschen, für ihr Aufeinander-angewiesen-Sein, das weder auf eine Formel reduziert noch als irrelevant abgetan werden kann.

Das ist die eine Seite der weltweiten Debatte. Auf der anderen Seite, in den arabischen und muslimischen Ländern, sieht es kaum besser aus. Wie Roula Khalaf in ihrem hervorragenden Essay(8) ausführt, ist die ganze Region in einen billigen Antiamerikanismus hineingeschlittert, der von einem Verstehen der US-amerikanischen Wirklichkeit weit entfernt ist. Und da die Regierungen dieser Region die Politik der Vereinigten Staaten gegenüber ihren Ländern kaum beeinflussen können, konzentrieren sie ihren Gestaltungswillen darauf, ihre eigene Bevölkerung zu unterdrücken und unter Kontrolle zu halten. Die derart geschürten Ressentiments, hilfloser Zorn und Verwünschungen tragen nicht gerade zur „Öffnung“ dieser Gesellschaften bei.

Damit hatten nichtreligiöse Auffassungen von der Geschichte und Entwicklung der Menschen keine Chance gegen Frustration und Hoffnungslosigkeit und auch nicht gegen einen Islamismus, der allein auf mechanisches Lernen und die Liquidierung aller konkurrierende Formen weltlichen Wissens setzt. Dass die besondere Tradition der islamischen ijthiad (der Interpretation islamischer Regeln auf der Basis des Korans) im Verschwinden begriffen ist, zählt zu den großen kulturellen Katastrophen unserer Zeit, denn die Folge ist, dass kritisches Denken und die individuelle Auseinandersetzung mit den Problemen der modernen Welt überhaupt nicht mehr zum Zuge kommen.

Damit will ich nicht behaupten, dass die kulturelle Welt einfach regrediert sei zu militantem Neoorientalismus auf der einen und totaler Abwehrhaltung auf der anderen Seite. Vielmehr hat sich letztes Jahr auf dem Weltgipfel der Vereinten Nationen in Johannesburg (ungeachtet aller Einschränkungen) gezeigt, dass ein weites Feld gemeinsamer globaler Anliegen existiert. Das verweist auf eine erfreuliche Entwicklung: Es scheint sich eine neue kollektive Verantwortungsgemeinschaft herauszubilden, die dem oft recht leichtfertig verwendeten Begriff der „einen Welt“ neue Dringlichkeit verleiht. Gleichwohl müssen wir einräumen, dass niemand die äußerst komplexen Zusammenhänge in unserer globalisierten Welt überblicken kann, auch wenn die unterschiedlichen Regionen so eng in wechselseitiger Abhängigkeit verwoben sind, dass die Vorstellung einer Isolation einzelner Gebiete ausgedient hat.

Die schrecklichen Konflikte, bei denen Menschen unter falschen Herdenbegriffen wie „Amerika“, „der Westen“ oder „der Islam“ vereinnahmt und trotz ihrer Pluralität mit einer fiktiven kollektiven Identität ausgestattet werden, dürfen nicht länger eine derart große Macht über die Menschen haben. Vielmehr müssen sich die Menschen solchen Einflussnahmen widersetzen.

Wir verfügen nach wie vor über die aus der humanistischen Bildungstradition hervorgegangene Fähigkeit zu rationaler Interpretation. Sie ist alles andere als eine sentimentale Reverenz, die uns auf den Rückgriff auf traditionelle Werte oder auf die Lehren der Klassiker einschwört, sondern bedeutet vielmehr aktive Teilhabe an einem säkularen, rationalen Diskurs. Die säkulare Welt ist eine Welt, in der die Geschichte von den Menschen gemacht wird. Kritisches Denken unterwirft sich nicht irgendwelchen Befehlen, die zum Marsch gegen einen erklärten Feind mobilisieren. Statt auf den manipulierten „Kampf der Kulturen“ müssen wir auf eine erstarkende Zusammenarbeit der verschiedenen Kulturen setzen, die einander überlappen und beeinflussen und sich zu weitaus interessanteren neuen Gebilden zusammenfügen, als es nach irgendwelchen verkürzten oder abwegigen Auffassungen vorgesehen ist. Für eine solche breitere Wahrnehmung brauchen wir Zeit, wie brauchen ein von Geduld und Skepsis getragenes Forschen, das sich stützen kann auf das Vertrauen in eine intakte wissenschaftliche Gemeinschaft. Diese jedoch ist in einer Welt, die nur das unmittelbare Agieren und Reagieren kennt, äußerst gefährdet.

Im Mittelpunkt des humanistischen Denkens stehen nicht Vorurteile und Autoritätshörigkeit, sondern das Handeln des Einzelnen und die persönliche Intuition. Der wichtigste Punkt aber ist, dass das humanistische Denken die einzige und meines Erachtens letzte Bastion darstellt, die wir gegen inhumanes Handeln und gegen die Ungerechtigkeiten in der Geschichte der Menschen besitzen. Dabei können wir heute auf den demokratischen Cyperspace zurückgreifen, der ungeheuren Mut macht, weil er für jeden User in einer Weise offen ist, die sich kein Tyrann und kein Dogmatiker früherer Epochen hätte ausmalen können. Die weltweiten Proteste vor Beginn des Irakkriegs waren nur möglich, weil es überall alternative Gruppen gibt, die auf alternative Informationen zurückgreifen und sie weiterverbreiten können. Und die in dem klaren Bewusstsein handeln, dass dieser kleine Planet für die Erhaltung der Umwelt, für die Menschenrechte und für libertäre Ziele auf unsere Arbeit angewiesen ist. Deutsch von Niels Kadritzke


Fußnoten:
1 Edward Said, „Orientalismus“, Frankfurt (Ullstein) 2010 wieder neu aufgelegt.

2 Eqbal Ahmad (geboren 1993 in Indien, gestorben 1999 in Pakistan) war Professor für internationale Beziehungen und politische Wissenschaften und unterstützte zeit seines Lebens die Befreiungskämpfe zahlreicher Völker, von Algerien über Vietnam bis Palästina. Ibrahim Abu-Lughod (geboren 1929, verstorben 2001) kämpfte schon in jungen Jahren für die Unabhängigkeit Palästinas. Als Politikwissenschaftler verfasste er zahlreiche Bücher, unter anderem: „The Transformation of Palestine“; „Palestinian Rigths: Affirmation and Denial“; „Profile of the Palestinian People“; „The Arab-Israeli Confrontation of Juni 1967: An Arab Perspective“.

3 „Am falschen Ort“, Berlin (Berlin Verlag) 2000.

4 Bernard Lewis vertritt in seinen Schriften seit Jahren den Kampf gegen „die islamische Gefahr“, kam aber 1995 auch deshalb ins Gerede, weil er die Tatsache des türkischen Genozids an den Armeniern geleugnet hatte. Fouad Ajami ist nicht zuletzt bekannt geworden durch seine Überlegungen zum Irak: Durch die Abschaffung des irakischen Terrorregimes biete sich die Möglichkeit eines Demokratisierungs- und Modernisierungsprozesses in der arabischen Welt. Es gelte, eine „bessere politische arabische Tradition“ zu begründen.

5 Der englische Schriftsteller William Blake (1775 bis 1827), kritisierte die christliche Moral. Sein Humanismus war der Kampf für eine Freiheit, die auf der Imagination gründet: „And all must love the human form / In heathen, turk or jew; / Where Mercy, Love and Pity dwell / There God is dwelling too.“

6 Hafis ist der Beiname von Schams od-Din Mohammed, der im 14. Jahrhundert an einer „Moscheehochschule“ lehrte.

7 Ernst Auerbach, „Mimesis“, Bern 1946.

8 „The Financial Times (London), 4. September 2002.

Deutsch von Niels Kadritzke


Frantz Fanon(1925 – 1961)


Der ebenfalls – wie Edward Said – an Leukämie gestorbene Psychoanalytiker Frantz Fanon war einer der wichtigsten Theoretiker des antikolonialen Befreiungskampfes. 2009 erinnerte Anne Mathieu,  Chefredakteurin der Zeitschrift Aden in Nantes, in einem Artikel in der „Le Monde Diplomatique“ an ihn:

Es war wie eine Detonation am Nachkriegshimmel. 1952 erschien „Schwarze Haut, weiße Masken“1, die „psychoanalytische Interpretation des schwarzen Problems“. In der Einleitung steht: „Wir haben nichts Geringeres vor, als den farbigen Menschen von sich selbst zu befreien. Wir werden sehr behutsam vorgehen, denn es gibt zwei Lager: das weiße und das schwarze.“

Der Autor Frantz Fanon (1925 bis 1961) war Psychiater, Schriftsteller und Politiker und kämpfte an der Seite der algerischen Nationalen Befreiungsfront (FLN) für die Unabhängigkeit.(2) Als Martinikaner gehörte er zu jenen schwarzen Intellektuellen, deren Bedeutung für eine umfassende Geschichtsschreibung Frankreich nach wie vor kaum anerkennt. Der radikale Gegner des Kolonialismus wird gern als gescheiterter Prophet abgetan, um sich gar nicht erst mit ihm auseinandersetzen zu müssen.

Fanons Zwei-Lager-Thematik bezieht sich nicht nur auf den Gegensatz zwischen Schwarz und Weiß, sondern viel allgemeiner auf den Unterschied zwischen „Unterdrückern“ und „Unterdrückten“. Für Fanon ist „eine Gesellschaft (…) entweder rassistisch oder nicht“, und wann immer er sich daran macht, einen zentralen Gedanken in diesem Sinne zu übersetzen und den darin enthaltenen Skandal zu enthüllen, kommt seine poetische und rhetorische Prosa in Fahrt. Der „Eingeborene“ befreit sich, indem er aus der Welt der Verbote heraustritt und sein „Ich“ dagegensetzt. Dieses „Ich“ hat der Kolonialherr, der bloß die formlose, zur Fron verpflichtete Masse wahrnahm, stets geleugnet.

„Der Eingeborene ist ein eingepferchtes Wesen“, heißt es in Fanons berühmtem Hauptwerk „Die Verdammten dieser Erde“, „die Apartheid ist nur eine besondere Form der kolonialen Trennung überhaupt. Als erstes lernt der Eingeborene, auf seinem Platz zu bleiben, die Grenzen nicht zu überschreiten. Deshalb sind die Träume des Eingeborenen Muskelträume, Aktionsträume, aggressive Träume. Ich träume, daß ich springe, daß ich schwimme, daß ich renne, daß ich klettere. Ich träume, daß ich vor Lachen berste, daß ich den Fluss überspringe, daß ich von Autorudeln verfolgt werde, die mich niemals einholen. Während der Kolonisation hört der Kolonisierte nicht auf, sich zwischen neun Uhr abends und sechs Uhr früh zu befreien.“(3)

„Schwarze Haut, weiße Masken“ führt in das systematisch von den Weißen zugerichtete Universum der Schwarzen. Auf diesen mit Leidenschaft erfüllten Seiten hört man – trotz aller Unterschiede – unverkennbar sowohl die Négritude-Sänger als auch den „Schwarzen Orpheus“(4) von Jean-Paul Sartre durch, insbesondere in den Worten, Metaphern und analytischen Zusammenhängen, die Körper und Blicke beschreiben. Fanon ist ganz nah am Körper, vielleicht weil er „den ersten Entwurf dieses Buches diktiert (hat), wobei er wie ein improvisierender Redner hin und her ging; der Rhythmus des Körpers in Bewegung“.(5) Doch mit Fanon siegt die Wirklichkeit über die Metapher: „(…) beim ersten weißen Blick spürt er die Last seines Melanins“.

Jahrhunderte der Sklaverei und der Kolonisation haben den Blick erstarren und eine Beziehung zum Anderen entstehen lassen, aus der herauszutreten schwer, wenn nicht gar unmöglich ist: „Wenn man mich liebt, dann sagt man mir, dass man mich trotz meiner Hautfarbe liebe. Verabscheut man mich, dann fügt man hinzu, dass dies nichts mit meiner Hautfarbe zu tun habe. (…) Hier wie dort bin ich Gefangener des Höllenkreises.“

Der Rassismus zeigt sich ebenso in der Charakterisierung des Schwarzen. Die seit jeher mit der Farbe Schwarz verbundenen Vorstellungen werden auf den Menschen übertragen, sie ist das Offensichtliche, quasi sein Wesen: „Das Schwarze, das Dunkle, der Schatten, die Finsternis, die Nacht, die Labyrinthe der Erde, die abessinischen Tiefen, jemanden anschwärzen; und auf der anderen Seite: der klare Blick der Unschuld, die weiße Taube des Friedens, das feenhafte, paradiesische Licht (…).“ Die Sprache wird sich von diesen Konnotationen, die ins Religiöse hineinragen, nicht freimachen können: „Die Sünde ist schwarz und die Tugend weiß.“

Die Analyse ist nicht neu, doch Fanon geht von Buch zu Buch immer weiter. Sein letztes, 1961 erschienenes Werk „Die Verdammten dieser Erde“6 zeigt, dass die „Trennung“ innerhalb einer rassistischen und/oder kolonialen Gesellschaft unausweichlich eine rassistische Sprache hervorbringt: „Manchmal geht dieser Manichäismus bis ans Ende seiner Logik und entmenschlicht den Kolonisierten.“ Oder, wie es Sartre während des Algerienkriegs7 ausgedrückt hat, das koloniale System macht ihn zum „Untermenschen“.

Fanon folgert: „Genau genommen, es vertiert ihn. (…) Man macht Anspielungen auf die kriecherischen Bewegungen des Gelben, auf die Ausdünstungen der Eingeborenenstadt, auf die Horden, auf den Gestank, auf das Gewucher und Gewimmel, auf das Gestikulieren. (…) Diese galoppierende Vermehrung, diese hysterischen Massen, diese Gesichter, aus denen jede Menschlichkeit gewichen ist, diese aufgetriebenen Körper, die an nichts mehr erinnern, diese Kohorte ohne Kopf noch Schwanz, diese Kinder, die niemand zu gehören scheinen, diese der Sonne preisgegebene Faulheit, dieser vegetative Rhythmus, all das gehört zum kolonialen Vokabular.“ Und dieses ist, man muss es sagen, bis heute nicht aus unseren Breitengraden verschwunden, woran die Musikgruppe Zebda mit ihrem Titel „Le bruit et l’odeur“ aus dem Jahr 1995 erinnert.(8 )

Die „Vertiertheit“ des Eingeborenen rechtfertigt die Behandlung, die man ihm zumutet: „Disziplinieren, abrichten, niederknüppeln und neuerdings befrieden sind die Vokabeln, die von den Kolonialisten in den besetzten Gebieten am meisten gebraucht werden.“ Der Algerienkrieg ist nur die letzte Konsequenz eines auf „Stärke“ und Verachtung basierenden Systems. So heißt es in der Einleitung zu „L’An V de la Révolution algérienne“(9 )(Im fünften Jahr der algerischen Revolution) von 1959, dass der französische Kolonialismus seit Beginn des Krieges „vor keiner Form der radikalen Politik zurückgeschreckt ist, weder vor Terror noch vor Folter“.

Doch die Rechnung geht nicht auf: „Die Unterdrückungsaktionen, weit davon entfernt, den Elan zu brechen, beschleunigen noch den Fortschritt des nationalen Bewußtseins“, analysiert Fanon in „Die Verdammten dieser Erde“. „Wenn nämlich mein Leben das gleiche Gewicht hat wie das des Kolonialherrn, dann schmettert mich sein Blick nicht mehr nieder, läßt mich nicht mehr erstarren, seine Stimme versteinert mich nicht mehr. Ich bin nicht mehr verwirrt in seiner Gegenwart. Ich pfeife auf ihn. Nicht nur, daß seine Gegenwart mich nicht mehr stört, sondern ich bin schon dabei, ihm eine Falle nach der anderen zu stellen, sodaß er bald keinen andern Ausweg mehr haben wird als die Flucht.“ Mit der körperlichen Befreiung verliert der Kolonisierte seine Angst und stürzt sich mit Leidenschaft in den Unabhängigkeitskampf.

In „Die Verdammten dieser Erde“ heißt es: „Die Dekolonisation ist immer ein gewaltsames Phänomen.“ Denn Gewalt ruft Gewalt hervor, und wenn der Unterdrücker gewaltsam bis in jeden Winkel vordringt, ist friedlicher Widerstand schwierig: „Alle Denkmäler (…), alle diese auf dem kolonialen Boden aufgebauten Conquistadoren bedeuten immer nur ein und dieselbe Sache: ,Wir stehen hier durch die Gewalt der Bajonette …‘ Die Fortsetzung ist leicht zu finden.“ Wie die Antwort der Unterdrückten aussieht, ist klar.

Rechtfertigt Fanon also die Gewalt? Nicht in jedem Fall, daran lässt die Einleitung zu „L’An V de la Révolution algérienne“ keinen Zweifel: „(…) wir verurteilen jene Brüder, die sich voller Bedrängnis mit fast physiologischer Brutalität, wie sie eine jahrhundertealte Unterdrückung gebiert und unterhält, in die Aktion stürzen.“ Trotz alldem lädt Fanon zu einem Verständnis dafür ein, wie Gewalt entsteht und dass sie für die Unterdrückten oft der einzige Ausweg ist, um sich von ihr zu befreien. Seine Beschreibung der zweigeteilten kolonialen Gesellschaft mit ihrer „Trennungslinie“, die „durch Kasernen und Polizeiposten markiert“ wird, erinnert an unsere gesicherte, mitnichten aber befriedete Welt, die selbst den „Radikalismus“ erzeugt, den sie angeblich bekämpfen will.

Hellsichtig analysiert Fanon auch die Zukunft der dekolonisierten Länder, in denen eine „(un-)authentische nationale Bourgeoisie“ die Macht an sich reißt und dem Volk „das intellektuelle und technische Kapital“ vorenthält. Als Beispiel führt er Lateinamerika an und warnt davor, dass solche Länder zu bloßen Tourismuszielen mit „Vergnügungskuren für die westliche Bourgeoisie“ werden könnten. Fanon seziert die Bereitschaft dieser „zynischen“ Bourgeoisie, die nationale Einheit zu zerstören und auf „Regionalismus“ zu setzen.

Und er kommt zu dem Schluss: „Dieser unerbittliche Kampf, den sich die ethnischen Gemeinschaften und die Stämme liefern, diese aggressive Bemühung, die durch die Abreise der Fremden frei gewordenen Posten zu besetzen, lassen auch religiöse Streitigkeiten entstehen. (…) In den Großstädten erlebt man (…) die Konfrontation der beiden großen Religionen: Islam und Katholizismus.“ Sogar auf die Gefahr einer Einheitspartei weist Fanon hin, die die Vergangenheit missbrauchen könnte, um das Volk „einzuschläfern“. Wie viele Länder Afrikas fallen einem bei dieser Warnung ein? Algerien vielleicht, wo der 1961 verstorbene Fanon für die algerische Befreiungsfront als Sprecher arbeitete?

Es wäre falsch, wenn in Reaktion auf den Kolonialismus eine angeblich schwarze Kultur zum einzigen Horizont erklärt würde. „Diese historisch bedingte Notwendigkeit, die die afrikanischen Intellektuellen ihre Ansprüche ,rassisieren‘ läßt, sodaß sie mehr von der afrikanischen Kultur als von einer Nationalkultur sprechen, führt sie in eine Sackgasse.“

Hier liegt ein elementarer Unterschied zur Négritude-Bewegung: Fanon will den Kampf universalisieren und dessen Grundzüge systematisch erfassen. Sein Credo findet sich bereits in seinem ersten Buch, in einer Formulierung, die die Anhänger des Kommunitarismus ins Grübeln bringen müsste: „Ich will die Vergangenheit nicht auf Kosten meiner Gegenwart und meiner Zukunft besingen.“ Damit ist das Nachdenken über die Geschichte des Kolonialismus, die – auch daran erinnert Fanon 1952 in „Schwarze Haut, weiße Masken“ – auf der Geschichte Europas fußt, alles andere als erledigt. Tatsächlich beruhe der Kolonialismus auf „Werten“, die dringend überdacht werden müssten: „(…) wiewohl man im Namen der Intelligenz und der Philosophie die Gleichheit der Menschen verkündet, beschließt man in ihrem Namen auch ihre Ausrottung.“

In „Die Verdammten dieser Erde“ spitzt Fanon sein Urteil noch zu: „Verlassen wir dieses Europa, das nicht aufhört, vom Menschen zu reden, und ihn dabei niedermetzelt, wo es ihn trifft, an allen Ecken seiner eigenen Straßen, an allen Ecken der Welt.“ Es sei in diesem Zusammenhang daran erinnert, dass Frankreich zur gleichen Zeit, als es sich vom Nazismus befreite und seinen Wiederaufbau in Angriff nahm, Massaker im algerischen Sétif (Mai 1945) und in Madagaskar (März 1947) anrichtete. Und dann, sobald die Schlacht beendet war, den senegalesischen und marokkanischen Infanteristen, die an seiner Seite gekämpft hatten, den Rücken kehrte. Wir sollten auf diese Stimme hören, die vor mehr als vierzig Jahren eine womöglich auch für uns gültige Wahrheit formulierte: „Wir können heute alles tun, vorausgesetzt, dass wir nicht Europa nachäffen, vorausgesetzt, daß wir nicht von der Begierde besessen sind, Europa einzuholen. Europa hat ein derart wahnsinniges und chaotisches Tempo erreicht, daß es heute jedem Piloten, jeder Vernunft davonrast und sich in einem entsetzlichen Taumel auf Abgründe hin bewegt, von denen man sich lieber so schnell wie möglich entfernen sollte.“

Fußnoten:
(1) Erschienen bei Editions du Seuil, Paris, mit einem Vorwort des Sartre-Schülers Francis Jeanson. Auf Deutsch bei Syndikat Autoren- und Verlagsgesellschaft, Franfurt am Main 1980, übersetzt von Eva Moldenhauer.
(2) 1953 wurde Fanon Chefarzt der psychiatrischen Klinik von Blida-Joinville in Algerien. Ab Juni 1957 war er Sprecher der FLN.
(3) Frankfurt am Main (Suhrkamp) 1966, S. 40.
(4) Vorwort zu Léopold Senghors „Anthologie de le poésie nègre et malgache“, Paris (Presses universitaires de France) 1948.
(5) Alice Cherki, „Frantz Fanon. Ein Porträt“, Hamburg (Edition Nautilus) 2002.
(6) Das Buch erschien bei François Maspero mit einem Vorwort von Jean-Paul Sartre und war zunächst verboten. Fanon war unheilbar an Leukämie erkrankt, drei Tage bevor er in einem Krankenhaus in den USA starb, erhielt er ein druckfrisches Exemplar. Nach seinem Willen wurde er in einem befreiten algerischen Dorf begraben.
(7) Siehe Anne Mathieu, „Die Entdeckung der Kolonisierten. Jean-Paul Sartre und die Folter im Algerienkrieg“, Le Monde diplomatique, November 2004.
(8) Das Lied ist von Jacques Chirac inspiriert, der sich über den von Migranten verursachten „Lärm und Gestank“ geäußert hatte.
(9) Erschienen bei Maspero. Das letzte Kapitel wurde in großen Teilen in Les Temps Modernes veröffentlicht.
Aus dem Französischen von Uta Rüenauver




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