Libyen. Photo: anarkismo.net
Die letzten Nachrichten gestern kurz vor Mitternacht aus Libyen:
dpa:
„Gaddafi-Sohn soll Doktorarbeit gefälscht haben“
AFP:
„US-Kriegsschiff nimmt Kurs auf Libyen“
Der Dramatiker Heinrich von Kleist ist gerade wieder sehr gefragt – sein Partisanen-Agitationsstück, seine Romantik, sein Selbstmord. „Sterben gelingt jedem, aber Eigensinn ist Leistung,“ meinte kürzlich der unermüdliche Kleist-Inszenierer Armin Petras. Der Spiegel interviewte jetzt seinen Nachfahren Ewald von Kleist, ehemals Wehrmachtsoffizier und verhinderter Hitler-Attentäter, jetzt Rentner – über Bundeswehrsoldaten im Afghanistan-Einsatz:
Der Spiegel: Ein Argument für das deutsche Engagement lautet, dass die Drahtzieher des Anschlags vom 11. September 2001 in Afghanistan gesessen hätten. Es war, so heißt es, ein Angriff, der den Bündnisfall im Rahmen der Nato ausgelöst habe. Daher habe die Bundeswehr den Kampf der USA gegen den islamistischen Terrorismus unterstützen müssen…
E.v.Kleist: Es stimmt, dass die USA nach dem 11. September 2001 dem internationalen Terrorismus den Krieg erklärt haben. Aber gegen welchen Staat? Wieso ist das ein Krieg? Wer ist der Feind?
Der Spiegel: Der Feind, das sind die Taliban in Afghanistan und das Terrornetzwerk al-Qaida.
E.v.Kleist: Al-Qaida ist eine Chimäre. Es gibt keine Organisation. Es gibt keinen Staat, gegen den man Krieg führen kann, sondern man führt Krieg gegen eine Idee.
Der Spiegel: Die Bundeswehr verteidigt in Afghanistan universelle Werte, die Menschenrechte. Ist das kein ehrenwertes Ziel?
E.v.Kleist: Die Frage ist doch: Ist es richtig, dass unsere Leute dafür sterben müssen, dass in Asien die Mädchen zur Schule gehen können? Das scheint mir nicht so klar zu sein.
Der Spiegel: Wofür lohnt es sich zu sterben?
E.v.Kleist: Es ist nur dann gerechtfertigt, das Leben deutscher Soldaten zu riskieren, wenn vitale Interessen gefährdet sind. Was vitale Interessen sind, muss man im Einzelfall entscheiden. Dann muss man prüfen, ob man die Mittel hat, seine Ziele zu erreichen. Und schließlich muss ich mich fragen: Wie komme ich wieder raus? Erst wenn man eine überzeugende Antwort auf diese Fragen hat, ist ein militärischer Einsatz gerechtfertigt.
Der Spiegel: Wenn Sie die militärischen Einsätze der Bundeswehr in den vergangenen 20 Jahren rückblickend betrachten: Hat irgendeiner dieser Einsätze Ihre Kriterien erfüllt?
E.v.Kleist: Mein Gedächtnis ist vielleicht nicht das beste. Mir fällt im Augenblick nichts ein, wo ich sehr erfreut war. Nehmen wir mal Somalia. Da wurde die Bundeswehr hingeschickt, um Brücken und Straßen zu bauen. Das ist ja dummes Zeug, so etwas.
Der Spiegel: Aber wer sollte einen Atom-Krieg führen? Die Atommächte USA und Russland bemühen sich um Abrüstung. US-Präsident Barack Obama hat sogar das Ziel „Global Zero“, also die weltweite Abrüstung aller Atomwaffen, ausgegeben.
E.v.Kleist: Diese Vorstellung einer atomwaffenfreien Welt von Obama ist Quatsch. Kein Mensch, der bis fünf zählen kann, glaubt daran. Aber die Atomwaffen Russlands und der USA sind auch nicht das Problem.
Der Spiegel: Welche Waffen sind es dann?
E.v.Kleist: Wir sitzen hier und unterhalten uns, weil in der Vergangenheit die großen Atommächte, nämlich Amerika und Russland, die gleiche Einstellung zu Tod und Leben hatten. Beide sagten: Leben ist gut, Tod muss verhindert werden. Das sehen nicht mehr alle Länder so.
Der Spiegel: Wen meinen Sie konkret?
E.v.Kleist: Wir können uns noch alle an die Bilder erinnern, wie die iranischen Kinder mit grünen Bändern um die Stirn in die Maschinengewehrgarben der Iraker liefen. Die Eltern haben das geschehen lassen, weil sie glaubten, ihre Kinder erfüllten den Willen Allahs.
Der Spiegel: Atomwaffen spielten damals keine Rolle…
E.v.Kleist: Nein, aber in dem Wandel der Einstellung zu Leben und Tod liegt ein ganz entscheidender Punkt. Bin Laden hat vor einiger Zeit gesagt: Der Unterschied zwischen uns und euch ist: Ihr liebt das Leben, wir lieben den Tod. Ich fürchte, er hat recht.
Der Interviewte Wehrmachtsoffizier und angebliche Widerstandskämpfer wiederholt hier, was bereits zur Veränderung der Nato-Strategie nach der Auflösung der Sowjetunion geführt hat:
Auf der Bonner Hardthöhe erläuterte uns 1998 ein Bundeswehr-Major die neue NATO-Verteidigungsdoktrin – die gegen einen solchen oder ähnlichen neuen “Sinnzusammenhang” (Navid Kermani) gerichtet ist: “Sie ist nicht mehr nach Rußland hin angelegt, die russischen Soldaten haben inzwischen die selbe Einstellung zum Krieg wir wir auch – sie wollen nicht sterben! Außerdem ist die Stationierung von Atomwaffen in Ungarn und Polen z.B. so gut wie gesichert, es geht eigentlich nur noch darum, wie viel wir dafür zahlen müssen. Ganz anders sieht es jedoch bei den Arabern aus, mit dem Islam. Deswegen verläuft die neue Verteidigungslinie jetzt auch” – Ratsch zog er hinter sich eine neue Landkarte auf – “etwa hier: zwischen Marokko und Afghanistan”.
AP meldete gestern kurz vor Mitternacht aus Bahrain:
Dort sind erneut tausende Menschen auf die Straße gegangen, um gegen die Führung des Landes unter König Hamad bin Issa el Chalifa zu protestieren. „Wir sind alle Brüder, Sunniten und Schiiten“, skandierten am Dienstag die mehrheitlich schiitischen Demonstranten in der Hauptstadt Manama. Bei der Kundgebung liefen Frauen und Männer strikt getrennt voneinander auf unterschiedlichen Straßenseiten.
Die Proteste in Bahrain hielten damit die dritte Woche in Folge an. Die Protestbewegung wird in dem rund eine Million Einwohner zählenden Königreich mehrheitlich von der schiitischen Bevölkerung getragen, die sich durch die sunnitische Herrscherdynastie benachteiligt sieht.
Die Situation in Oman ist unverändert – wie AP gestern in einer Zusammenfassung meldete:
Auch im Oman wird das Herrscherhaus angesichts anhaltender Proteste immer nervöser. Während in der Hauptstadt Maskat noch Tausende Anhänger von Sultan Kabus bin Said ein Ende der Unruhen forderten, protestieren im Nordwesten des Landes weiterhin die Regierungsgegner. Die Regierung stationierte deshalb zusätzliche Sicherheitskräfte nördlich von Maskat sowie in der Nähe der Grenze zu den Vereinigten Arabischen Emiraten.
Der Machthaber hatte nach den Protesten am Wochenende die Schaffung von 50.000 neuen Regierungsstellen sowie monatliche Bezüge für Arbeitssuchende in Höhe von 150 Rial (knapp 300 Euro) angekündigt. Bereits am Samstag hatte er sechs Kabinettsmitglieder ausgetauscht.
Im Persischen Golf zwischen dem Oman und dem Iran liegt die Straße von Hormus, der Schifffahrtsweg für rund 40 Prozent aller Öltanker weltweit. Durch seine Verbindungen nach Teheran und Washington spielt der Oman außerdem eine wichtige Vermittlerrolle zwischen dem Iran und den USA.
Aus dem Iran meldete AP gestern:
Die iranische Polizei hat Berichten zufolge am Dienstag Tränengas und Schlagstöcke gegen Demonstranten eingesetzt, die für die Freilassung zweier Oppositionsführer auf die Straße gingen. In Teheran habe es mehrere Kundgebungen gegeben, berichtete die der Opposition nahestehende Website kaleme.com. Die Teilnehmer forderten demnach die Freilassung von Mir Hossein Mussawi und Mahdi Karrubi, die offenbar ins Gefängnis gebracht wurden.
Die Zusammenstöße waren laut Augenzeugen die schwersten in Teheran seit zwei Wochen. Sicherheitskräfte seien mit beispielloser Gewalt gegen Demonstranten vorgegangen, hieß es auf kaleme.com. Es seien Schüsse zu hören gewesen.
Aus Saudi-Arabien meldete Reuters gestern:
Saudiarabische Behörden haben einen schiitischen Geistlichen während einer Predigt im Osten des Landes festgenommen. Dies berichteten Menschenrechtsorganisationen am Dienstag. Die Festnahme sei bereits am Freitag erfolgt. Tawfik al-Amir habe eine konstitutionelle Monarchie gefordert und sich für ein Ende von Korruption und Diskriminierung ausgesprochen. Er sei kurz vor Ende seiner Predigt festgesetzt worden. Eine offizielle Bestätigung für den Vorfall gab es zunächst nicht.
Anleger reagierten nervös auf die Nachrichten aus Saudi-Arabien. Der Aktienmarkt des weltgrößten Ölexporteurs stürzte auf den tiefsten Stand seit mehr als zwei Jahren ab. Es wird befürchtet, dass die Unruhen aus Nordafrika und Bahrain auch auf Saudi-Arabien übergreifen. Zuletzt waren in dem Land immer mehr Rufe nach Reformen laut geworden. Diese werden überwiegend über E-Mail und Facebook verbreitet. Über Facebook rufen Aktivisten zu Protesten am 11. und 20. März auf.
Das Schweizer Fernsehen meldete heute morgen aus Libyen:
Der libysche Machthaber Gaddafi stemmt sich weiterhin mit Gewalt gegen eine Niederlage. Die Aufständischen haben begonnen, sich zu organisieren und bereiten sich auf Angriffe seiner Truppen vor. Unterdesssen verschlechterte sich die humanitäre Situation am Dienstag zusehends.
Die österreichische Kleine Zeitung schreibt über die Situation in Libyen:
„Keine Intervention von außen, das libysche Volk schafft das allein“, steht auf einem großen Banner, das die Aufständischen an der Corniche von Benghazi aufgehängt haben. Auch der neue Nationalrat der neun Städte in der Cyrenaika stößt in das gleiche Horn. Man begrüße internationale Hilfen, erklärte Sprecher Abdel Hafiz Ghoqa. „Für die Befreiung von Tripolis jedoch setzen wir allein auf unsere Armee.“ Doch deren Kommandeure zweifeln, ob sie der gewünschten Heldenrolle gerecht werden können.
Gaddafi dagegen kontrolliert nach wie vor die wichtigsten Militärbasen Bab al-Azizia in Tripolis und Al-Gardabiyya in Sirte, wo er abwechselnd zu wohnen pflegt. „Wenn die UN und die USA uns helfen wollen, sollten sie diese beiden Militärzentren angreifen und über ganz Libyen eine Flugverbotszone errichten“, meint ein Fliegeroberst. Den Rest könne das Volk aus eigener Kraft schaffen.
Reuters meint dazu:
Ein militärisches Eingreifen ausländischer Mächte in Libyen zeichnet sich trotz der Verlegung von US-Truppen in die Region und drängenderer Rücktrittsforderungen an Machthaber Muammar Gaddafi nicht ab.
Al Dschasira meldete kurz nach Mitternacht aus Benghasi:
The „Feb 17 Voices“ campaign, which allows people in Libya to record audio messages and then disseminates these through the AudioBoo website, has a new update up, purportedly from Benghazi. The person on the line says that things are beginning to return to normal in the city, with some shops opening and people returning to their places of work for limited hours. He also says a „volunteer army“ has been set up to protect the city.
Der taz-Korrespondent Karim El-Gawhary berichtet heute aus Benghasi:
Eine Revolution will auch ihre Bürokratie haben. Und so gibt es nun das „Pressezentrum der Revolution der Jugend des 17. Februar“, direkt am Platz des Gerichts im Zentrum Bengasis gelegen. Gegen Vorlage eines Passes und eines internationalen Presseausweises werden die ersten Presseausweise des befreiten Libyen ausgehändigt. Natürlich darf der rot-schwarz-grüne Streifen nicht fehlen, die Farben der Revolution. Daneben lächelt der antikoloniale Volksheld Omar Mukhtar den ausländischen Journalisten an.
Die libysche Revolution hat noch keine Köpfe und will sie vielleicht auch gar nicht haben und präsentieren. Wie in Ägypten und Tunesien reagiert man auch hier nach vier Jahrzehnten Gaddafi allergisch auf politische Personenkulte. Also muss der alte Omar Mukhtar als Gesicht der Revolution herhalten, der einst den Aufstand gegen die italienischen Kolonialherren angeführt hatte.
Während die ausländischen Journalisten mit den ersten revolutionären Dokumenten ausgerüstet werden, hat auch die Arbeit der lokalen Journalisten begonnen. In einen Raum neben dem neuen Pressezentrum befindet sich die Redaktion der ersten unzensierten arabischen libyschen Tageszeitung mit dem Namen Freies Libyen. Der Raum, halb so groß wie eine Schulklasse, ist vollgestopft mit Tischen, Laptops und vor allem eifrig arbeitenden Menschen. Immerhin 62 freiwillige Mitarbeiter hat das Projekt, das im Moment am Ende des Tages 5.000 Exemplare herausbringt. Heute ist die fünfte Ausgabe herausgekommen; mit ihren großen Buchstaben, den vielen Fotos, gedruckt auf dickem Papier, wirkt sie noch eher wie eine Schülerzeitung. Das Marketing ist einfach: Das Blatt wird einfach ein paar Schritte weiter entfernt auf dem Platz des Gerichts verteilt, der sich in der vergangenen Woche, wie in Ägypten der Tahrir-Platz, in Bengasi zum Zentrum der Revolution gewandelt hat.
Schon an den Gaddafi-Karikaturen an der Wand des Redaktionsraums sieht man sofort, dass neue Zeiten angebrochen sind. „Bla, bla, bla“, sagt ein derangiert gezeichneter Gaddafi, Schluss mit den Lügen fordert ein jugendlicher, smart dreinblickender Zuhörer.
In der Ecke des Raums, dem einzigen Ort, wo man Platz findet, steht der Chefredakteur Mohammed al-Munifi. Er hat heute wenig Zeit, seine Zeitung zu leiten, da er ständig den ausländischen Journalisten, die vom Nebenraum, dem Pressezentrum, zu ihm kommen, Rede und Antwort stehen muss. „Als Gaddafis Truppen verschwunden waren, hatte ich das Gefühl, die Sonne geht auf, und ich habe mit Freunden sofort mit dieser Zeitung begonnen“, erzählt er. Das sei ein alter Traum von ihm gewesen, einmal in Libyen eine freie Zeitung herauszugeben. Unterstützung bekommt er von vielen Seiten. „Es gibt sieben Druckereien, die wünschen, dass sie unsere Zeitung unentgeltlich drucken dürfen“, sagt er. Leute kämen und sagen, sie seien bereit, ohne Lohn zu arbeiten, und reiche Leute spendeten Geld, erklärt er das Finanzmodell der Zeitung. „Da merkt man, wie wichtig den Leuten in Bengasi diese Zeitung ist“, schließt al-Munifi.
Ein paar Kilometer weiter, die Küstenstraße entlang Richtung Osten, befinden sich die Lagerhalle und ein Sendemast des ehemaligen staatlichen Radios von Gaddafi. Eine Gruppe übergelaufener Soldaten bittet den Besucher freundlich herein in die neue Zentrale von Radio Freies Libyen. Das Studio drinnen ist noch sehr einfach eingerichtet: In einem nicht schallgedämpften Büro hat man auf den Schreibtischen ein paar Mikrofone aufgebaut. Dort sitzen eine Moderatorin, ein Moderator und zwei Techniker, die immer mal wieder rufen, dass doch endlich jemand die Tür zumachen solle. Denn draußen auf dem Gang wird heftig diskutiert. Der Enthusiasmus der Mitarbeiter ist mehr wert als die bescheidene Ausrüstung. Man habe keine Zeit gehabt, hier groß etwas aufzubauen, sie wollten einfach nur anfangen in dem Moment, als Bengasi einigermaßen sicher und die Truppen Gaddafis vertrieben waren. Sie hat zwar zwei Töchter im Teenageralter, aber sie wolle gar nicht mehr nach Hause gehen, so sehr genießt sie ihre neue Freiheit, sich ohne Zensur ausdrücken zu können“, erzählt die Radioredakteurin Amina Luheischa, die zuvor 23 lange Jahre beim staatlichen Radio gearbeitet hat. „Heute Morgen, als ich hierhergefahren bin, habe ich im Auto geheult, weil ich es einfach immer noch nicht fassen kann“, erzählt sie.
Als Nachrichtenredakteurin zu Gaddafis Zeiten gab es nur rote Linien, und alles war verboten. Wenn nach der Sendung das Telefon klingelte, sind sie alle zusammengezuckt, blickt sie zurück. Jeder Fehler in den Augen Gaddafis wurde geahndet. Als einmal ein Kameramann Gaddafi sehr unvorteilhaft abgelichtet hatte, war einfach allen Mitarbeitern des staatlichen Fernsehens und Rundfunks für drei Monate der Lohn gestrichen worden, erzählt sie. Es war in den letzten Wochen auch unmöglich gewesen, über die Revolutionen im benachbarten Ägypten und Tunesien zu informieren. „Wir mussten immer nur vom angeblichen Chaos berichten“, schildert Luheischa.
Die Frage, ob sie in ihrem Kopf überhaupt mit der Veränderung mitkommt, bringt sie aus der Fassung. Ihre Stimme bricht. „Wenn ich heute daran denke, dass ich so Sätze geschrieben habe wie ,Muammar Gaddafi, der großartigste Führer Afrikas‘, wird mir ganz schlecht.“ Sie schreibt den Satz noch einmal auf ein Papier, blickt darauf. Eine Träne kullert über ihr Gesicht. „Ich wünschte ich könnte die ganze Zeit meines Publizistikstudiums und meiner 23-jährigen Arbeit als Redakteurin unter Gaddafi wegwaschen“, sagt sie und macht eine Geste, als wolle sie ihr Gesicht waschen.
Ein anderer Ort der Erinnerung, als Gaddafis Truppen noch Bengasi kontrollierten, liegt ein paar Kilometer von der Radiostation entfernt, in der Nähe des Stadtzentrums. „Al-Katiba“ nennen die Libyer bis heute noch ehrfürchtig diesen Ort, „die Militäreinheit“. Hier hatte die letzte Schlacht um die Stadt stattgefunden. Heute ist die Kaserne ein Ausflugsort. Besonders gefragt ist ein Besuch der unterirdischen Gefängnisse. Zu Hunderten pilgern die Menschen von Bengasi dorthin. Sie hatten zuvor keine Ahnung, dass sie existierten. Durch eine schwere Stahltür und eine Treppe runter steht man in dem geheimen Verlies. Licht kommt aus der Öffnung, die die Männer in den Beton hineingeschlagen hatten, als sie die Gefangenen dort gehört und gefunden hatten. „Das war der Ort hinter der Sonne“, flüstert einer der Besucher.
Draußen auf dem Parkplatz der Kaserne herrscht buntes Treiben. Die meisten Libyer erschließen sich das elf Hektar große Gebiet der Kaserne per Auto. Oft, indem sie aus den Fenstern die schwarz-rot-grüne Fahne schwenken, mit drei, vier Kindern auf dem Schoß und hupen. Suliman al-Aguri geht das Ganze ruhig an. Er hat den Motor seines Autos abgestellt und blickt versonnen durch die Windschutzscheibe. Er möchte sich die grausamen Gefängnisse gar nicht ansehen, er sei einfach nur gekommen, um an diesem Ort zu sein und nachzudenken, sagt der Ölingenieur. Er arbeitet auf einem Ölfeld, 250 Kilometer von Bengasi entfernt. Vor einem Monat ist er zu seiner Schicht dorthin gefahren. Er hatte ein Bengasi fest in den Händen Gaddafis zurückgelassen und ist erst heute wieder in seine völlig veränderte Stadt zurückgekommen.
Als er durch die Wüste hierhergefahren ist, habe es stark geregnet, überall schossen gelbe Blumen aus dem Sand, beschreibt er. „Ich habe angehalten, mir angesehen wie die Wüste blüht, und gedacht, mein Gott, Gaddafi ist weg. In diesem Moment“, sagt er, „war ich sicher der glücklichste Mensch der Welt“.
Die Junge Welt berichtet heute aus dem Jemen:
In Jemens Hauptstadt Sanaa sind am Dienstag erneut Zehntausende Menschen auf die Straße gegangen und haben den Rücktritt von Präsident Ali Abdallah Saleh gefordert. »Das Volk will den Sturz des Regimes, das Volk will den Rücktritt von Ali Abdallah Saleh«, riefen die Menschen in Sprechchören. Saleh selbst warf Israel und den USA vor, hinter den Revolten zu stecken und kritisierte US-Präsident Barack Obama scharf. Die Demonstranten folgten mit ihren Protesten dem Aufruf der Opposition zu einem »Tag des Zorns« und blockierten drei Straßen, die zu einem großen Platz nahe der Universität Sanaas führen. Dort campieren seit mehr als einer Woche Studenten und pro-demokratische Demonstranten.
In Sohar im Sultanat Oman hat das Militär mit Panzern Hunderte Demonstranten auseinandergetrieben, die den Zugang zu einer Brücke und eine Hauptstraße in Richtung der Hauptstadt Maskat blockiert hatten. Die Demonstranten waren für mehr Arbeitsplätze und höhere Löhne auf die Straße gegangen. Sie forderten außerdem juristische Ermittlungen gegen korrupte Minister.
Die FAZ hat ein neues Wort erfunden: die „Arabellion“ – und ist so stolz darauf, dass sie es jetzt laufend einsetzt, wobei ihr dieses Wort so etwas wie eine Flutwelle bedeutet:
„Proteste sind im Sultanat Oman äußerst selten. Offenbar schwappen die Unruhen im Nachbarland Jemen und im nahe liegenden Königreich Bahrein auf Oman über.“
Während es in Arabien heißt „Erhebt euch“ gilt hier noch: „Empört euch“, wie der französische Bestseller von Stéphane Hessel heißt. Das FAZ-Feuilleton hat diese flache Broschüre dennoch tiefschürfend besprochen:
„Eine von ihren Anlässen losgelöste Empörungsbereitschaft erscheint hier als die Essenz des Daseins, als ein lebensspendendes Prinzip. Weil sie, die Empörung, ex negativo dazu zwingt, sich an Wertvollem aufzurichten, ein Leben aus Ideen zu führen und damit aus Freiheit statt aus Notwendigkeit.“
Dpa sendete um 14 Uhr 22 ein Interview aus der arabischen Hochburg Oldenburg, das sich u.a. mit der Situation im Libanon befasst:
In vielen arabischen Ländern gehen die Menschen auf die Straße, um sich gegen Unterdrückung zu wehren. Die Proteste gegen die autoritären Regime gehen nach Ansicht des libanesischen Choreographen Omar Rajeh vor allem von jungen Künstlern und Intellektuellen aus. „Kultur spielt eine wichtige Rolle – in der Revolution, aber auch in der Zeit danach“, sagte der 35-Jährige in einem Interview mit der Deutschen Presse-Agentur in Oldenburg. Kultur schaffe die Voraussetzungen für den Wandel, indem sie Identität erzeuge und auf Missstände hinweise. Am Freitag wird in Oldenburg das Tanzstück „Triple Bill“ uraufgeführt, in dem sich Rajeh und zwei andere Choreographen mit den 68ern auseinandersetzen.
Herr Rajeh, Sie kommen gerade aus Beirut. Was haben Sie aus Tunesien, Ägypten und Libyen gehört? Sind Sie mit Freunden dort im Kontakt?
Rajeh: „Ich habe sehr viele Freunde in Ägypten und Tunesien. Wir telefonieren regelmäßig, schreiben uns E-Mails. Ich persönlich halte Veränderungen für sehr wichtig. Aber natürlich fühlen sich Menschen in so einer Zeit auch unsicher. Für mich als Außenstehenden ist es einfacher, die Situation zu akzeptieren. Ich denke aber, dass meine Freunde stolz darauf sind, was sie erreicht haben. Sie haben etwas sehr Wichtiges getan. Ich sage ihnen, dass sie jetzt keine Kompromisse eingehen dürfen.“
Wie ist die Situation im Libanon angesichts der Unruhen?
Rajeh: „Im Libanon ist die Lage recht stabil. Es ist ein offenes Land, das mit Ägypten, Tunesien oder Libyen nicht vergleichbar ist. Die verschiedenen religiösen Gruppen sind an der Regierung beteiligt. Die Vielfalt ist in der Verfassung verankert. Aber natürlich beeinflussen die Ereignisse in den anderen arabischen Ländern auch die Situation im Libanon.“
Inwiefern?
Rajeh: „2005 gab es im Libanon viele Demonstrationen, die zwar zum Abzug der Syrer aus unserem Land führten. Aber der erwartete Wandel blieb aus. Ich hoffe, dass die Proteste zu einer echten Veränderung auch bei uns führen. Ich hoffe, dass die Leute im Libanon endlich bereit für eine Verfassungsänderung sind. Das ist eine uralte Diskussion, doch die verschiedenen religiösen Gruppen konnten sich bisher nicht einigen. Das Problem ist, die Menschen glauben nicht an die Regierung. Sie fühlen sich von ihr nicht repräsentiert.“
Ihre Stücke haben immer einen politischen Hintergrund. Muss Kunst kritisch sein?
Rajeh: „Wie wichtig das ist, zeigt sich jetzt gerade wieder. Die Protestbewegung in Ägypten und Tunesien ist vor allem von jungen Leuten getragen, Künstlern und Studenten. Kultur spielt eine wichtige Rolle – in der Revolution, aber auch in der Zeit danach. Sie erzeugt ein starkes Bewusstsein – für Identität, freie Meinungsäußerung und eine kritische Haltung. Kultur ist immer ein Statement. Sie ist ein wichtiges Instrument für den Wandel. Das zeigt sich auch im Libanon, wo die Künstler-Szene sehr stark ist. Dort ist Kultur ein Bollwerk gegen die Hisbollah.“
Vielleicht deutet dieses Ausweichen auf die Kultur bereits darauf hin, dass der Arabische Aufstand sich seit Anfang der Woche erst einmal wieder abgeschwächt hat – und die Reaktion, einheimische und ausländische bürgerliche Politiker sowie auch Militärs, versucht, das Heft des Handelns, wenn auch vorerst meist nur verbal, in die Hand zu bekommen, also „business as usual“ durchzusetzen. Auch für Revolutionen gilt ein Biorythmus, wenn auch erheblich gestretcht im Vergleich zum normalen von Individuen.
Um 16 Uhr 28 meldete Reuters und ähnlich auch Al Dschasira:
Libyens Machthaber Muammar Gaddafi hat am Mittwoch Angriffe im von Rebellen kontrollierten Osten des Landes gestartet. Regierungstruppen nahmen zumindest zeitweise den Küstenort Marsa El Brega ein. Unklar war, ob die Unterstützer Gaddafis den Ort rund 200 Kilometer südlich von Benghasi, der Hochburg der Aufständischen, halten konnten. Die Rebellen riefen die Vereinten Nationen dazu auf, sie mit Luftangriffen zu unterstützen. Gaddafi warnte in einer vom Fernsehen übertragen Rede das Ausland vor einer Einmischung in die vor zwei Wochen ausgebrochene Kämpfe. An den Rohstoffmärkten sorgte die Angst vor einem langen Bürgerkrieg in dem ölreichen Land für steigende Ölpreise.
Marsa El Brega sei von den Aufständischen wieder zurückerobert worden, sagte Mustafa Gheriani, ein Sprecher der Oppositionsvereinigung „17. Februar“ der Nachrichtenagentur Reuters. Gaddafi versuche sich in psychologischer Kriegsführung, um die Städte zu verunsichern. Dagegen berichtete das staatliche Fernsehen, der Ort sei in der Hand von Gaddafi-loyalen Kräften.
Beobachter gehen nicht von einer großangelegten Gegenoffensive Gaddafis aus, um den Osten des Landes wieder unter seine Kontrolle zu bringen. Man müsse bedenken, dass schon Vorstöße seiner Truppen in der Umgebung seiner Hochburg Tripolis im Westen des Landes mit wenig Mühen abgewehrt worden seien, sagte Shashank Joshi vom britischen United Services Institute.
Allerdings haben die Rebellen ausländische Unterstützung angefordert. Der Nationale Libysche Rat forderte die UN auf, ausländische Luftangriffe auf Söldnertruppen im Dienste Gaddafis zu erlauben. Sprecher Hafiz Ghoga erteilte allerdings dem Einsatz von Bodentruppen in Libyen eine Absage. Zuvor hatten sich arabische Außenminister bei einer Tagung der Arabischen Liga in Kairo gegen den Einsatz ausländischen Militärs ausgesprochen.
Gaddafi drohte, sollten sich ausländische Soldaten in die Kämpfe einmischen, werde viel Blut vergossen. Zugleich bot er an, die Vorfälle in seinem Land von Nato und UN untersuchen zu lassen. Wieder zog er in Zweifel, dass Demonstranten bei friedlichen Protesten getötet worden seien. Es gebe allerdings eine Verschwörung, sich der Erdölreichtümer seines Landes zu bemächtigen. Dem Netzwerk Al-Kaida warf er vor, die Jugend mit Drogen zu den Auseinandersetzungen angestachelt zu haben.
Die USA setzen die Konzentration von Truppen um Libyen fort. Zwei Schiffe der US-Marine für Landungsmanöver mit amphibischen Fahrzeugen und Marineinfanteristen an Bord passierten den Suez-Kanal und nahmen Kurs auf Libyen. „Wir denken über eine ganze Reihe von Optionen nach“, sagte US-Verteidigungsminister Robert Gates. Bislang sei keine Entscheidung getroffen worden, die UN hätten der Anwendung militärischer Gewalt nicht zugestimmt.
Im Osten Libyens versuchte die Oppositionsbewegung sich weiter zu organisieren. Bislang besteht sie aus einem losen Verbund von Stammesführern, Würdenträgern und abtrünnigen Militärangehörigen. „Wir bauen die Armee wieder auf, die fast von Gaddafi und seiner Bande zerstört wurde, bevor sie flohen“, sagte der Offizier Faris Zwei.
Wegen der unklaren Lage in Libyen verteuerte sich der Ölpreis für die Nordseesorte Brent um bis zu 0,8 Prozent auf 116,36 Dollar, die US-Sorte WTI um mehr als ein Prozent auf 100,64 Dollar. „Wenn die Unruhen tatsächlich eskalieren, dürfte wir eine unglaubliche Ölpreis-Rally vor uns haben“, sagte Rohstoff-Experte Ryoma Furumi von Newedge. Allerdings konnten am Dienstag und am Mittwoch nach Angaben aus griechischen Reedereikreisen drei beladene Öltanker aus libyschen Häfen ablegen.
An den Grenzen zu Libyen spitzte sich die Lage weiter zu. Tausende Gastarbeiter aus Bangladesch versuchten nach Tunesien zu gelangen. Die Flüchtlingslager auf tunesischer Seite waren überfüllt. Allein den Grenzübergang Ras Jdir passierten in den vergangenen zwei Wochen 70.000 Menschen. Es wird erwartet, dass weitere hunderttausende Gastarbeiter vor den Kämpfen flüchten werden.
Um 18 Uhr 54 weiß aber dpa angeblich schon:
Muammar al-Gaddafi lässt sich bejubeln. Seine Truppen stoßen derweil im Osten Libyens in von Aufständischen kontrollierte Gebiete vor. Doch die Regimegegner in der Öl-Stadt Al-Brega behaupten ihre Stellung. Truppen des libyschen Staatschefs versuchen, verlorenes Terrain zurückzugewinnen. Erstmals seit Beginn der Unruhen vor zwei Wochen stießen sie heute in von Aufständischen gehaltenes Gebiet im Osten des Landes vor. Eine Offensive gegen die Öl-Stadt Al-Brega südlich von Bengasi scheiterte jedoch am erbitterten Widerstand der Regimegegner. Nach wie vor sind tausende Ausländer auf der Flucht aus dem nordafrikanischen Land.
Seit dem Nachmittag wird Al-Brega wieder komplett von den Aufständischen kontrolliert, sagte ein Polizeioffizier in der nördlich gelegenen Stadt Bengasi der Nachrichtenagentur dpa. Bei den Kämpfen seien dort mindestens 20 Menschen getötet worden. Gaddafi-treue Truppen hätten am Morgen die Öl-Anlagen, den Flughafen und mehrere Wohnviertel angegriffen, Kampfjets ein Waffendepot bombardiert. Al-Brega hat einen Öl-Hafen und eine Raffinerie.
Luftangriffe wurden auch aus der östlich von Al-Brega gelegenen Stadt Adschdabija gemeldet. Auch hier hätten sich die Aufständischen gegen die regimetreuen Truppen behaupten können. 16 Menschen seien ums Leben gekommen, meldete der Nachrichtensender Al-Arabija. Am Nachmittag machten sich Aufständische von Bengasi aus auf in Richtung Adschdabija, um ihren Gesinnungsgenossen Beistand zu leisten.
Die türkische Regierung hat bislang bereits mehr als 21 500 Menschen aus Libyen herausgeholt. Darunter seien vor allem türkische Staatsbürger, aber auch fast 3000 andere Ausländer, teilte der Krisenstab in Ankara mit. Frankreich schickt Großraumflugzeuge und den Hubschrauberträger „Mistral“ nach Tunesien, um den Flüchtlingen zu helfen. Auch Großbritannien hat nach Aussagen von Premierminister David Cameron mehrere Hilfsflüge nach Tunesien geschickt. Sie sollen 6000 Flüchtlinge ausfliegen
An der libysch-tunesischen Grenze kamen erneut tausende Flüchtlinge an. Das UN-Flüchtlingshilfswerk UNHCR stellte weitere Zelte in der Region auf. Die EU verdreifachte ihre Soforthilfe auf zehn Millionen Euro. Zudem wurde das gemeinsame Krisenzentrum für Katastrophenschutz (MIC) alarmiert. „Die Lage erfordert eine Antwort der internationalen Gemeinschaft“, sagte Barroso und sprach von einer „humanitären Katastrophe“. Nach jüngsten Schätzungen seien rund 140 000 Menschen auf der Flucht.
Knapp 350 nordafrikanische Flüchtlinge aus Tunesien erreichten in der Nacht zum Mittwoch auch die italienische Insel Lampedusa. Ob es sich bei den Flüchtlingen nur um Tunesier oder auch um geflohen Libyer handelt, war zunächst unklar. Mitte Februar hatten in nur wenigen Tagen mehr als 5000 Menschen aus Tunesien die Insel erreicht. Eine griechische Fähre mit über 200 Chinesen an Bord erreichte die Hafenstadt Heraklion auf der Insel Kreta. Insgesamt sind nach Angaben der Behörden bislang fast 14 000 Chinesen in Kreta eingetroffen.
Aufgrund der unsicheren Lage in den arabischen Ländern kam es an den Aktienmärkten der Region zu Panikverkäufen und Kursstürzen.
Libyen. Photo: talkfinance.net