„Rebellen nehmen Sawija ein“/“Rebellen sammeln sich zum Marsch auf Tripolis“/“So sieht Anarchie in Libyen aus“. Photo: orf.at/spiegel.de/welt.de
Die taz beschäftigt sich heute ausführlich mit Libyen. Beate Seel schreibt:
„Solange die Rebellen im Osten sich im Wesentlichen einig bleiben, ist es derzeit, auch wegen des Überlaufens von Teilen der Armee, schwer vorstellbar, dass das Regime die Region im Osten das Landes zurückerobert. Ein solcher Versuch wie auch massive Angriffe auf die Rebellen im Westen würden auf internationaler Ebene zu einer verstärkten Diskussion über ein militärisches Eingreifen führen.
Zwar zeigen sich in Bengasi erste Friktionen über eine alternative Führung. Nach Jahrzehnten ohne unabhängige Organisationen ist das aber nicht überraschend. Differenzen und Rivalitäten bei den Modalitäten des Übergangs gibt es auch anderswo. Die zügigen Ansätze, eine neue Selbstverwaltung aufzubauen, weisen zunächst einmal in die richtige Richtung.“
Der Kairoer taz-Korrespondent Karim El-Gawhary, der nach meinem Überblick das Problem der Selbstorganisation im Allarabischen Aufstand bisher am gekonntesten in den Blick genommen hat, berichtet über die „Heerscharen von Freiwilligen“ in Benghasi, die sich in Schnellkursen zur militärischen Verteidigung ihrer befreiten Stadt ausbilden lassen.
Daneben findet sich in der taz ein Interview mit dem libyschen Schriftsteller Ibrahim al-Koni:
„Es geht nicht um Brot!“
Kann die libysche Armee als ordnende Kraft auftreten, wie in Ägypten?
Die Armee in Libyen war immer zerstückelt und verstreut über das ganze Land, damit sie Gaddafi nicht gefährlich werden konnte. Der große Teil der Armee ist im Osten und er hat sich auf die Seite der Demonstranten geschlagen. Dieser Landesteil ist befreit, die ausländischen Söldner wurden gefangen genommen.
Was wird nach dem Aufstand kommen?
Ich weiß eines: Dass Libyen nie wieder so wie früher sein wird. Die Menschen haben dieses Regime sehr lange geduldet. Sie haben sehr lange auf Änderungen, auf Reformen gewartet. Sie haben zu viel verziehen und wurden dabei immer enttäuscht. Was kann man da erwarten, wenn immer Reformen versprochen werden und grundlegende Änderungen – 42 Jahre lang. Und jedes Mal wurden sie enttäuscht. Ich weiß nicht, was ein Herrscher eines Landes erwarten kann, dem 42 Jahre gegeben wurden, um etwas zu verändern. Das Regime hat sich diesen Aufstand selbst gezüchtet. Libyer waren in der Geschichte immer ein sehr duldsames Volk. In religiöser, in kultureller, in ethnischer Hinsicht: da lebten alle Nationen der Welt. Es kam ein Regime mit Parolen gegen Panarabismus, gegen Tuaregs, gegen Berber, gegen andere Völker, und das wurde alles geduldet. Dann der wirtschaftliche Druck, keine Meinungsfreiheit und so weiter.
Geht es den Libyern tatsächlich um Demokratie und Meinungsfreiheit? Oder ist das eine westliche Wunschvorstellung und die Leute revoltieren, weil sie so arm sind?
Es geht in Libyen eben nicht um das Brot. Die Frage des Brotes steht nicht zur Diskussion. Es geht nicht um Armut. Die eigentliche Frage ist die Frage der Demokratisierung, der Reformen, der Meinungsfreiheit, Pressefreiheit, und natürlich die Korruption. Korruption ist eine schreckliche Sache! Und die Leute haben sehr lange dieses System ertragen. Und jedes Mal haben sie sich selbst was vorgemacht und wurden wieder enttäuscht. Sie fühlen sich betrogen. Und deswegen sind die Leute jetzt bereit zu sterben, und es ist ihnen egal. Und das libysche Volk hat bewiesen, dass es das heroischste Volk der Welt ist. So etwas gab es noch nie. Weder die Französische Revolution, noch die Ägyptische, noch die Tunesische, weder im Iran, noch auf Kuba. Dass Menschen sterben und mit bloßen Händen ins Schießfeuer gehen. Seit zwei Wochen schon.
Warum konnte sich das Regime so lange halten?
Wegen der Toleranz und der Duldsamkeit der Menschen. Wegen ihrer Güte. Weil sie abwarten, weil sie versuchen zu verzeihen. Libyen hat ertragen, ertragen, und wissen Sie, was das Schlimmste ist? Es hat diese Schande ertragen. Gaddafi hat die Geschichte Libyens geschändet. Und seine Gegenwart. Was ist das für ein Politiker? Die Libyer sind ein ernstes Volk. Und sehr fähig. Und sehr tolerant. Schade, dass ich nicht in Libyen war. Ich lebe ja in der Fremde in Europa, seit 42 Jahren. Als Gaddafi an die Macht kam, bin ich in die Sowjetunion geflohen, wo ich am Gorki-Institut in Moskau studiert habe.
40 Jahre unter Gaddafi sind eine lange Zeit. Gibt es überhaupt noch gesellschaftliche Gruppen, die das Land organisieren können?
Selbstverständlich wurden alle Teile des gesellschaftlichen Lebens zerstört und unterdrückt und vernichtet. Aber der Geist der Freiheit, der Wille zur Freiheit, zum wirklichen Leben, zum Guten, ist nicht gestorben. Das haben diese Ereignisse bewiesen. Die Libyer haben sich gewehrt und sie halten immer noch durch.
Fürchten Sie, dass nach Gaddafi ein noch schlimmerer Diktator kommen wird?
Nein. Dann wird alles besser. Obwohl alles besser wäre, als das, was jetzt ist. Das Volk wird nie mehr zulassen, dass sich so etwas wiederholt, dass man es noch einmal so betrügt.
(Übersetzung aus dem Russischen: Vladimir Viro)
In der FAZ schreibt der libysche Schriftsteller Hisham Matar, der mit seinem ersten Roman „Im Land der Männer“ 2006 bekannt wurde:
„Gaddafi hat meinen Vater eingesperrt und sein Volk unterdrückt. Jetzt, da das Ende seiner narzisstischen Kampagne endlich naht, fühle ich mich wieder als Libyer. In den letzten Tagen hat sich etwas Grundlegendes verändert. Ich spüre es im ganzen Körper. Ich habe nicht in den Spiegel geschaut, aber vor meinem inneren Auge sehe ich, dass die Traurigkeit im Blick gewichen ist. Muammar al Gaddafi, der Libyen in den letzten 42 Jahren heimgesucht hat, ist immer noch da, doch die Geschichte hat ihn überholt. Man kann sich Libyen unmöglich weiterhin mit ihm vorstellen.
Ich bin vierzig Jahre alt. Ich kenne kein Libyen ohne Gaddafi. Jetzt, da ich den Sturz der Diktatur und, wichtiger noch, den Aufstieg des Volkes erlebe, wird mir klar, dass mein Heimatland für mich bisher in erster Linie eine Quelle der Angst, des Schmerzes und der Scham war. Nun ist es eine Quelle der Freude und des Stolzes.
Trotz ihrer großen zeitlichen und geographischen Nähe zu den Erhebungen in Tunesien und Ägypten ist die libysche Revolution doch in mancherlei Hinsicht einzigartig. Das zu sehen ist besonders beglückend, weil Gaddafis Projekt immer eine narzisstische Kampagne war, in der er sein Volk nach seinen Vorstellungen formen wollte. Jetzt können wir erkennen, dass er gescheitert ist und der menschliche Geist immer nach dem Licht streben wird.
Die Libyer, die in Benghasi zwischen dem Gerichtsgebäude und dem Strand tanzen, sich an den Händen halten und singen: „Wir bleiben hier, bis der Schmerz nachlässt“, entdecken aufs Neue alles, was schön an Libyen ist: unseren hartnäckigen Widerstand gegen den Faschismus (Mussolinis oder Gaddafis), unsere Liebe zur Mäßigung, unsere mediterrane Weltoffenheit, unseren Humor und unsere Lieder. Ich weiß nicht, was Gaddafi meinem Vater angetan hat, aber ich weiß, dass es ihm nicht gelungen ist, den libyschen Geist zu töten.
(Aus dem Englischen von Michael Bischoff.)
Die FAZ meldet außerdem:
Der libysche Machthaber Muammar al Gaddafi rekrutiert offenbar im großen Stil Söldner in seinen südlichen Nachbarländern, insbesondere unter den Tuareg in Mali und Niger. Nach Angaben von malischen Regionalabgeordneten aus der nordmalischen Stadt Kidal, einem traditionellen Siedlungsgebiet der Tuareg, haben sich bereits Hunderte Männer nach Libyen aufgemacht. Unter ihnen befinden sich nach Angaben des Bürgermeisters von Kidal zahlreiche ehemalige Rebellen. Gemutmaßt wird auch, dass einer der letzten Rebellenführer der malischen Tuareg, Ibrahim Ag Bahanga, sich inzwischen in Libyen aufhalte. Mali und Niger waren in den neunziger Jahren Schauplatz von Tuareg-Aufständen, die mutmaßlich von Libyen unterstützt wurden.
In der Nacht auf Mittwoch kommt um 5 Uhr 30 via Reuters eine kuriose Meldung von Al Dschasira:
Gaddafi und Chavez einigen sich auf Friedensplan.
Libyen und Venezuela haben sich dem Fernsehsender Al-Dschasira zufolge auf einen Friedensplan zur Beilegung der Krise in dem nordafrikanischen Land geeinigt. Der Plan sei ein Vorschlag des venezolanischen Präsidenten Hugo Chavez, ein enger Verbündeter von Machthaber Muammar Gaddafi, berichtete der Sender am Donnerstag. Der Informationsminister Venezuelas bestätigte, es habe am Dienstag ein Gespräch zwischen Gaddafi und Chavez über dessen Vorschlag für ein Ende der Gewalt in Libyen gegeben. Weitere Details zum Inhalt des Gesprächs nannte er aber nicht.
Al-Dschasira berichtete, Gaddafi habe dem Plan zugestimmt. Demnach soll eine Delegation aus Lateinamerika, Europa und dem Nahen Osten versuchen, eine Annäherung zwischen Gaddafi und den Aufständischen auf dem Verhandlungswege herbeizuführen. Eine Reporterin des Senders berichtete zudem über den Kurznachrichtendienst Twitter, dass auch der Präsident der Arabischen Liga, Amr Mussa, im Gespräch mit dem venezolanischen Außenminister dem Friedensplan zugestimmt haben soll.
Die mit Musik unterlegten Videos auf Youtube von den Aufständen in Ägypten, im Iran und in Libyen ähneln sich sehr in ihrer Ästhetik, das scheint jedoch eher ein Problem der Videoproduzenten zu sein als eins der Aufständischen.
Wahrscheinlich bezog sich der Medienprofessor Friedrich Kittler auch nur auf diese Videos, als er neulich auf einer Veranstaltung aufgefordert wurde,, die Ereignisse in Tunis und Kairo zu kommentieren. Kittler tat sie ab mit der Bemerkung: Heutige Revolutionen würden sowieso nur für amerikanische Medien gemacht. Die FAZ befand hernach: “Er ließ das Wann, Wo, Wie der Gegenwart am Bildrand eines argumentativen Spezialeffekts verschwinden.”