vonSchröder & Kalender 07.03.2009

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Es ist dunkel, wir sehen also nicht, wie der Bär flattert.
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Heute morgen – na, es war später Vormittag, denn wir hatten gesumpft, also gleich nach dem Aufstehen kramten wir in den Taschen nach den Nasenflöten, die uns Christoph Sippel, einer der Musiker, geschenkt hatte. Wir versuchten den Plastikdingern ein paar Töne zu entlocken, gar kein Kinderspiel. Aber schließlich piepste doch ein schiefes ›Hänschen klein‹ aus den Instrumenten.

Im Yorkschlösschen, der berühmten Kreuzberger Institution, gibt es Livemusik: Jazz, Blues, Soul, Dixieland und Funk. Gestern trat hier das ›Original Kreuzberger Nasenflötenorchester‹ auf.

Teaser: NOSE MUSIC BERLIN ein Dokumentarfilm (73 Min.) von Jean-Baptiste Filleau

Wir hatten die Formation – zehn Mannspersonen, ein Gitarrist, aber leider kein Frauenzimmer – schon einmal vor drei Jahren gehört, bei Thomas Kapielskis Ausstellung ›Emolumente‹ im Künstlerhaus Bethanien. Im großen Sendesaal des Künstlerhauses rockten die Nasenflöten, das Vernissagepublikum lächelte etwas gequält, einige lachten ein wenig »hö, hö, hö«. Gestern dagegen rockte auch das Publikum. Auf dem engen Podium, wo schon Jazzlegenden gespielt hatten, zogen die Männer ab und das Publikum sang mit, nicht nur im Geiste, sondern hörbar: »dam dam, da da!«, bei den Nasenflöten darf man das nämlich, was sonst unter Zivilisationsästheten auf strengste Mißbilligung  stößt, das Unzulängliche, hier wird’s Ereignis.

»Die Musik des Krachmacheurs zeichnet sich durch eine Tendenz zur barocken Üppigkeit in Lautstärke, stilistischer Vielfalt, Ornamentik, klanglich amorpher Geräuschdichte (s. a. Nichtstationäre Klänge) und inhaltliche Bezüge zu Alltag, Philosophie und Objekten der Musik aus (s. a. Komische Musik).« Wir würden gern mehr zitieren, aber dann müßten wir das komischste und gelehrteste, schlicht gesagt beste Buch  über Musik (›Musik im Großen und Ganzen‹ von Frieder Butzmann, das gerade im Martin Schmitz Verlag erschienen ist) vollständig scannen. Wir sagen nur: Rennt in die Buchhandlungen und kauft die letzten Exemplare, der Verleger hat nur tausend gedruckt.

Wieder zum Yorkschlösschen: Der Laden war gerammelt voll. Das Publikum jubelte und sang mit zu den schrillen Nasenflöten-Adaptionen von ›Lumpy Gravy‹, ›Put Your Head On My Shoulder‹, ›La Mer‹ und den zwanzig anderen Songs. Wenn alle Ansammlungen von Intellektuellen so heiter und entspannt stattfänden, möchte man wohl öfter dabei sein.

Das Oberkreuzberger Nasenflötenorchester erfand der Künstler und Pataphysiker Klaus Theuerkauf, der in der Oranienstraße seine endart-Galerie betreibt. Der andere Spiritus Rector ist der Autor, Künstler, Musiker und Fotograf Thomas Kapielski. Aber es ist ungerecht, die beiden hervorzuheben, denn die kakophonischen Harmonien, welche die zehn Flötisten in ihrem kindlichen Spieltrieb produzieren, machen jeden von ihnen zum Instant-Superstar. Zusammen ergibt diese Performance die komischste Band, die gegenwärtig unterwegs ist.

Wer mäkelt da rum: »Hä, kakophonische Harmonie?! Wo gibt’s denn so was?!« Na zum Beispiel in Wolfgang Amadeus Mozarts ›Linzer Symphonie‹. Am 30. Oktober 1783 traf Mozart aus Salzburg kommend gemeinsam mit seiner Frau Constanze im Palais des Grafen Johann Anton Thun in Linz ein. Der Graf plante für den 4. November 1783 ein Konzert und wollte auch ein Werk von Mozart aufführen lassen. Das Problem für den Komponisten war, daß er keine Noten bei sich hatte. Also komponierte er binnen weniger Tage die ›Linzer Symphonie‹, Köchel Verzeichnis 425.

In seinem schönen Film ›Der Wadenmesser oder Das wilde Leben des Wolfgang Mozart‹ hat Kurt Palm ein filmisches Portrait von A bis Z geschaffen. Unter dem Buchstaben K »Kaum Harmonien« spielt ein Orchester die ›Linzer Symphonie‹, neben den üblichen Instrumenten werden Nasenflöten, Quietschpuppen und Tröten eingesetzt. Kinderinstrumente, die Mozart liebte, wie er ja überhaupt eine Vorliebe für Dilettanten hatte: »Sie wissen wohl daß es hier eine menge Dilettanten giebt, und zwar sehr gute, so wohl frauenzimmer als auch Manspersonen«, schrieb er am 8. Mai 1782 aus Wien an seinen Vater.
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Nach dem Konzert dedizierte uns Thomas Kapielski sein druckfrisches Buch ›Ortskunde. Eine kleine Geosophie‹, das im Urs Engeler Verlag erschienen ist. Wunderbare Miniaturen, die meist nur mittelbar mit Hohenwulsch, Bienenbüttel oder Espenloh zu tun haben, aber viel mit Thomas Kapielskis Weltsicht.

(FB / WAM /  BK / JS)

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