vonlottmann 22.03.2009

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Dieses Wochenende brachte (nur) offiziell den Frühlingsbeginn, nicht wirklich, ganz im Gegenteil (s.a. ‚Das Ende der globalen Erwärmung‘, SPIEGEL Nr. 3/2009), stattdessen das Ende der lit.cologne (12. bis 21. März 2009*) und eine Lesung von Tracey Enim in Berlin (‚Strangeland‘, Blumenbar Verlag). Auch letztere durfte ich miterleben, samt Künstlerin im VIP-Raum: es war nicht weniger intim als im kölschen kuscheligen Schokoladenmuseum am Rhein, wo ja alle berühmten Leute, ob groß oder klein, zum Anfassen vor einem stehen und sagen:
„Hallo. Ich bin der Frank Schätzing. Ein Kölsch?“
Tracey Enim im alten Spiegelsaal von Klärchens Ballhaus in der Auguststraße war die süßeste Mutti aller Zeiten, mit freundlichen großen Augen, total nett und sympathisch, alle waren hingerissen und schlossen sie ins Herz. Dabei hat sie gar keine Kinder, sondern stellt sich immer selbst aus, meistens nackt, oder ihr Bett, oder ihren Tamponkasten. Ihr Buch war echte Literatur, weil so ungekünstelt wie nur was. Reinstes Tagebuch, freilich hochtragisch. Dieser Mensch hat eben mehr erlebt als sonst ein ganzer Jahrgang in toto. Mehr im Sinne von ‚Wichtigeres‘.
Der alte Spiegelsaal ist ja wirklich klasse, so verhunzt und traurig alt, jegliche Patina hat schon soviel Staub angesetzt, daß einem jeder Winkel ein „Ach, wieviel Zeit ist doch vergangen!“ entgegenseufzt. Der alte Saal war schon bei jungen preußischen Offizieren beliebt. Ich besitze einen UFA Film aus dem Jahr 1932, ein Historienfilm, da sieht man sie im Ballhaus verkehren, das im vorvorigen Jahrhundert wohl eine Art Bordell für höhere Stände gewesen sein muß. Viel Spaß hatten sie da, die feschen Militärs, so um 1855, und alles glänzt noch wie neu, die Möbel und die Mädchen. Auch heute war es die Nacht der ganz besonders schönen weil supergebildeten Frauen…
Aber kaum war die Lesung zuende und die launige Diskussion dazu (toll: Feline Roggan), stürzten alle zu den diversen kerzenbeleuchteten Bartresen und unterhielten sich mit ihren Freunden oder scharten sich um die schönen Empire-gekleideten Frauen, doch niemand sprach mehr mit der rührenden Tracey Emin. Die stand allein im großen Raum, ein Glas in der Hand, irritiert. Die Deutschen sind ja nicht wirklich gut erzogen. Sie trauen sich nicht, einen Star anzusprechen.

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