Ist das Ihr Ernst, dass in dem Artikel zum Castor Transport Vattenfall Werbung geschaltet ist?!?
Das ist eine von vielen Zuschriften, die wir am Wochenende per Email bekommen haben. Die Leserbrief-Redaktion der taz hat heute morgen wahrscheinlich noch mehr Kritik an der Veröffentlichung von Vattenfall-Anzeigen in ihrem Brief- und Email-Posteingang gefunden.
Die Diskussion darum, welche Anzeigen wir (und: ob wir überhaupt) als links-alternative Tageszeitung im Print wie online auf taz.de veröffentlichen sollten, ist, glaube ich, so alt wie die taz: 30 Jahre. Ich bin ja erst etwas über ein Jahr bei der taz und kenne wahrscheinlich nicht jedes Argument (und auch nicht jedes Nichtargument, jeden Emotionsausbruch, der mit der Auseinandersetzung einherging). Aber ich finde, wir sollten das: Vattenfall-Anzeigen veröffentlichen.
Ich engagiere mich hin und wieder für Greenpeace, hatte in dem Zusammenhang auch gelegentlich Kontakt mit der Schiene, über die am Wochenende die „Castoren“ bzw. TN-85-Behälter mit hochradioaktivem Abfall ins Zwischenlager Gorleben rollten. Mein Standpunkt zur Atomkraft, zu Atommüll-Transporten nach Gorleben, das von der Atomwirtschaft und vielen Politikern gerne als weltweit erstes Endlager für hochradioaktiven Abfall zementiert werden würde, dürfte einigermaßen klar sein. In dem Zusammenhang: Für mein Engagement macht es einen wichtigen Unterschied aus, dass Greenpeace Gelder von Großunternehmen und Staat ablehnt, während sich andere Organisationen und Initiativen teilweise von der Industrie oder aus staatlichen Töpfen sponsern lassen.
Trotzdem: Wir, das heißt: alle die die taz ermöglichen, sollten uns freuen, wenn Vattenfall Anzeigen in der taz oder auf taz.de bucht – und wir sollten sie unbeeindruckt veröffentlichen. Denn die einzige Alternative heißt völlige Anzeigenfreiheit. Als Zeitung, die sich zumindest zu einem Teil aus Anzeigenerlösen finanziert, finde ich, können wir uns nicht erlauben, um jede Veröffentlichung einzelner Anzeigenmotive mit uns selbst zu ringen. Nach engen politischen Kriterien Anzeigen auszuwählen, würde uns das Geschäft mit den Anzeigen, von dem jede Zeitung in Deutschland abhängt – andere im Übrigen stärker als wir –, nahezu unmöglich machen. Welche Anzeigen wir alle ablehnen müssten? Da ist nicht nur die Atomfrage – bei der sich hoffentlich auch anhand der privaten Kaufentscheidung ein starker Konsens in der taz-Belegschaft und -LeserInnenschaft ablesen lässt. Da ist das Thema „Mobilität der Zukunft“ (großes Thema auf dem tazkongress): Müssen wir also nicht Anzeigen von Porsche, wie zuletzt in der 30-Jahre-taz-Sonderausgabe, ablehnen? Da ist natürlich der Klimawandel, an dem sich Streit um viele Anzeigen entzünden müsste: Abgesehen von Anzeigen für „Klimaschweine“-Autohersteller und Kohlekraftwerksbauer (Vattenfall, RWE, Bündnis90/Die Grünen Tübingen) – müssten wir dann nicht auch noch Anzeigen für Fernreisen, in aller Regel verbunden mit Flügen und auch im Allgemeinen klimabelastend, ablehnen? Und die Werbung für Geflügelsalat vom Berliner Feinkostladen, vermutlich von Tieren aus konventioneller Landwirtschaft (wobei auch Bio-Geflügel sich vermutlich nicht durch eine allzu positive Klimabilanz auszeichnet)? Spätestens die vegane Fraktion unter den taz-Lesern würde verlangen, Anzeigen für Fleischkonsum auszuschließen. Ist eine Anzeige eines Energie-Unternehmens dann politisch korrekt, wenn sie, wie jene der Gasag am Freitag, fürs Energiesparen wirbt? Im selben Zusammenhang: Ökologischer Konsum – darf dann eine solche Anzeige wie heute auf Seite 23 – für Konsumgüter-Auktionen, abgebildet ist unter anderem ein Sprit-fressendes so genanntes Quad – erscheinen? Wenn schon, dann meine ich: Auch ästhetische Gesichtspunkte bei Anzeigen sollten endlich mal eine Rolle spielen. Dieses verlaufende Orange-Blau in den Anzeigenmotiven der Berliner Volksbank geht ja nun einfach gar nicht!
Es gäbe sicher zahllose weitere Konflikte, anhand derer wir Anzeigen ausschließen könnten. Wo uns das hinbrächte? In tägliche Diskussionen zwischen Anzeigenabteilung, Verlag und Redaktion, welche Anzeigen denn nun „gerade noch“ gehen, welche wir wirklich, wirklich gut finden, welche böse und überhaupt politisch unkorrekt. Bisher mögen wir finanziell in Teilen abhängig sein von Anzeigen – bei einer solch selektiven Anzeigenpolitik wären wir schließlich wirklich das, was Anzeigen-Kritiker jetzt unterstellen: abhängig von unseren verbliebenen Anzeigenkunden. Und vermutlich bald finanziell am Ende.
Die einzige Alternative: Völlige Anzeigenfreiheit. In Deutschland kenne ich nur eine halbwegs relevante Publikation, der das gelingt: das Greenpeace-Magazin (übrigens nicht bezuschusst aus Greenpeace-Mitteln). Ich schätze, auch die taz könnte das Modell völliger Anzeigenfreiheit übernehmen – mit zwei Konsequenzen. Die eine: Wir müssten unseren Verkaufspreis deutlich erhöhen. Mein Vorschlag: Sie als Leser oder Leserin wirken schon heute darauf hin und bestellen jetzt ein Abo zum höheren politischen Preis. Sollten genügend viele LeserInnen Ihrem Beispiel folgen, können wir ja mal anfangen und auf die ein oder andere böse Anzeige verzichten. Auch eine Mitgliedschaft in der taz-Genossenschaft könnten Sie in Erwägung ziehen, denn die Genossenschaft sichert seit 1992 die wirtschaftliche und publizistische Unabhängigkeit der taz.
Die andere Konsequenz: Wir wären fortan allein abhängig von Ihnen. Ehrlich gesagt: Ich möchte keine tageszeitung lesen, die ganz und einzig und allein vom Wohlwollen und der Gnade ihrer LeserInnen abhängt. Ein Wort der Kritik etwa am Lebensstil des Milieus, dem die eigenen LeserInnen angehören … das sollte doch noch erlaubt sein. Da freut es mich, dass uns das Anzeigenkunden wie Vattenfall, Porsche, Butter Lindner, Gasag und die Berliner Volksbank ermöglichen.
Aktuell laufen übrigens rund um unsere Sonderseiten zum Castor-Protest Anzeigen für Campact.de. Gegen Atomkraft. Fragen Sie mich jetzt nicht, ob die Campact-Aktivisten Sonderkonditionen erhalten haben. Vattenfall jedenfalls nicht (deren Anzeigen kommen über die Rotation unseres Anzeigenvermarkters Adlink automatisch in unser Angebot).
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