Wo Irrationales als sinnvoll und Ineffektives als vernünftig angesehen wird, können Fragen allein von der Verstandesebene her nicht beantwortet werden. Eine Klärung muss in tieferen Schichten gesucht werden, in den Bereichen des Unbewussten und der Ängste, und den archaischen Formen mit ihnen umzugehen, dem Ritual. Mit Ritualen, zeremoniellen Handlungen, versuchten die Priester-Ärzte der Frühzeit, die Unversehrtheit die Gemeinschaft und einzelner Individuen zu gewährleisten und Schaden von ihnen abzuwenden.
Pharmakos: Der Sündenbock
In allen Erdteilen und Kulturen wurden solche Rituale durchgeführt und oft war ihr Vollzug mit einer Art von Opfer verbunden, im antiken Griechenland und anderswo mit Menschenopfern. Bei diesem Ritual wurden missachtete oder missgestaltete Menschen mit Laub geschmückt und aus der Stadt getrieben, dort symbolisch mit den Übeln überhäuft, die der Gemeinde widerfahren waren und getötet. Man glaubte, dass der Tod dieser mit allen Übeln und Sünden beladenen Opfer künftige Heimsuchungen vor Krankheiten oder Hungersnöten verhindert und die Sünden der Vergangenheit auslöscht – und feierten das getötete Opfer als Helden. Das griechische Wort für den geopferten Menschen, der zum Heilsbringer wird, ist bezeichnend für unser Thema: es lautet Pharmakos.
Die etymologische Wurzel heutiger Begriffe wie Pharmakologie oder Pharmazie ist also der »Sündenbock« – so wurde der Pharmakos auf Deutsch genannt, nach einem späteren, schon etwas humaneren Zeitalter, als man statt »Sündenmenschen« Ziegen oder Schafe verwendete. Etwa im 6. Jahrhundert vor Christus erfährt dieser alte Begriff des Heilmittels dann einen Wandel und bezeichnet von nun an die neuen, »modernen« Heilmethoden: »Arznei«, »Droge« , »Medikament«. [Quelle: Mathias Bröckers: Die Drogenlüge, Frankfurt am Main 2010, ISBN: 9783938060513, Seite 108]
Konsumenten als Sündenböcke
Alkohol, Tabak und Haschisch sind Substanzen, die in diversen Kulturen seit Alters her als Genussmittel wie auch zu rituellen Zwecken genutzt wurden und werden. Zudem haben die drei genannten Substanzen pharmakologische Eigenschaften. Cannabisprodukte wie Gras oder Haschisch werden heute wieder als Pharmaka (Heilmittel) in der Medizin eingesetzt. Dennoch werden die Konsumenten von Alkohol, Tabak und Cannabisprodukten als Sündenböcke Stigmatisiert und ihnen werden Opfer abverlangt, um die Sünden (verschuldete Fehlleistungen) anderer zu tilgen. Dies wird an der derzeitigen Steuerpolitik deutlich erkennbar. Die Konsumenten dieser Substanzen sollen immer mehr für die Defizite, die andere an anderen Stellen verursachen, aufkommen.
Ab 2002: Rauchen für die Sicherheit
Immer wieder sind die Raucher zur Kasse gebeten worden, um die Steuereinnahmen zu erhöhen zur Finanzierung von Dingen, die mit dem Rauchen rein gar nichts zu tun haben. Vor allem seit 2002 ist die Tabaksteuer regelmäßig erhöht worden – insgesamt fünf Mal. Da wäre zum Beispiel die Tabaksteuererhöhung, die 2002 von Rot-Grün eingeführt wurde, um mit den zusätzlichen Einnahmen den Kampf gegen den Terror zu finanzieren. Hier sei an die Sicherheitspakete von Otto Schily (Schily-Kataloge) erinnert.
Bei der Generalabrechnung mit Kanzler Gerhard Schröder (SPD) im Bundestag im September 2001 zerlegte die Opposition in der Haushaltsdebatte den Etatentwurf der Regierung und die neuen drei Milliarden Mark »Kriegssteuer«. Friedrich Merz, CDU/CSU-Fraktionschef, sagte hierbei »140 Milliarden Zigaretten werden in Deutschland im Jahr geraucht. 140 Milliarden Zigaretten mal zwei Cent – das war das, was der Finanzminister an Steuererhöhungen angekündigt hat. Das sind: 2,8 Milliarden Euro Steuererhöhungen. Mal knapp zwei (Umrechnung in Mark) sind etwa 5,6 Milliarden Mark. Plus 16 Prozent Mehrwertsteuer sind 0,9 Milliarden. Macht summa sumarum – nur, Herr Bundeskanzler! – eine Steuererhöhung von 6,5 Milliarden Mark aus!«
Guido Westerwelle, FDP-Chef, sagte seinerzeit zur Erhöhung der Tabaksteuer für die Sicherheit: »Die Rente, die bezahlen wir angeblich an der Tankstelle – da kommt die Ökosteuer. Die innere Sicherheit sollen wir jetzt durchs Rauchen bezahlen. Rauchen für die Sicherheit, Rasen für die Rente. Das ist keine Finanzpolitik, meine Damen und Herren, das ist Gaga!«
Ab 2011: Rauchen für die Industrie
Gaga geht weiter. Damit die Schwerindustrie auch in Zukunft weniger Ökosteuern zahlen muss, will die derzeitige Regierung aus CDU/CSU und FDP in den nächsten Jahren zur Haushaltsstabilisierung die Tabaksteuer sukzessive erhöhen. Die Tabaksteuer soll im kommenden Jahr zusätzliche 200 Millionen Euro in die Kasse des Bundesfinanzministers spülen – in den Jahren danach jeweils ein paar hundert Millionen mehr bis hin zu einer Milliarde Euro im Jahre 2015 – sie soll also in mehreren Stufen steigen. Angeblich sieht ein Steuerkonzept des Bundesfinanzministeriums vor, dass der Preis für eine Schachtel jährlich zwischen vier und acht Cent steigen soll – unterm Strich damit um maximal 40 Cent. Mit anderen Worten heißt das, dass die Raucher für die Sicherung der Dividende der Aktionäre der Schwerindustrie zahlen müssen, die Konzernen können hingegen durch diese Regelung Steuern und Abgaben sparen.
Saufen für den Luftverkehr
Gaga geht weiter. Die FDP hat die Gaga-Politik verinnerlicht. Das Handelsblatt verkündete am 26. Oktober 2010 unter dem Titel »FDP prüft auch höhere Alkoholsteuer«, dass nach der Erhöhung der Tabaksteuer die FDP nun auch die Alkoholsteuer ins Visier nehme, um die Wirtschaft zu entlasten. »Für ein Genussmittel mit einem Alkoholgehalt von 20 Prozent sollte eine Alkoholsteuer von 20 Prozent des Nettoverkaufspreises anfallen«, heißt es in einem Schreiben des wirtschaftspolitischen Sprechers der FDP-Bundestagsfraktion, Paul Friedhoff, das dem Handelsblatt vorliegt.
Auf Bier mit 4,5 Prozent würden damit 4,5 Prozent Steuern vom Nettopreis anfallen, bei einer Flasche 45-prozentigen Wodkas wären es 45 Prozent. Der Wirtschaftspolitiker will ähnlich wie bei der von der Koalition beschlossenen Tabaksteuer mit den Mehreinnahmen die Wirtschaft entlasten, diesmal zugunsten der Luftverkehrsindustrie. Friedhoff befürchtet »schwerwiegende Verwerfungen in der deutschen Wirtschaft«, sollte die Luftverkehrssteuer in der von der Koalition beschlossenen Form kommen. Mit anderen Worten heißt das, dass die Alkis für die Sicherung der Dividende der Aktionäre der Luftfahrtindustrie und Fluggesellschaften zahlen müssten, die Konzernen könnten hingegen durch diese Regelung die Luftverkehrssteuer sparen.
Kiffen für die Rüstungsindustrie
Attac brachte am 26. Oktober 2010 unter dem Titel »Kiffen für die Rüstungsindustrie« den sarkastisch gemeinten Vorschlag einer weiteren Steuer in die aktuelle Politische Diskussion. Rauchen für Stahlkonzerne, Saufen für Fluggesellschaften – das geht in die richtige Richtung, aber nicht weit genug. Attac fordert daher: Kiffen für die Rüstungsindustrie! Schließlich könnte man mit der selben Logik die zu erwartenden Auftragsrückgänge der Rüstungsindustrie durch die geplante Verkleinerung der Bundeswehr auffangen.
Der sarkastisch gemeinte Vorschlag ist die nahe liegende Reaktion auf den unglaublichen Zynismus, gepaart mit Dilettantismus, mit dem die Bundesregierung ganz offen und ungeschminkt Politik ausschließlich im Interesse der Industrie macht. Die Zukunft wird zeigen, ob die FDP mit der CDU/CSU Gaga genug sind, um diesen neuen Vorschlag auch bald umzusetzen. Nach den bisherigen Merkmalen ihrer Politik wäre dies überhaupt nicht mehr verwunderlich. Der Kiffer wäre dann nicht mehr der Pharmakos (Sündenbock) der Gesellschaft, sondern das Pharmakon (Heilmittel) der Rüstungsindustrie. Der friedliebende Kiffer wäre dann wieder in der vom Aktionärswillen dominierten Gesellschaft voll integriert – zum Wohle der Rüstungsindustrie und derer Aktionäre.
Vergl. hierzu: Gerd Folkers: Pharmakos, der Sündenbock, in: Neue Zürcher Zeitung vom 11. August 2002