1861 tritt die bis heute gültige Wiener Bezirksnummerierung in Kraft tritt. Das ist auch bitter nötig, der Häuser- und Menschenhaufen wächst dramatisch. Die Bevölkerungszahl steigt zwischen 1850 und 1910 von rund 440.000 auf zwei Millionen Einwohner, die Wiener Bevölkerung explodiert um das Vierfache.
Zum Vergleich: Die Einwohnerzahl von St. Petersburg ist von 1750 bis 1837 von 80.000 auf 470.000 gestiegen. Und für die heutigen Maghrebstaaten, Anrainer der Europäischen Union, wird bis 2025 fast eine Verdoppelung von heute 70 auf 130 Millionen Menschen prognostiziert.
Wiens Wachtum in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts ist enorm. Aber selbst als die Einwohnerschaft vor dem ersten Weltkrieg auf 2,2 Millionen Einwohner steigt, ist das keineswegs einmalig. Das industrielle Zeitalter lässt viele Städte zu Konglomeraten anschwellen.
In Wien freilich entwickelt sich eine besonders effektive Assimilationskultur, so dass es trotz der grossen Einwanderungswellen zu keinen Ghettobildungen kommt.
1862 wird die Eingemeindung der Vorstädte abgeschlossen, die Bezirke 1 bis 9 werden geschaffen. Und Wien wird eine Stadt mit eigenem Statut.
Die Metropole ist jetzt eine unter rund dreissig Statuarstädten – ein nicht leicht zu verstehender Sonderstatus im Privilegienzirkus der Monarchie. Staturstädte sind (hinsichtlich der inneren Angelegenheiten) landesunmittelbar, d.h. die Oberinstanz im Rahmen der automen Verwaltung führen Landesausschüsse durch und die Kontrolle der Gesetzmässigkeit der Verwaltung liegt bei der Landesregierung. In anderer Hinsicht sind Statuarstädte mit Kompetenzen der Bezirkshauptmannschaften ausgestattet, also freier als Städte ohne Sonderstatus.
Diese Spannung aus Knebelung und Befreiung wirkt bis hinauf in die Spitze. Der Bürgermeister von Statuarstädten ist das Haupt der politischen Verwaltungsbehörde erster Instanz, steht aber unter stärkerer Staatsaufsicht, da der Kaiser seine Wahl bestätigen muss.
Bereits 1862 besteht eine gravierender Differenz in der Auffassung von Stadtfreiheit zwischen der Regierung Schmerling und den liberalen Wiener Gemeindevertretern. Und die Bürgermeisterwahl von 1861 hat eine liberale Ratshausmehrheit von drei Gruppierungen ergeben, deren Fraktionierung immer weiter voranschreitet.
Man darf keinen Augenblick vergessen, dass Wien bis 1918 mit dem ländlich und kleingewerblich geprägte Niederösterreich immer noch das Erzherzogtum Unter der Enns bildet. Für den Mann auf der Strasse hat die Selbstbestimmung gewisser Behörden wenig bis gar nichts zu bedeuten. Dazu kommt: Dass sogenannte Heimatrecht schränkt ab 1863 den Mitbestimmungsgedanken wieder ein und dient hauptsächlich dem Gegenteil.
Zwar lässt sich das Heimatrecht durch Geburt, Heirat, Aufnahme oder politisches Amt erhalten. Aber ein polizeilicher Abschub in die Herkunftsgemeinde ist schneller geschehen, als manche glauben. Vier Jahre nach der Einführung, 1867, sind nach diesem Gesetz in Wien insgesamt nur mehr 51 Prozent der Bevölkerung heimatberechtigt.
Was geht in dieser Zeit im Stadtparlament vor? Entschieden liberal eingestellte Gemeinderäte stehen als Fraktion der »Äussersten Linken« zusammen. Sie wollen 1864 die Reichsunmittelbarkeit der Hauptstadt durchsetzen, um den Gemeinderat vom stark konservativen NÖ-Landtag unabhängig zu machen.
Doch die liberale Mehrheit stemmte sich diesem Vorschlag entgegen: Eine Abtrennung Wiens von seinem Stammland, sagen die Abgeordneten der Mittelpartei, würde nur jenen Vorschub leisten, die den »deutschen Charakter« der Stadt bestreiten und sie als neutralen Boden für alle Völker des Kaiserstaates in Anspruch nehmen.
1864 konstituiert sich durch eine weitere Abspaltung von der Mittelpartei noch eine Fraktion mit der Bezeichnung »die Linke«. Sie geht bei Abstimmungen mal mit dieser mal mit jener Gruppe. Die beiden linken Fraktionen vertreten eine Ausweitung des Wahlrechts und verfolgen die Interessen der Kleinhändler und Kleingewerbetreibenden.
Die Liberalen sind damit dreifach in sich gespalten: in Mitte, Linke und Äusserste Linke.
© Wolfgang Koch 2007
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