vonWolfgang Koch 13.12.2007

taz Blogs


Willkommen auf der Blogplattform der taz-Community!

Mehr über diesen Blog

Der Architekt, Theoretiker und Schriftsteller Adolf Loos imaginiert sich 1911 vor dem Museum für angewandte Kunst in eine widersprüchliche Millionenstadt hinein. »Wenn ich die Zinshäuser am Stubenring betrachte, so habe ich nur ein Gefühl: fünfstöckiges Mährisch-Ostrau.«

Wien wird erbaut, das ist vollkommen richtig, aber Wien wird auch parallel dazu erfunden. Kritiker wie Loos oder Ludwig Hevesi schärfen der ästhetischen Verstand, lehren die urbane Intelligenz ihre Umgebung immer präziser wahrzunehmen.

Durch den demiurgischen Akt dieser doppelten Erschaffung, der materiellen und der geistigen, steigt die Stadt schnell zum Mythos ihrer selbst auf. Sie wird zu einem massgeblichen Projektionsraum des europäischen Selbstverständnisses.

Viele Menschen allerdings erleben den Aufbruch der Moderne nur von seiner katastrophischen Seite. Sie stöhnen unter Mietwucher und Gestank, sie leiden unter dem martialischem Gepränge der Verwaltung, der Präpotenz des Hofes und der Anarchie der veröffentlichten Meinungen.

In dieser verrückten Gleichzeitigkeit von Macht und Ohnmacht gibt die Stadt einen prächtigen Schauplatz der Avantgarden ab. Und da kann halt nicht jeder mit. Die Spannung zwischen Bevölkerungsgruppen steigt.

In diesem Punkt unterscheidet sich Wien kaum von anderen Städten. In jeder Metropole des Westens ist die Luft erfüllt vom Murren und vom Meckern, vom Labern und Prahlen ihre Benutzer; die Schwächsten nächtigen im Abflusssystem, die Härtesten schwingen sich auf zu selbstherrlichen Existenzen. Wie anders wäre der leidenschaftliche Hass von Naturen wie Ruskin und Nietzsche gegen die Grossstadt zu erklärt?

Es sei »unnatürlich, eine grosse Stadt zu sein«, hören wir vom Dichter Rainer Maria Rilke. Ein Kulturprozess kommt im Gang, der spaltet; eine Entzweiung der Individuen und der Gruppen. Der steinerne Körper Wiens gerät in einen Kontrast zur ländlich geprägten Umgebung der Kronländer und rückt zugleich ins Zentrum patriotisch-weltanschaulicher Debatten über die »deutsche Seele« der Monarchie. Erscheint die Stadt den Alldeutschen als Sackgasse und Sündenfall, so den Slawophilen als Zukunft und Offenbarung.

Man darf bei all dem hereinbrechenden Neuen eines nicht vergessen; dass die Gesellschaft auch müde ist, eigensinnig und träge. Noch bis in die ersten Jahrzahnte des 20. Jahrhunderts kennt Wien eine nächtlich verordnete Sperrstunde. Wer erst nach zehn Uhr abends heimkehrt, ist gezwungen den Hausmeister herauszuläuten und ein Bussgeld von sechs Kreuzern abzuliefern.

Es gibt kein Nightlife um 1900, keinen Glamour und keine Attraktionen wie in Paris. Wien ist zum Gähnen gewöhnlich. Die Lokalbahn zur nächsten grösseren Stadt, nach Bratislava, wird nur gegen extreme Widerstände der Donauschiffer und der Kirche errichtet. Bis zum Ausbruch des Weltkriegs wird die »Pressburger« dann entlang des Donaukanals fahren und in der Endstation beim Hauptzollamt einkehren.

© Wolfgang Koch 2007
next: MO

Anzeige

Wenn dir der Artikel gefallen hat, dann teile ihn über Facebook oder Twitter. Falls du was zu sagen hast, freuen wir uns über Kommentare

https://blogs.taz.de/kleine-wiener-stadtgeschichte-22/

aktuell auf taz.de

kommentare