vonWolfgang Koch 20.12.2007

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1905 demonstrieren 200.000 Menschen für das allgemeine Männerwahlrecht. Im Reichsrat haben sich lange nur die fünf Abgeordneten der Wiener Demokraten vorbehaltlos dazu bekannt. Erst unter Androhung eines dreitägigen Generalstreiks gelingt dann der Durchbruch. 1907 sollen von den sechs Millionen Männern im wahlfähigen Alter fünf Millionen wählen dürfen. Am Vorabend des Ersten Weltkriegs wird damit immer noch rund einem Drittel der Männer über 24 Jahre das Wahlrecht vorenthalten.

Die Wahlreform 1907 bringt zwar das allgemeine, gleiche und direkte Wahlrecht – aber nur für den Reichsrat und nicht für die Gemeindevertretung. Der NÖ-Landtag bastelt sich eine kuriose Mischung aus Privilegien-, Zensus- und allgemeinem Wahlrecht. Das direkte Wahlrecht in den Landgemeinden stärkt die in Wien ohnehin bereits starken Christlichsozialen.

»Das Bürgertum mummelt sich ein«, notiert der Literat Hermann Bahr im Jahr vor der Wahl – »mit allen Masken und bunten Jacken und Larven der Vergangenheit…« Eine liberal-bürgerliche Politik gibt es kaum noch! Sie ist einem Psychospiel gewichen, das in Österreich seither als Politik missverstanden wird: Die Regierenden beschwichtigen, die Opposition hysterisiert und die veröffentlichte Meinung verdient an beidem.

Allen Kontrahenten mangelt es an der Fähigkeit zur Selbstbändigung. Aber während die Fortschrittler permanent drohen, die Bevölkerung in einen Mob zu verwandeln, üben sich die Nationalisten gleich in Obstruktion.

Der antiurbane Reflex greift schliesslich von den Konservativen auf die radikale Opposition über: auf Lebenreformer und Anarchisten. Pierre Ramus, bürgerlich Rudolf Grossmann, Antimilitarist und freiwillig sterilisierter Feminist, hängt den Ideen Tolstois, Kropotkins und Nietzsches an. Dieser einzige namhafte Libertäre Wiens schildert 1907 sein Ideal in den leuchtendsten Farben:

»Die kommunistische Anarchie wird jedes Land, in dem sie verwirklich wurde, in einen blühenden Garten verwandeln. Der Häuserhaufen, der Kehrichthaufen der modernen Zivilisation, Stadt genannt, wird auseinanderfallen und abgetragen werden. Überall werden sich an seiner Stelle jene Verbindungsknoten ländlichen und industriellen Lebens erheben, die schon heute ihren Anfang finden in den Gartenstädten und Siedlungsgenossenschaften«.

Daraus wird bekanntlich nichts. Aber Ramus‘ Kritik hat vollkommen nachvollziehbare Ursachen:

Wien ist weithin als die Stadt der kleinsten Wohnungen bei hohem Mietzins bekannt. Das über Jahrhunderte gewachsene Netz alter Fahrstrassen und Fusswege wird überlagert vom Raster der Zinskasernen. Die Wohndichte darin liegt höher als in der von der Befestigung eingeschnürten Stadt des 17. und 18. Jahrhunderts.

Freilich, Wien ist kein Sonderfall. Die höchste Wohnungsdichte Europas, die findet sich in St. Petersburg. Dort leben in einzelnen Vierteln in einem einzigen Zimmer durchschnittlich mehr als acht Personen.

Kritik am Wiener Zinshaus bleibt nicht aus: an den engen und ungesunden Lichthöfen, an der falschen Elegance der Flügeltüren, an den grossen Höhen der schwer beheizbaren Räume. Gegner der neuen Bauweise sprechen von »verderblichen Gesichtspunkten« und den »Ausartungen und Überwuchungerungen« der Stadt mit Zinshaus-Architektur.

Selbst dem besseren Bürgern wird es dank horrender Bodenpreise unmöglich, sich ein Wohnhaus in Zentrumsnähe zu bauen. Die Verschlechterung der Lebensbedingungen in der Innenen Stadt und in den Vorstädten bewirkt die erste Stadtflucht, die wiederum zu einer Verstädterung der Vororte führt.

Im Jahr der ersten allgemeinen Wahlen wird die Wiener Zentralstelle für Wohnungsreform gegründet. Hier leuchtet der Traum Ramus‘ und anderer linker Kritiker hell auf. Diese Einrichtung soll zu einer durchgreifenden Verbesserung der Wohnverhältnisse führen, sie soll für eine Dezentralisierung des Siedlungswesens und für den Ausbau der Schienenwege sorgen.

© Wolfgang Koch 2007
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