vonWolfgang Koch 06.03.2008

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Der Neue Mensch pocht Mitte der Zwanzigerjahre ungeduldig ans Wiener Stadttor. Sozialistische Klassiker haben bekanntlich das Recht auf Ertrag der eigenen Arbeit verkündet, der Austromarxismus geht ein freches Stück weiter: Er verkündet auch ein Recht des Menschen auf die Stadt!

Der Gedanke ist in Wien neu. Die kirschrot eingefärbte Gemeindeverwaltung will bedingungslos im Sinn einer Propaganda der Praxis wirken. Mit dem Konzept des Sozialismus in einer Stadt hofft die sozialdemokratische Bewegung, einen Grossteil des nötigen Stimmenzuwachses für die Parlamentswahlen zu gewinnen.

Der Mikrosozialismus des Roten Wien muss also als Vorspiel auf die Sozialisierung der Alpendörfer begriffen werden – und mehr noch: als ein sozialdemokratische Absage an den Kollektivismus aus dem Osten. Man wählt links und denkt: »Je rascher Europa sozialistisch wird, desto eher ist eine neue Kriegsgefahr gebannt«.

Worin besteht nun die progessive Kommunalpolitik? Städtebaulich fügt sie Superblocks in die bestehende Stadtstruktur ein, so dass ein komplexes räumliches System zwischen dem historisch Gebautem und den neuen Arbeitersiedlungen entsteht. Viel ist von einem zweiten Prachtboulevard am Gürtel die Rede, von einer »Ringstrasse des Proletariats«.

Sichtbar werden zunächst massive im Stil der Zeit dekorierte, kasernenartige Gebilde mit bescheidenen Wohnzellen und dem »Luxus« noch nie dagewesener Gemeinschaftseinrichtungen. Das Wohnmietshaus mit Geschäftszonen wird zum Prototyp eines multifunktionalen Moduls innerhalb des städtischen Gefüges und es funktioniert bis heute ganz gut – im Gegensatz zu den monofunktionalen Satellitenstädten späterer Tage.

Doch kommunalpolitisch gesteuerter Familienkomfort mit Spielplatz und gemeinsamer Waschküche ist bei weitem nicht alles! Zum Ruf einer »Weltstadt des sozialen Gewissens« trägt eine Vielzahl von noch nie dagewesenen öffentlicher Einrichtungen bei: das Wohlfahrtswesen der Fürsorge- und Jugendämter, die gesundheitliche Betreuung der Bevölkerung, Kindergärten, Schulzahnkliniken, Kinderfreibäder, der Ausbau der Elektrifizierung der Strassenbahn, Autobuslinien, Volksbildungseinrichtungen.

Allein für stellenlose Haushaltsgehilfinnen werden zwei Heime mit 210 Betten in Wien errichtet; weiters ein eigener Pavillon zur Tuberkulosebekämpfung, ein Krematorium. Die Gemeinde fördert grosszügig das Siedlungswesen. Es gibt eine automobilisierte Kehrichtabfuhr (die weniger Krach macht als die orangen Brüder heute).

Städtische Unternehmen werden leichter zugänglich gemacht. Arbeitslose erhalten für Fahrten zur Melde- und Auszahlungstelle sowie zu Um- und Nachschulungskursen Freifahrtscheine – 16 Mio. allein 1928. (Von einem solchem »Luxus« konnen heutige Arbeitssuchende nur träumen, Genosse Gusenbauer!).

Wien soll ein glühender Ofen werden, aus dessen Schmelzmasse der Neue Mensch hervorgeht. Die rote Stadtverwaltung will den neuen Bürger von der Wiege bis zur Bahre begleiten. »Kein sozialdemokratisches Baby muss mehr in Zeitungspapier gewickelt werden«, heisst es stolz. Stattdessen wird die Liste der Errungenschaften immer länger: Schwangerenuntersuchungen, öffentliche Bäder, Sport, sogar Yoga.

Der Erfolg dieses einmaligen Programms zur Gestaltung städischen Lebensraumes kann sich weltweit sehen lassen: Die Säuglingsterblichkeit sinkt unter den Österreichdurchschnitt, die Tuberkuloserate unter fünfzig Prozent.

Am Höhepunkt der roten Modernisierungswelle verschicken die Reformer ihre Kinder und Jugendliche in Ferienkolonien aufs Land. 1927 führen die deutschen Kinderfreunde mit dem Zeltlager Seekamp ein Erziehungsexperiment an nicht weniger als 2.000 Heranwachsenden durch: die Republik der Kinder. Die Wiener Ortsgeruppe der Roten Falken wiederholt das Experiment im Jahr darauf an Zwölf- bis Sechzehnjährigen auf einer Waldwiese am Keutschachersee. Vier Wochen lang stehen die Teilnehmer ohne Aufsicht Erwachsener und organisieren sich ihr Leben selbst.

Da ist der Neue Mensch schon halb aufgerichtet.

© Wolfgang Koch 2008
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