vonHelmut Höge 30.08.2010

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Das traditionelle Wir-Gefühl anrühren…

Am kommenden Wochenende diskutieren einige Berliner Kollektive über das Kollektive, d.h. über das Wir – ob es der Menschenliebe dienlich ist. Und zwar in der „Meuterei“ (Reichenberger Str. 58) und im „about blank“ (Markgrafendamm 24c), mit dem üblichen Drumherum: laute Musik und alkoholhaltige Erfrischungsgetränke.

Für Sigmund Freud war die Liebe ambivalent. Zunächst begriff er die erfüllte Liebesbeziehung als ein „wirkungsvolles Mittel gegen das Unbehagen in der Kultur“, da nur ein solches Wir imstande sei, ein ozeanisches Gefühl befriedigten Narzißmus hervorzurufen. Weil jedoch nichts verletzender ist als der Bruch einer Liebesbeziehung, nahm er wieder Abstand von dieser schönen Vorstellung – und damit auch vom „ozeanischen Gefühl“ als etwas, für das es sich zu kämpfen lohnt. An die Stelle der ambivalenten Verschmelzung zum Wir trat die öde Balance des Ichs – zwischen Nähe und Distanz.

Ähnlich diskutiert der somalische Schriftsteller Nuruddin Farah noch heute dieses Problem: In seinem Roman „Links“ geht es um einen „Rückkehrer“ aus dem Exil nach Mogadischu – in den von Clan-Warlords zerstörten modernen Staat Somalia. Er sucht seine  alten Freunde auf, sie diskutieren darüber, was der Bürgerkrieg bewirkt hat, auch in ihnen. Es handelt sich um gebildete Somalier: Sie sehen den Konflikt als einen zwischen dem modernen „Ich“ und dem traditionellen „Wir“, das nach den Kämpfen als alte Clanverbundenheit neu erfunden wurde.

In den westlichen Industrieländern würde man dies heute genau andersherum sehen, d.h. das „Ich“ als blutsverwandtschaftlich gebundenes Warenanhängsel, das „Wir“ dagegen als freie wahlverwandtschaftliche Assoziation.

Die längst fällige Erholung vom Wir.

Ganz anders diskutierte neulich das aus dem türkischen Arbeiterverein in der Kreuzberger Oranienstraße hervorgegangene Kollektiv der Kneipe „Ichorya“ dieses „Wir“-Problem: Die jungen Männer  kommen aus einer patriachal geprägten Großfamilien-Kultur und wirtschaften nun als eine Clique Gleichaltriger. Ihre Kollektivregeln sind dabei in großzügiger Weise die internalisierten alten und auch noch weitgehend problemlos, deswegen diskutierten sie ihr „Wir“ auch eher philosophisch gelassen.

Wieder anders das deutsche Kneipen-Kollektiv „Tante Horst“ gleich nebenan: Hier fand  sich ein Halbdutzend Ichs aus der halbstaatlichen Antisemitismusschulung zu einem politisch sehr korrekten Kollektiv zusammen, das sich nun auf seinen Sitzungen quasi ein Endlos-Statut für seine Praxis erstellt. Zusammen mit den immer wieder neuen aus Amerika kommenden Geboten der „Political Correctness“ ergibt das aber vielleicht eher ein Über-Ich im Sinne Freuds als ein Wir.

Da dies nicht selten ist in der  deutschen Kollektivgeschichte – von Landkommunen mit oder ohne Esoterik über besetzte Häuser bis zu den „Alternativbetrieben“ – könnte man hierbei vielleicht auch von einer protestantischen Form von Wirwerdung reden.

„Das Ich hat nicht einmal Platz zwischen Uns und dem Nichts,“ meinte der Ethnologe Claude Lévi-Strauss. „Ich ist eine Sauerei!“ postulierte der Surrealist Antonin Artaud. Und Nietzsche riet statt zur „Nächsten-Liebe“ zur noch weitaus humaneren  „Fernsten-Liebe“.

Der bisher erfolgreichste und am meisten erforschte Versuch, eine Balance zwischen Wir und Ich, zwischen wahl- und blutsverwandtschaft zu finden, das sind oder eher waren die israelischen Kibbuzim. Ironischerweise riet der letzte Generalsekretär der sowjetischen KP, Michail Gorbatschow, den sowjetischen Kolchosen, sich bei ihrer Privatisierung den israelischen Kibbuz  zum Vorbild zu nehmen. Als er dies vorschlug, ging es jedoch auch gerade mit den israelischen Kibbuzim bergab. D.h. sie wandelten sich den Kolchosen an, mit denen es ebenfalls gerade zu Ende ging: in der Vergangenheit infolge  Arbeitsteilung (aus überforderten Kleinbauern machte man  unterforderte Landarbeiter), durch die Umwandlung von immer mehr Dörfern zu einem riesigen „Agrar-Industriellen Komplex“, durch von oben dekretierte Technik sowie Anbaumaßnahmen und Ernteabgaben, und in der Gegenwart durch die Privatisierung, mit der man die Kolchosen vollends in Mittelalter zurückkatapultiert hätte – wäre da nicht der gleichzeitig von unten wieder revitalisierte Obschtschina-Gedanke: die (allerdings ebenfalls aus dem Mittelalter stammende) Dorfgemeinschaft mit Kollektivbesteuerung.  Sie  festigten ihr neu erfundenes altes Kollektiv nicht selten mit alter Religion. Wobei hinzugefügt sei, dass ein solches „Wir“ nahezu weltweit vor allem über „den Glauben“ hergestellt wird.

Eines der Leistungsverpflichtungen der sozialistischen Landwirtschaft: Erdbeeren so groß wie Kioske.


Seit der Auflösung der Sowjetunion durch Gorbatschows Nachfolger Jelzin sind auch alle Kriege wieder „religiöser Natur“, d.h. Schlachten zwischen zwei oder mehr kommunionierten  „Wirs“: „Clash of Cultures“ nennt der US-Reaktionär Huntington diese ganzen antiaufklärerischen Kriegsmanöver, die nicht zuletzt auch die minderheitliche Wirwerdung der unzuverlässigen Multitude mit einem  staatlich-mehrheitlichen Wir bekämpfen sollen.

Eine Freundin weist mich darauf hin: Für Freud war das „ozeanische Gefühl“ die Quelle der Religiosität. Ach, du Scheiße! sage ich. Nicht so schlimm, sagt sie, dumm ist eher, dass mit der Überwindung der Religion auch das Wir verschwindet, jedenfalls wenn man den Romantikern und namentlich Jean Paul folgt, der meinte: „Das ganze geistige Universum wird durch die Hand des Atheismus zersprengt und zerschlagen in zahlenlose quecksilberne Punkte von Ichs.“

Ohne Worte


Wie ist es aber nun mit der Leidenschaft, die sich in kollektiven Tätigkeiten länger als in fremdbestimmten hält?

In Andrej Platonows Roman aus der Zeit des sozialistischen Aufbaus in der Sowjetunion “Tschewengur” (1927) gab es den leidenschaftlichen Läufer Louis – man ließ ihn laufen, machte ihn jedoch zu einem Boten. Er war glücklich!

Das ist genau das Schema des Genossenschaftstheoretikers Charles Fourier, der die Leidenschaft in seinem Kommunemodell (Phanlanstère) an die Stelle von Leistungsdruck setzte – so konsequent, dass Marx und Engels seine Werke immer wieder mit Vergnügen lasen und André Breton im Exil nichts anderes. “Wünscht sich nicht jeder, die Arbeit in Lust zu transformieren (und nicht etwa die Arbeit zugunsten der Freizeit nur auszusetzen)?” fragte sich Roland Barthes – in “Sade, Fourier, Loyola”.

Das “Feld des Bedürfnisses” ist ihm zufolge “das Politische” (auch für einige Marxisten, die dazu computerisierte Netzwerke als neue “Lösung” loben), “das Feld des Begehrens ist dagegen das Häusliche”. Auch für den Leidenschaftssystemiker Fourier ist die Produktion eine häusliche Angelegenheit, sogar die händlerische Tätigkeit, obwohl er als ehemaliger Handlungsgehilfe den Handel eigentlich verabscheute. Da klingt noch “polis” und “oikos” nach. Wenn letzteres sich jedoch in der Genossenschaftsbewegung patchworkartig ausdehnt, wie es z.B. den Lassallianern als Gesellschaftsmodell vorschwebte, dann gerät es bald mit Politik und Kapital in Konflikt. Und aus ist es mit lustig – und leidenschaftlich.

Das Bremer Kneipenkollektiv „Brazil“ auf Urlaub in Portugal (2008)


Die mit Leidenschaft ausgeübte Tätigkeit findet ihren Sinn in sich selbst, im Gegensatz zu der von oben oktroyierten Leistung, also Leidenschaft versus Leistung.

Wenn man als Lehrling mit Leidenschaft etwas anfängt, dann wird diese Tätigkeit  wohl oder übel langsam in Leistung überführt/übertragen. und wenn das gelungen ist, dann ist es aus mit der Leidenschaft oder sie glüht höchstens noch mal hier und da kurz auf, erinnert dadurch an die Anfänge…

Mit der Forderung nach Professionalisierung oder immer mehr Professionalität hat man es bei denen, die ihr nachgeben, geschafft, dass sie äußere Anforderungen als eigene Wünsche begreifen, damit sind sie dem, was von außen kommt, zukünftig ausgeliefert.   Über die Umwandlung des eigenen Wunsches im Verlauf der Revolution in die prompte Umsetzung dessen, was von oben dekretiert wird, hat Andrej Platonow ein schönes Beispiel aus einer Dorfkommune (auf einem „Orghof“) gefunden…

In der Anfangszeit der Kollektivierung „vergesellschaftete“ man hier und da sogar das Geflügel. Michail Alexandrowitsch Scholochow schilderte einen erfolgreichen Aufstand der Bäuerinnen gegen diesen revolutionären Rigorismus, den Stalin dann selbst – Anfang 1930 – in seinem berühmten Artikel „Vor Erfolgen von Schwindel befallen“ kritisierte.  Andrej Platonow begab sich nach Erscheinen dieses Artikels – im Auftrag der Zeitschrift „Krasnaja now“ (Rote Neuigkeit) – sofort in sein Heimatgebiet Woronesh, wo er sich zuvor als Ingenieur an der Melioration und Elektrifizierung beteiligt hatte, um diese von Stalin proklamierte Wende in der Kollektivierungspolitik von unten mit zu bekommen. Seine währenddessen entstandene „Armeleutechronik ‚Zu Nutz und Frommen'“wurde zwar 1931 gedruckt, aber nachdem Stalin eigenhändig „Ubljudok“ (Schweinehund) auf die Ausgabe geschrieben hatte, mußte der Chefredakteur Alexander Fadejew sich von ihr distanzieren. Er bezeichnete sie als „Kulakenchronik“ und den Autor als „Kulakenagent“, der „das wirkliche Bild des Kolchosaufbaus und -kampfes verfälscht“ und „die kommunistischen Leiter und Kader der Kolchosbewegung verleumdet“ habe.

Der Erzähler in Platonows „Chronik ist eine „dämmernde Seele“, „zerquält von der Sorge um das Gemeinwohl, der unruhig von einem Kollektiv zum anderen über Land wandert“. In all seinen Büchern sind die Leute unterwegs, in der „Chronik“ ist es Platonow selbst, ein „Pilger durchs Kolchosland – der das Dorf verstand“, wie Viktor Schklowski bereits 1926 feststellte, indem er aktiv an seiner Entwicklung teilnahm, denn „wertvolle Beobachtungen entspringen nur dem Gefühl emsiger Mitarbeit“. Diese Überzeugung teilte Platonow mit Sergej Tretjakow, der sich ebenfalls auf Viktor Schklowski berief, als er meinte, „der Schriftsteller muß in Arbeitskontakt mit der Wirklichkeit treten“. 1930 stellte Tretjakow sich dem nordkaukasischen Kombinat „Herausforderung“, einer Vereinigung von 16 Kolchosen, für Bildungsarbeit zur Verfügung. Anschließend veröffentlichte er das Buch „Feld-Herren“ darüber, das bereits im Jahr darauf auf Deutsch herauskam und hier fast zu einem Bestseller wurde. Es ist jedoch mehr von bolschewistischem Enthusiasmus als von wirklicher Kenntnis des Dorfes und der Landwirtschaft getragen – dazu absolut staatstragend.

Der eher anarchistisch inspirierte Platonow ließ dagegen bereits 1928 in seinem Essay „Tsche-tsche-O“ seinen Helden sagen: „Die Kollektive in den Dörfern brauchen wir jetzt mehr als den Dnjeprostroi…Und schon bereitet der Übereifer Sorgen… Verschiedene Organe versuchen, beim Kolchosaufbau mitzumischen – alle wollen leiten, hinweisen, abstimmen…,“ so zitiert ihn die Platonow-Expertin der DDR Lola Debüser, die darauf hinweist, dass der Autor die Tragik und letztlich das Scheitern der Kollektivierung vor allem im „staatlich-bürokratischen und repressiven Mechanismus von oben“ sah, der den „Garten der Revolution“ mit seinen „kaum erblühten Pflanzen“ zerstampfte.  Das Ringen mit dieser „mechanischen Kraft des Sieges“ thematisierte Platonow auch in seinen zwei Romanen aus dem „Jahr des großen Umschwungs“ 1929: „Tschewengur“ und „Die Baugrube“.

In diesem läßt er z.B. einen Kulaken sagen: „…ihr macht also aus der ganzen Republik einen Kolchos, und die ganze Republik wird zu einer Einzelwirtschaft…Paßt bloß auf: Heute beseitigt ihr mich, und morgen werdet ihr selber beseitigt. Zu guter Letzt kommt bloß noch euer oberster Mensch im Sozialismus an“. Daneben ging es Platonow auch um die durch die Mechanik der Macht (wieder) forcierte Trennung von Kopf- und Handarbeit, mit der die ganzheitlichen Maßstäbe und die bewußte Teilnahme des Einzelnen am Aufbau des Sozialismus zerstört werden.  „Der Mensch war [durch die siegreiche Revolution]“ – so empfand Platonow das zumindestens – „aus dem System der sozialen Determiniertheit ‚herausgefallen‘, alles schien möglich und leicht realisierbar“, schreibt der russische Platonowforscher L. Schubin.

Aber diese Möglichkeiten wurden nach und nach von der „Mechanik der Macht“ zurückgedrängt. „Die Technik entscheidet alles“, verkündete Stalin 1934 und meinte damit nicht nur die Industrialisierung der Landwirtschaft – vom Traktor bis hin zu agronomischen Verfahren, sondern auch die administrativ umgesetzten neuen Erkenntnisse der Wissenschaft – vor allem der „proletarischen Biologie“ (Mitschurin/Lyssenko). Der französische Marxist Charles Bettelheim merkte dazu 1971 an: „Wer hier handelt, das ist die Technik, und es ist der Bauer, auf dessen Rücken gehandelt wird“.

In seinen Samisdat-Aufzeichnungen aus dem Untergrund kam Boris Jampolski 1975 zu einer ähnlichen Einschätzung: „Wenn [E.T.A.] Hoffmann schreibt: ,Der Teufel betrat das Zimmer‘, so ist das Realismus, wenn die [Sowjetschriftstellerin] Karajewa schreibt: ,Lipotschka ist dem Kolchos beigetreten‘, so ist das reine Phantasie“. Für diese Autorin ist Literatur „staatliches Schönschreiben“, könnte man dazu mit Platonow auch sagen. In seinem Roman „Tschewengur“ läßt er einen seiner Helden zu der Erkenntnis kommen: „Hier leben keine Mechanismen, hier leben Menschen, die kann man nicht in Gang setzen, solange sie nicht selbst ihr Leben einrichten. Früher habe ich gedacht, die Revolution ist wie eine Lokomotive. Jetzt aber sehe ich: Nein, jeder Mensch muß seine eigene Dampfmaschine des Lebens besitzen…damit mehr Kraft da ist. Sonst kommt man nicht vom Fleck“.

Auf dem Plenum der KPdSU zur Agrarpolitik am 15. März 1989 formulierte es zuletzt Michail Gorbatschow rückblickend so: „…die Führung des Landes ging [Ende der Zwanzigerjahre] nicht den Weg der Suche nach ökonomischen Methoden, um die Probleme und Widersprüche zu lösen, sondern einen anderen, direkt entgegengesetzten Weg – den Weg des Abbaus der NEP,…der administrativen Kommandomethoden…Die natürliche Unzufriedenheit der Bauern wurde als eine Art Sabotage gedeutet. Und damit wurde die Notwendigkeit repressiver Maßnahmen gerechtfertigt…Im Agrarsektor lebten die Methoden außerökonomischen Zwangs aus den Zeiten des Kriegskommunismus wieder auf“.

Demo in Moskau (2010)


Hierzulande kennen wir dagegen den „ökonomischen Zwang“ im Agrarsektor nur allzu gut – wenn auch in umgekehrter Weise: „Wer nicht wachsen will muß weichen“, sagen die Bauern dazu, d.h. von der EU wird permanent eine Politik der Liquidierung der Dorfärmsten als Klasse betrieben – zugunsten der Kulaken. In Platonows „Armeleutechronik sucht der unstete Wanderer demgegenüber einen humanistischen Weg. Im Kolchos „Kulakenfrei“ trifft er auf den Vorsitzenden Senka Kutschum, der eine interessante Kollektivierungspolitik betreibt. Und im Kolchos des Vorsitzenden Kondrow geht die Kollektivierung so erfolgreich und ohne Überspitzungen voran,  „weil er selbständig denkt und andere zum Mitdenken auffordert, auch weil er sich gegen unqualifizierte Direktiven von oben wehrt“. Kondrow ist glücklich, als Stalins Artikel seinen vernünftigen Weg bestätigt. Platonows Erzähler stellt fest: „‚…es gab Orte, die frei blieben von schwindelerregenden Fehlern…Doch leider waren solche Orte nicht allzu zahlreich“. Stattdessen gab es viele Aktivisten, die nur allzu bereit waren, jede Maßnahme der Administration zu exekutieren.  In „Die Baugrube“ hat Platonow solch einen porträtiert:

„Auch dem Aktivisten war der gelbliche Abendhimmel, diese Begräbnisbeleuchtung, aufgefallen, und er beschloß, gleich morgen früh das Kolchosvolk zu einem Sternmarsch zu formieren, der in die umliegenden Dörfer führen sollte, die sich noch immer ans Einzelbauerntum klammerten…Der Aktivist befand sich noch auf dem Orghof, die vorige Nacht hatte nichts erbracht, keine einzige Direktive war von oben herab auf den Kolchos geflattert, und so mußte er notgedrungen den Gedanken im eigenen Kopf freien Lauf lassen. Doch sie brachten Unterlassungsängste mit sich. Braute sich nicht doch Wohlstand auf den Einzelgehöften zusammen? War ihm in dieser Beziehung etwas entgangen? Andererseits war nichts gefährlicher als Übereifer – deshalb hatte er nur den Pferdebestand vergesellschaftet und grämte sich nun über die vereinsamten Kühe, Schafe und Hühner, denn in der Hand des spontanen Einzelbauern konnte schließlich auch der Ziegenbock zum Hebel des Kapitalismus werden.“

Platonow spielt hier sowohl auf die Parteirechten um Bucharin an, die für eine eher sanfte Kollektivierung plädiert hatten, gegenüber den Linken, die Stalin mit den Trotzkisten aus der Partei ausgeschlossen hatte. Diese befürworteten eine noch radikalere Lösung der Bauernfrage. Später wandte sich Stalin auch gegen die Bucharinisten. In der Kolchose von Gremjatschi Log, deren Entwicklung Scholochow beschreibt, wird der Aktivist Makar Nagulnow wegen seines Kampfes für die „hundertprozentige Kollektivierung“ plötzlich des Trotzkismus verdächtigt. Er verteidigt sich: „Ich bin nicht Trotzki wegen mit den Hühnern nach links geraten“. Er wollte nur so schnell wie möglich „den Eigentumsmenschen, den Kleinbürger matt setzen“. Er muß sich jedoch sagen lassen, dass solche linksradikalen „Verzerrungen“ und „ungebührliche Drohungen“ gegen Bauern“ bei der Kollektivierung laut Stalins Artikel „Vor Erfolgen vom Schwindel befallen“ nur dem Feind nützen – also dem „rechten Opportunismus“. Die Kollektivbauern bekamen daraufhin ihr Kleinvieh und sogar eine Kuh zurück – und Stalin legte genau fest, wieviel Morgen Land jeder in Zukunft privat bewirtschaften durfte. Damit gerieten viele Kolchosen erneut in Schwierigkeiten, denn die Bauern arbeiteten bald lieber auf ihrem kleinen Privathof als in der großen Kollektivwirtschaft.

So weit die Kollektivierung, die aus der Leidenschaft für die Revolution Leistungen und Professionalität für den Aufbau des Sozialismus (in einem Land) machte bzw. machen wollte.

Plötzlich war es wieder da: das ozeanische Wir-Gefühl.

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