Statt im Übergang von der Disziplinar- zur Kontrollgesellschaft immer nur darüber zu klagen, dass die Überwachung zunimmt – also immer mehr Telefongespräche abgehört, Briefe sowie Emails kontrolliert und öffentliche Orte unter Videobeobachtung gestellt werden, fangen die Bürger selbst an zu überwachen…
Hier richtet einer seine Videokameras als Vogelhäuschen getarnt in die Fenster seiner Nachbarin, die gerne nackt herumläuft. Dort bohrt einer ein Loch in seinen Fußboden und nimmt die nächtlichen Gespräche des unter ihm wohnenden und sich mit Schweinischen Wörtern erregenden Ehepaars auf. Immer beliebter wird bei zunehmendem Mobbing auch das Abhören von Kollegen-Gesprächen mittels zweier Handys. Solch eine Neugier stößt nicht immer auf Gegenliebe.
Als zwei FU-Studentinnen beschlossen, ihre Abschlußarbeit im Fach „Kommunikation“ über „Gespräche am Nebentisch“ zu schreiben, bat ich sie, vorher ein paar Tage im Berliner Nobellokal „Borchardts“ zu üben – und anschließend was darüber zu schreiben. Bevor das geschah, veröffentlichte ich eine kurze Bemerkung über ihr Experiment mit der Bezeichnung „Bürger beobachten das Borchardt“ (dort verkehren vornehmlich Medienmanager). Prompt bekam ich mehrere Anrufe von Borchardt-Mitarbeitern, die unbedingt die Namen der Studentinnen wissen wollten.
Eher umgekehrt verhielt es sich mit einem Permanentgespräch, das direkt in das Gehirn eines Kybernetikers am Nebentisch gelangte, der davon jedoch gar nichts wissen wollte, lieber weggehört hätte, denn es ging darüber, dass er sich umbringen sollte. Der Kybernetiker Frank Possekel schrieb diese monatelange gesprächsmäßig geführte „Beeinflussung“ erst auf (sein Text wurde am 18.7.06 in meinen blog „Hier spricht der Aushilfshausmeister“ unter dem Titel „Neurofaschismus“ gestellt), und ging dann auf Anraten des BKA, die eine Hotline für solche „Fälle“ eingerichtet hat, in eine Gruppe anonymer Stimmenhörer im Prenzlauer Berg. Dort wurde das anstrengende Gespräch immer leiser und verstummte schließlich ganz.
Als glatten Gegenspieler zum Kybernetiker Possekehl könnte man den Hubschrauberexperten Heinrich Dubel bezeichnen: Er leitet seit 1991 in seinem Berliner „Erratik-Institut“ das Projekt „Stimmen? Wir hören hin.“ Die interessantesten aufgeschnappten Dialogen verschickt er regelmäßig an Kommunikations- und Medienforscher sowie andere Neugierige.
Hier einige Beispiele: Nachts im Taxi: „Ost-Berliner Fahrer: ‚Also nee! Kreuzberg! Da will ich ja nich‘ wohn‘!‘ Fahrgast: ‚Ich will auch nicht, dass Sie da wohn‘.“
Vernissage am Samstag in Prenzlauer Berg: Sie trägt ein silbernes Kreuzchen an der Halskette. Er will Konversation machen: „‚Bist Du Christin?‘ ‚Nee. Ann-Katrin‘.“
Ein angetrunkener Besucher vor einem Mitte-Club zum Türsteher: „‚Eh … Samstags is‘ aber ganz schön Scheiße hier‘. Türsteher (trocken): ‚Is‘ aber Freitag‘.“
Lange Schlange in der Pankower Post, es wird über den Gestank im Raum geklagt. Ein Mann hebt den Arm und sagt: „‚Det bin ich! Ich stinke wie ein Puma.‘ Darauf eine Frau: ‚Riecht aber eher wie Knoblauchwurst‘.“
U-Bahnhof Alexanderplatz – zwei Männer vor einem Plakat: „‚Wat solln ditte?‘ ‚Wees ick ooch nich, sons is hia imma Kunst‘.“
Lausitzer Platz, zwei Mädchen in der Frühlingssonne: „‚Ich kann gar kein Weichei sein …! Ich hab ja keine Eier!‘ ‚Aber…du hast doch Eier!‘ ‚Och, geh mir doch nich‘ auf’n Sack!'“
U-Bahnhof Hermannplatz – zwei Junkies: „‚Wenn ich in‘ Knast geh‘, geht mein Hund kaputt. Der frisst dann nix mehr, dass sach ich dir.‘ ‚Ach Quatsch! Als du die Woche im Krankenhaus warst hat er ja auch gefressn.‘ ‚Das war was anderes. Da hat er gedacht: Herrchen is auf Party‘.“
Wienerstraße – zwei Mädchen in weißen Blusen, es fängt an zu regnen: „‚Du, Nicole, isch glaub, isch werd durchsischtisch…'“
In Kreuzberg gibt es eine Dichterin, die ständig mit einem Kopfhörer auf rumläuft. Dieser Kopfhörer besteht aber nicht aus Lautsprechern, sondern ganz im Gegenteil aus Mikrophonen. Hier einige damit von ihr eingefangene Dialoge:
Zwei Intellektuelle im „Café Jenseits“. Der eine aufgeregt: „‚Plötzlich stänkern alle deutschen Medien gegen die illegalen jüdischen Siedlungen in Palästina!‘ Der andere – müde, mit Brecht: ‚Was ist die Besiedlung der Westbank gegen die Gründung einer Bad Bank?!'“
Zwei Jungtürken am Kotti: „‚Wenn nich. Isch mach disch urban!‘ ‚Schwör isch bei kaputte Kirche am Kudamm!'“
Abschließend ein Bonmot aus dem „Magazin für Sicherheitspolitik: loyal“: „Jede Patrouille kann die letzte sein“.
Sowie das letzte „Lebensmotto“ von Max Goldt, der sich meistens selbst abhört: „Na, dann eben nicht!“