Heute vormittag sah ich in dem Filmfestival ´Achtung Berlin´ den Film ´Korankinder´, der mich sehr beeindruckte. Es war der lupenreinste Dokumentarfilm, den ich kenne. Der Regisseur ist mit der Kamera in die Koranschulen von Bangladesh gegangen. Etwas Verboteneres kann man auf diesem Planeten zur Zeit nicht tun. Das ist so, als wäre ein freier Dokumentarfilmer in den 30er Jahren bei den Geheimreden des Führers vor der Generalität bezüglich der strategischen Ziele der Wehrmacht dabeigewesen.
In Bangladesh, das hier unbekannter ist als Liechtenstein, leben über 100 Millionen Muslime. Kaum einer hat zu essen, die Armut ist so unvorstellbar wie die Menschenmassen, die sich wie gigantische schwarze Heuschreckenschwärme (oder andere biblische Plagen) über die Erde wälzen. Die Bilder, die der kleine Dokumentarfilmer mit seiner technisch äußerst dürftigen Wackelkamera gedreht hat, sprechen eine Sprache, die keinen Kommentar mehr braucht. Der einzige Halt dieser völlig ausgelieferten Wesen ist die Koranschule. Hier lernen die Kinder von der Grundschule an viele Jahre lang 6.000 Koranverse auswendig, auf Arabisch, wovon sie kein Wort verstehen, und natürlich nur mit Hilfe von Schlägen. In der Regel stumpfen sie dabei völlig ab und verlieren das wenige kleine Glück ihrer Kindheit, das wenigstens ab und zu im Elternhaus aufblitzte. Noch nie habe ich so traurige Kinderaugen gesehen…
Wie wird das alles enden, mit der Überbevölkerung? Wie KANN das überhaupt noch gut enden? Bestürzt lief ich durch das üppige Grün unserer Parks und Gärten im derzeitigen vorgezogenen Sommer. In der Lottmannstraße (benannt nach dem Mitbegründer der Freien Demokratischen Partei nach dem Kriege) blühten schon auf beiden Seiten die Kirschbäume (s. Foto).
Nächste Woche kommt mein Lektor Marco Van Huelsen in die Hauptstadt, um mit mir DER GELDKOMPLEX zu lektorieren. Dann bricht eine Phase harter Arbeit an. Zum Beispiel müssen noch einige kleinere Szenen nachgedreht werden, etwa die Flucht aus dem Toilettenfenster, der Besuch der Brecht´schen Suppenküche und die Wiederbegegnung mit Hans-Herrmann Klarczyck. Die Fußballszenen werden zu 30 bis 40 Prozent gestrichen. Es sind interessanterweise die einzigen Stellen im Buch, die sich so lesen, als sei der Autor gerade uninspiriert. Ich wußte bis dahin gar nicht, daß ich das überhaupt kann: uninspiriert schreiben. Alle anderen Sätze im Buch, ich habe es immer wieder nachgeprüft, sind perfekt. Man kann nicht EINEN Buchstaben ändern. Aber kürzen kann man natürlich. Kürzen hatte mich noch nie gestört, auch nicht im Journalismus. Ich schrieb immer schon regelmäßig ein Drittel Überlänge, damit der Redakteur noch kürzen konnte und somit das Gefühl bekam, nützlich zu sein. Es war dann fast eine Enttäuschung, als Peter Unfried meine Texte in der taz immer demonstrativ durchwinkte („Am Lottmanntext legt mir keiner Hand an, basta!“). In DER GELDKOMPLEX wird man ziemlich willkürlich kürzen müssen, denn alles ist gleich gut, gleich tragisch, bis auf die Italienkapitel. Dort, in ´Grottammare´, werden die Weichen des Romans gestellt. Dort ist das Glück zuhause (s. Foto)…
Die häufigste Frage bei ´Fragen Sie Joachim Lottmann´ ist übrigens seit Jahren, berichtet meine Nichte Hase, welche BÜCHER ich denn zur Zeit lese. Ich beantwortete das nie, weil sich das ja andauernd ändert. Zudem lese ich sehr wenig, und das würde man womöglich merken, wenn ich auf die Frage regelmäßig einginge. Letzte Woche überwogen allerdings die Fragen, die sich auf meine Freundin Melanie bezogen, die gesagt hatte, Youporn sei ein großer Trost in traurigen Momenten für sie. Ich hatte das ja damit gerechtfertigt, daß die jungen Menschen, die sich da gegenseitig filmten, echte Liebespaare seien. Da sie sich wirklich liebten, sei die Darstellung a priori keine Pornographie. Dem widersprechen nun viele Leser. Aber ich will dennoch an dieser Stelle endlich das Geheimnis lüften, welche Bücher gerade neben unserem Bett liegen. Nämlich:
Christian Y. Schmidt: ´Allein unter 1,3 Milliarden´.
Tex Rubinowitz: ´Das staubige Tier´.
Knut Hamsun: ´Rosa´.
Hans-Christian Andersen: ´Märchen´.
Joachim Lottmann: ´Mit der FIFA in Italien´.
Katja Kipping: ´Ausverkauf der Politik´.
Gisela Getty / Jutta Winkelmann: ´Die Zwillinge´.
Juan Carlos Onetti: ´Wenn es nicht mehr wichtig ist´.
Frank Jöricke: ´Mein liebestoller Onkel´.
Maxim Biller: ´Ein verrückter Vormittag´.
Italo Svevo: ´Ein gelungener Scherz´.
Thorsten Krämer: ´The Democratic Forest´.
Mara Genschel: ´Tonbrand Schlaf´.
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