Bis in die Siebzigerjahre gab es in Kreuzberg 36 nur zwei Restaurants: die „Stiege“ und das „Samira“ – jeweils am einen und am anderen Ende des Amüsierabschnitts der Oranienstraße gelegen. Die Oranienstraße wird oft nur kurz „O“ genannt, vor allem von den mit Becksflaschen in der Hand Rumlaufenden, weswegen ein amerikanischer Amüsierkonzern seine neue Vergnügungshalle auf der anderen Spreeseite jetzt auch „O2“ („-World“) nannte. Die „Stiege“ und das „Samira“ gehörten und gehören den palästinensischen Brüdern Seoud. Nachdem wir jahrzehntelang dort eingekehrt waren, baten wir Mahmoud Seoud um ein Interview.
Claudia Basrawi/Helmut Höge: Was hat sich verändert in all den Jahren in Kreuzberg?
Mahmoud Seoud: Viel, aber der Kiez ist noch da. „S.O. 36 bleibt!“ wie es heißt. Dass sich McDonald’s hierher gewagt hat, finden wir allerdings unglaublich. In unseren Lokalen haben wir eine Menge Stammgäste seit der Wende verloren, dafür kommen nun vor allem spanische Touristen, aber auch Schweden und Dänen. Einer unserer Kellner, der aus dem selben palästinensischen Dorf stammt wie wir, aber dann in Dänemark gelebt hat, freut sich immer, wenn er mal wieder dänisch sprechen kann. Den wahren Unterschied zu früher hat neulich Leila, eine halbe Palästinenserin, auf den Punkt gebracht. Ihr gehört der „Jodelkeller“ in der Adalbertstraße. In der Kneipe trafen sich früher immer die Hells Angels. Die Rocker sind jetzt 60 oder 70 – und kommen, wenn überhaupt noch, nicht mehr mit ihren Motorrädern, sondern mit Fahrrädern vorgefahren. Da stehen manchmal 20 Fahrräder vor dem „Jodelkeller“. Um mit der Zeit zu gehen, hat Leila ihre Kneipe nun radikal umgestaltet. Das machen wir natürlich nicht. Unsere Einrichtung der „Stiege“ hat fast Denkmalschutz. Das war früher ein Schokoladen-Laden mit eigener Herstellung im Keller. Ich habe dann bei Trödlern noch viele alte Sachen und auch Bilder dazugekauft.
Wo kommt eure Familie eigentlich her?
Meine Eltern lebten in Deir Al-Kassi, einem Dorf nahe Akka [heute Akkor im Norden Israels], wo sie Oliven- und Feigenbäume besaßen. 1948, im Ersten Arabisch-israelischen Krieg, flohen sie in den Südlibanon – in ein Dorf bei Sur, wo libanesische Bekannte lebten. Dort wurde ich 1951 als ihr viertes Kind geboren. Meine Eltern hofften zunächst, irgendwann wieder nach Deir Al-Kassi zurückkehren zu können, aber die Angst vor den Israelis blieb. Als dann auch noch 1953 mein ältester Bruder beim Spielen von einem anderen Kind mit einem selbstgebastelten Gewehr tödlich verletzt wurde, zogen meine Eltern noch weiter weg von ihrem Heimatdorf – nach Beirut: in das Flüchtlingslager Tel Zater, das die UN-Organisation für palästinensische Flüchtlinge (UNWRA) zur Verfügung gestellt hatte. Mein Vater fand zunächst Arbeit als Lastenträger im Hafen und machte sich später mit einem Kleidergeschäft selbständig.
Wie habt ihr im Lager gelebt?
In Tel Zater bin ich groß geworden. Wir haben da in Blechcontainern gewohnt, die auseinandergeschnitten wurden. Man durfte keine festen Gebäude aus Stein dort errichten, das hat die libanesische Regierung nicht erlaubt, die war damals noch sehr selbstbewußt. Als Palästinenser machten einem die Libanesen das Leben schwer, man durfte dies nicht und das nicht – als Staatenloser. Mit 16 bin ich abgehauen in ein Ausbildungslager der PLO bei Damaskus.
Und wie bist du nach Berlin gekommen?
Mein zweitältester Bruder, Ahmed, ging nach Belgien, von dort zog er weiter nach Westberlin, wo sich damals – nach dem Mauerbau – die Einheimischen noch scharenweise nach Westdeutschland absetzten. Kreuzberg war bereits halb entvölkert. 1969 fand Ahmed Arbeit als Kellner in der ersten Pizzeria Kreuzbergs – im „Samira“. Das Restaurant gehörte Hamsi, einem Libanesen. Dem ersten Libanesen in Berlin, der ein italienisches Restaurant eröffnete. Als Ahmed Fuß gefaßt hatte, holte er mich und meinen Bruder Hamude nach. Er verschaffte uns ein Einreisevisum in die DDR. Vom Bahnhof Friedrichstraße sind wir dann unkontrolliert nach Westberlin gelangt, wo wir Asyl beantragten. 1975 holten wir auch meinen jüngsten Bruder, Mustaffa, nach Berlin. Er war in Tel Zater in die Nähe eines Schußwechsels gekommen und hatte dabei einen Streifschuß am Kopf abbekommen, der ihn zum Teil gelähmt hatte. Vom Beiruter Krankenhaus schafften wir ihn in ein Ostberliner Krankenhaus, dort mußte er alles neu lernen, als es ihm etwas besser ging, kam er nach Westberlin.
Wie wurdet ihr hier Kneipenwirte?
Ahmed kaufte dem Libanesen 1976 das „Samira“ ab. Der hatte die Nase voll von Kreuzberg und wollte sich ins ruhige Marienfelde zurückziehen. Hamude hat dann eine andere Pizzeria – „Jasmin“ – in der Wilhelmstraße übernommen, und später, für seinen Sohn, auch noch das dortige Steakhaus „Asador“. Für mich und Mustaffa wurde das Lokal „Stiege“ in der Oranienstraße am Moritzplatz erworben, wo bis heute auch noch Nazeh, der aus unserem Dorf stammt, kellnert. Das trifft auch auf Suhr zu, ein Mitarbeiter von Ahmed, der sich später mit der Pizzeria „Romantica“ in der Schlesischen Straße selbständig machte. 1985 kaufte Ahmed von der Stadt noch den kleinen Park gegenüber vom „Samira“ und gleich neben dem Lokal pachtete er ein Trümmergrundstück, das einem Israeli gehört. Ahmed machte daraus vor drei Jahren einen Biergarten. Im Park eröffnete er einen „Hähnchengrill“. 1990 erwarb er noch ein spanisches Lokal – das „La Paloma“ in der Skalitzerstraße 54. Die Arbeit in der „Stiege“ teilen Mustaffa und ich uns – er macht die Tages- und ich die Nachtschicht.
Wie seid ihr zur Stiege gekommen?
Ahmet hat sie damals gefunden. Ursprünglich wie gesagt ein Schokoladen-Geschäft, hatte die Kneipe zuletzt einem Deutschen gehört und war geschlossen worden, nachdem eine Rockerbande sie gestürmt hatte, weil linke Studenten in dem Lokal verkehrten. Die Rocker hatten ihr Clubheim im stillgelegten und heute zugemauerten U-Bahnhof Dresdner Straße – unter dem jetzigen Alfred-Döblin-Platz, also ganz in der Nähe der ‚Stiege‘. Später sind sie dann in die Waldemarstraße umgezogen. Auch zu uns kamen sie dann. Wir haben damals 1974 richtig gegen die Rocker gekämpft. Dabei haben wir uns mit anderen Kneipenbesitzern, die sich auch bedroht fühlten, zusammen getan. Auch unsere Gäste, Linke, Künstler und Studenten, hielten zu uns. Die Polizei hat dagegen nie geholfen, sie hat uns nur ermutigt: ‚Weiter so!‘
Die linke Scene, die sich nach dem Mauerbau 1961 vornehmlich in den vom Bürgertum überstürzt verlassenen Großwohnungen links und rechts des Kudamms angesiedelt hatte, wurde ab Mitte der Siebzigerjahre von den Hausbesitzern langsam wieder von dort verdrängt, und verlagerte sich nach Schöneberg und Kreuzberg, wo zur gleichen Zeit auch die türkischen Arbeiter, die bis dahin in den Wohnheimen ihrer Großbetriebe untergekommen waren, in leerstehende Wohnungen und ganze Mietshäuser zogen. Sie ließen dann nach und nach ihre Familien nachkommen. Die linken Studenten begriffen die Türken als „fünfte Kolonne“ der Hausbesitzer zum Herunterwohnen der Altbausubstanz, um anschließend Hochhäuser dort zu errichten. Das Sceneblatt „Zitty“ schrieb 1980: „In einem Türkenghetto entscheiden nur noch Justiz und PolizeiOETürken raus? Warum nicht. Zumindest einige. Es sei denn, man will den Stadtteil sterben lassen.“ Der Bezirk Kreuzberg verhängte daraufhin „Zuzugssperren“ gegen sie…
Solche Probleme hatten wir nicht: die Türken waren fast alle Arbeiter in Industriebetrieben, wir waren dagegen Selbständige. Dafür ging der Ärger mit den Rockerbanden weiter. Die einen nannten sich ‚Kettenhunde Berlin‘ und die anderen ‚Phönix‘. Wir haben uns aber nicht einschüchtern lassen. Außerdem haben wir Verstärkung organisiert. Umgekehrt haben wir auch anderen geholfen – z.B. rief mal die Kneipe ‚Tankstelle‘ in der Adalbertstraße bei uns an und bat um Unterstützung, ebenso die Wirtin, der damals die ‚Rote Harfe‘ am Heinrichplatz gehörte. Als Ahmeds Truppe da anrückte, haben sie sich ergeben. Auch das von linken Jugendlichen 1973 besetzte „Tommy-Weisbecker-Haus“ in der Wilhelmstraße haben wir, die Palästinenser, geschützt – als die Rechten es angreifen wollten.
Einmal kamen sie in die ‚Stiege‘, man hörte sie schon von weitem: mit ihren Motorrädern – und verbreiteten gleich Angst. Ahmed war gerade im Lokal: Er gab ihnen fünf Minuten, um wieder zu verschwinden. Sie wollten nur was trinken. Nein, ihr müßt raus, sagte Ahmed und hat sich geweigert, sie zu bedienen. Schließlich gingen sie wieder. Später durften sie dann reinkommen – aber ohne ihre Jacken.
Es gab damals unter den zurückgebliebenen Kreuzbergern, die also nicht den Betrieben nach Westdeutschland gefolgt waren, noch eine Menge Rechte – einige Kioskbesitzer z.B. oder hier – gleich in der Luckauerstraße die Kneipe, da hat der Wirt seine Musikbox nach draußen gestellt, die ganze Zeit laut ‚Kreuzberger Nächte sind lang‘ gespielt, seine Gäste haben mitgegröhlt und uns den Hitlergruß gezeigt.
Aber dann kamen immer mehr Hausbesetzer – zu denen wir gute Beziehungen hatten, ebenso zu den Kommunisten vom KBW, die das Haus gegenüber in der Oranienstraße kauften, auch das ‚Max & Moritz‘ gleich daneben war ein linker Laden. Nach einem Konflikt in der Sylvesternacht haben wir alle zusammen Dabke durch den Kiez getanzt.
Ab den späten Siebzigerjahren kam auch immer mehr Promis in die „Stiege“…
Ja, z.B. der Dichter Johannes Schenk und die Malerin Natascha Ungeheuer vom „Kreuzberger Straßentheater“. Später wurde die „Stiege“ Manfred Krugs Stammkneipe – und dann auch Drehort für die Serie „Liebling Kreuzberg“, Didi Hallervorden verkehrte bei uns, weil es die Stammkneipe seiner Frau war, ebenso der Moderator Ulrich Meyer, der seine Produktionsfirma in der Nähe hatte. Gleiches galt für die Mitarbeiter von „Gute Zeiten – Schlechte Zeiten“ und für Wolfgang Jürgen, der den Verlag „Berliner Handpresse“ betrieb. Bis zu seinem Tod 2009 saß er fast täglich bei uns. Wir waren immer ein beliebtes Altberliner Lokal, nach dem Mauerfall sind jedoch viele Gäste in den Prenzlauer Berg abgewandert. Das gilt ebenso für das ‚Samira‘, das jetzt auch noch unter dem Rauchverbot in Speisegaststätten leidet. Mein Bruder will da demnächst eine durchsichtige Trennwand einziehen, also eine Art Raucher-Abteil einrichten.
Und wo sind die Linken geblieben?
Am 1.Mai ist hier in der Oranienstraße immer noch Randale, aber nie sind im ‚Samira‘ und in der ‚Stiege‘ die Scheiben eingeworfen worden. Nur einmal, 1987, da habe ich aus unserem Wohnzimmerfenster in der Oranienstraße gekuckt – und dabei ist mir ein Gummigeschoß an die Stirn geflogen. Die Wunde mußte im Krankenhaus genäht werden.
Noch mal zurück zum Libanon. Wurde das Lager Tel Zater nicht zerstört?
Als die Falangisten mit Unterstützung der Syrer 1976 unser Lager stürmten, habe ich noch einen Bruder und meinen Vater verloren. Die Leiche meines Vaters wurde nie gefunden. Unser Lager lag von den anderen großen Flüchtlingslagern wie Sabra und Shatila, wo die Falangisten dann 1982 mit israelischer Unterstützung ein noch größeres Massaker anrichteten, entfernt, jedoch inmitten christlicher Wohngebiete. Wir wußten, dass das prekär war, aber mein Vater hat immer gesagt: „Ich bin einmal weg – aus Palästina, nach Deutschland gehe ich nun nicht auch noch“. Die Zerstörung unseres Lagers begann mit dem Überfall auf einen Beerdigungszug: Ein Palästinenser war im Kampf gegen Israel gefallen und sollte in Syrien beerdigt werden. Als der Bus mit den Trauergästen zurück nach Beirut fuhr, wurde er von Falangisten angehalten und die Insassen erschossen. Daraufhin wurden in den Palästinenserlagern Waffen ausgegeben – und sehr schnell wurde Tel Zater dann auch angegriffen. Das war ein Bürgerkrieg – immer arm gegen reich. Wobei die Christen im Libanon aufgrund des Proporzsystems stets bemüht waren und sind, die Mehrheit zu behalten. So gab es z.B. ein anderes Lager – von Palästinensern, die christlich waren, das ebenfalls geräumt wurde, den Vertriebenen ermöglichte man jedoch die Einbürgerung. In Tel Zater wurden die Unsrigen drei Monate lang belagert, d.h. beschossen – das Lager sollte weg. Der UNO-Schutztruppe gelang es schließlich, die Frauen und Kinder zu evakuieren. Sie mußten alle ihre Wertsachen da lassen. Meine Mutter, die 25 Jahre später immer noch Angst vor christlichen Libanesen hatte, ging damals mit meinen vier Geschwistern, dazu gehörte auch meine älteste Schwester mit ihrem Mann und sieben Kindern, nach Daimur, etwas außerhalb von Beirut. Unsere Verwandten kamen in anderen Lagern im Libanon unter.
Zater heißt doch Thymian auf Arabisch…
Ja, wir hatten in der Stiege mal eine „Pizza Tel Zater“, aber nur kurz, weil viele Vertriebene, die nach Berlin gezogen waren, nicht immer daran erinnert werden wollten. Dafür gab es hier bald einen „Tel Zater-Verein“, und nach 1982 noch einen „Shatila-Verein“.
Ich wollte und will auch weiterhin hier bleiben. Ich wohne in Kreuzberg – und lebe in Kreuzberg. Wenn ich auch gerne Urlaub in Marokko mache und die libanesische Küche sehr schätze. Inzwischen habe ich auch die deutsche Staatsangehörigkeit. Ich hatte 15 Jahre eine Aufenthaltserlaubnis, war in dieser Zeit also nur geduldet – und durfte Berlin nicht verlassen. Nach Feierabend habe ich mich oft in der Yorkstraßengegend herumgetrieben. Auch in Ostberlin war ich öfter, da kamen damals viele verletzte Plästinenser hin, und nicht wenige haben dort auch studiert. Einer ist heute Kinderarzt gegenüber von der „Stiege“. Wegen meines Flüchtlingsstatus durfte ich eigentlich Westberlin nicht verlassen, aber nach Osten hin wurde das nicht kontrolliert, deswegen habe ich dann Urlaub in Polen und Bulgarien z.B. gemacht.
Was geschah mit dem Rest deiner Familie?
Wir haben unsere drei Geschwister und unsere Mutter 1977 nach Berlin geholt. Im selben Jahr habe ich geheiratet, meine Frau ist vor drei Jahren gestorben, ein Jahr nach meiner Mutter. Ich habe aber noch eine Tochter, sie ist jetzt 33. Und außer meiner ältesten Schwester, die in Berlin lebt, habe ich noch drei weitere Schwestern: eine lebt in Schweden, in Helsingborg und zwei in Dänemark – in der Hamletstadt Helsingör. Die Orte liegen zehn Minuten auseinander – mit der Fähre. Früher haben wir abgesehen von unseren Familienmitgliedern die PLO finanziell unterstützt, jetzt helfe ich Kindern von gefallenen Palästinensern, auch mein Bruder Ahmed hilft anderen Familien. Wir haben einen Verein gegründet – zur direkten Unterstützung. Die Kinder, denen er hilft, sind jetzt 12 und 13, einer lebt in Gaza, eine bei Ramallah.
Hast du mal das Dorf besucht, aus dem deine Eltern stammen?
Ja, als ich die deutsche Staatsangehörigkeit hatte, konnte ich das. 2004 habe ich mit meiner ältesten Schwester, die noch in Deir Al-Kassi aufwuchs – bis sie vier war, und mit meiner Frau – die auch von dort stammt und im Libanon auf die alte Art noch für mich ausgesucht wurde, unser Dorf besucht. Ich war furchtbar aufgeregt. Wir mußten drei Stunden vor Abflug schon am israelischen Abfertigungsschalter in Schönefeld sein. Ich hatte ein Auto und Zimmer für uns in einem Hotel in Natanja gemietet, das einem Araber gehört. Er hat uns dann noch über eine arabische Hotelkette eine Rundreise durch Israel vermittelt. Im Nachbardorf von Deir Al-Kassi leben Drusen, die 1948 da geblieben sind. Einige haben meine Eltern noch gekannt, sie haben uns das Elternhaus, den Garten und alles gezeigt und ich habe Photos gemacht. Sie wollten, das ich bei ihnen wohne, beim Abschied haben sie geweint. Ich habe im Dorf meiner Eltern immer gekuckt ‚Wer ist was‘, aber vom Gesicht her kann man Juden und Araber nicht unterscheiden, und arabische Frauen höchstens, wenn sie einen Schleier tragen. 2006 bin ich mit meiner dänischen Nichte noch einmal in unser Dorf gefahren. Etwas später bin ich auch noch nach Damaskus geflogen. Jetzt, wo ich älter geworden bin, werde ich sentimental, und gehe viel in arabische Lokale – zum ‚Ägypter‘ auf dem Kudamm, um mir Bauchtanz anzukucken oder zu einem Palästinenser aus Nablus – am Kollwitzplatz. Ich bin ein Nachtmensch. Bis vor drei Jahren habe ich noch regelmäßig gefastet und währenddessen keinen Alkohol getrunken. Aber das mache ich nicht mehr.
Könntest du dir vorstellen, wieder in Palästina oder im Libanon zu leben?
Das läuft dort alles ganz anders als hier. Ahmed wollte irgendwann mit Frau und Kindern in Jordanien leben. Er ist aber wieder zurückgekommen. Mir ging es ähnlich – im Urlaub in Agadir und in Beirut. Ich hatte meiner Tante Geld geschickt, mit dem sie sich dort eine Eigentumswohnung kaufte. Bevor sie starb, hat sie mir diese Wohnung überschrieben. Ich wollte sie dann vermieten, aber das war alles derart kompliziert, dass ich sie schließlich verkauft habe. Hier läuft das anders – z.B. beim Eckhaus, wo unten die ‚Stiege‘ drin ist. Das sollte 2000 verkauft werden – da haben wir es einfach gekauft. Mit den Mietern quasi. Wir sind die erste palästinensische Generation, die in Berlin Gastronomie betreibt.
2001 war ich in Beirut und bei der Gelegenheit habe ich nach unserem Lager gesucht: Von Tel Zater habe ich nichts mehr gefunden, das gibt es nicht mehr, nur die Umgebung kam mir noch bekannt vor. Auch das Dorf im Südlibanon, wo meine Familie nach der Flucht zuerst untergekommen war und wo dann mein ältester Bruder beerdigt wurde, wollte ich besuchen, aber es war schon dunkel, als ich dort ankam und ich hatte zu wenig Zeit, so dass ich gar nicht ins Dorf reingegangen bin – ich habe es mir nur von außen angekuckt. Aber ich fahre bestimmt noch mal hin. Jetzt mache ich jedoch erst einmal Urlaub in Aleppo.
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2.
Dem Wirt der „Kogge“ in der Oranienstraße gehörte noch eine Kneipe mit einem ähnlich maritimen Namen im Wedding. Zwei solcher Bierschwemmen auf der Oranien- und der Müllerstraße: damit war er aus dem Schneider – dachte er lange Zeit. Aber erst starben all die verhinderten Seeleute in S.O. 36 mit der Zeit zügig weg, und dann wurden die in der „Kogge“ nachrückenden Landratten immer krimineller. Zuletzt verkehrten dort eigentlich nur noch einige jugoslawische und türkische Gangs, ein paar Fixer vom Kotti und die Wohnwagenleute vom Engelbecken. Nach der Wende war, nicht ohne Hintergedanken, in der „Kogge“ ein gelernter, aber arbeitslos gewordener Kellner aus Pankow angestellt worden: Uwe. In den 80ern saß er – wg. Republikflucht – drei Jahre im Knast, und zwar gemeinerweise fast genau gegenüber seiner Pankower Wohnung, wo er dann auch wieder einzog – und bis heute wohnt. Uwe erzählte mir einmal, nachdem die „Kogge“ wegen wiederholten Drogenhandels geschlossen worden und er in die Weddinger Filiale gewechselt war: „Da konnte man alles kriegen, jedes Rauschgift, jede Knarre, bis hin zur Kalaschnikow, auch Ausweise, Führerscheine, alles. Aber gefährlich wurde es nur, wenn jemand versucht hatte, einen anderen übers Ohr zu hauen: dann flogen die Fetzen. Ich hatte so eine grüne Blechkasse, die habe ich mir dann geschnappt und mich in den Keller verdrückt, hinter der Theke gab es eine Falltür, da bin ich runter, habe die Klappe hinter mir zugemacht und so lange gewartet, bis es oben ruhiger wurde, dann kam ich wieder hoch. Nicht einmal – in der ganzen Zeit – hat mich jemand von den Gästen angemacht oder betrogen. Besonders mit den Wohnwagenleuten vom Engelbecken kam ich gut klar: die sahen meist zerlumpt und verdreckt aus, aber ich bin von ihnen nie beschissen worden. Die hatten alle irre Deckel in der Kneipe, wenn sie jedoch ihr Geld vom Sozialamt kriegten, haben sie prompt ihre ganzen Schulden bezahlt.“ Das Irre an dieser Geschichte bestand für mich noch aus etwas anderem: Uwe kannte bis zu seinem Job in der „Kogge“ Kreuzberg und die Oranienstraße nur aus dem Fernsehen. Obwohl er kräftig gebaut ist, war er etwas ängstlich, als er das erste Mal dort hinging, um sich vorzustellen. Trotz seiner guten Erfahrungen mit den Stammgästen vergaß er dort jedoch nie seinen eher allgemeinen Fernseh-Horror: Fortan hatte er vor allem Angst vor dem Heimweg – morgens allein durch die Oranienstraße: „Da habe ich immer gemacht, daß ich so schnell wie möglich zur U-Bahn kam – und weg!“ Unsereiner, der eher Angst hatte, in der „Kogge“ allein ein Bier zu trinken als auf der „Oranien“ spazierenzugehen, verstand das nicht sogleich: Uwe war tatsächlich der Meinung, daß er mit Glück gerade noch die angenehmste Oranienstraßen-Kundschaft in seiner Kneipe bedient hatte, alle anderen waren für ihn jedoch mehr oder weniger wirklich gefährliche Leute. Noch heute ist er dieser Meinung. Was für ein wunderbarer Irrtum! Den er im übrigen bis heute nicht korrigiert hat. Die zweite Maritim- Kneipe im Wedding machte, nebenbei bemerkt, ein Jahr später auch dicht bzw. wechselte den Besitzer, sie heißt jetzt „Black and White-Bar“ oder so ähnlich. Selbst die „Ankerklause“ am Kottbusser Damm ist so gut wie erledigt: der frühere Stammgast Kapielski hörte neulich, ausgerechnet in einem Münchner Biergarten, ein Gespräch zweier Handy-Schnösel am Nebentisch – sie unterhielten sich über diese jetzt so wahnsinnig angesagte Ankerklause in Kreuzberg, und der eine meinte: „Echt irre, bis vor kurzem haben da nur Penner verkehrt!“
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3.
Die Pizzeria Da Flore am Kottbusser Damm 88 hatte eine der besten italienischen Küchen in Berlin. Salvatore Flore stammt von Sardinien. In Algero, wo er herkommt, wird noch immer katalanisch gesprochen, so dass er vermutet, dass sein Name spanischen Ursprungs ist. Er ging 1959 als 17-Jähriger nach Deutschland. Zunächst bekam er einen Job als Bauhilfsarbeiter in Esslingen, dann war er Arbeiter in einer Metallfabrik in Bad Canstatt und schließlich bei Mercedes in Untertürkheim. „Ich musste Kurbelwellen bohren.“
1961 entdeckte er im Arbeitsamt ein Plakat: „Deine Zukunft in Berlin“. Zusammen mit vier Kumpeln stattete er zu Ostern der Frontstadt einen Besuch ab. In der Zehlendorfer Perlonfabrik „Spinne“ freute man sich über ihren Besuch – die deutschen Arbeiter verließen scharenweise die Stadt: „Haben Sie auch keine Angst vor den Russen?“, fragte der Personalchef Salvatore Flore, der als Einziger in der Gruppe Deutsch sprach. Er glaubte zwar auch an den Einmarsch der Russen, hatte jedoch keine Angst davor: „Der Propaganda traute ich nicht, zu Hause war ich Mitglied der KP.“
Wieder zurück bei Mercedes, bot man ihnen 20 Pfennig mehr pro Stunde, wenn sie nicht nach Berlin gingen. Einem wurden sogar 60 Pfennig geboten – der blieb dann auch bei Mercedes. Die anderen vier gingen nach Berlin. Bei der zum Hoechst-Konzern gehörenden Spinne in Zehlendorf kamen sie in einer neuen Abteilung unter, wo Trevira – für Auslegeware und anderes – hergestellt wurde. Erst einmal stellte man ihnen aber einen Dolmetscher zur Verfügung, der ihnen Berlin zeigte. Salvatore Flore blieb 15 Jahre dem Betrieb treu. Ein Freund von ihm besaß am Ku’damm das italienische Restaurant „Villa Borghese“, später ein zweites in der Bismarckstraße. Dort arbeitete er nach Feierabend noch mit. „Ich war mit einer Deutschen verheiratet. Wir hatten zwei Kinder. Es gab damals nur ein paar italienische Restaurants in der Stadt. Die Banken gaben keine Kredite an Gastarbeiter. Da sind dann italienische Firmen eingesprungen. Und schließlich haben sich auch die Banken geändert. Denn der Markt ist schier explodiert. In den Restaurantküchen wurden bald die ersten Araber und Albaner schwarzbeschäftigt, die haben da gelernt – und sich dann mit eigenen Pizzerien selbstständig gemacht.
Ich habe aber meine Küchenhilfen, meistens waren das Libanesen oder Albaner, immer zum Einkaufen weggeschickt, wenn ich Soßen gemacht habe oder den Pizzateig. Das ist ein Geheimnis, das ich nicht jedem verrate.“ 1977 verlagerte Hoechst seine Trevira-Produktion nach Chile, dort bekamen die Arbeiter während der Pinochet-Diktatur nur noch 30 Pfennig pro Stunde. Salvatore Flores Abteilung wurde aufgelöst, er bekam eine Abfindung. Zwar wollte ihn dann die Spinne runtergestuft in einer anderen Abteilung weiterbeschäftigen, aber er kaufte sich 1978 die Pizzeria am Kottbusser Damm.
„Wenn ich Probleme hatte, half mir mein Freund, sogar mit Leuten aus seinem Restaurant in der Bismarckstraße. Renoviert habe ich größtenteils selbst. Das Geschäft lief gut. Ich kaufte mir in meinem Dorf Orosei ein Grundstück – und wollte bauen. Das habe ich dann aber sein lassen. Als die Kinder groß genug waren, haben sie im Geschäft mitgeholfen.“ Der Sohn machte eine Lehre, die Tochter studierte Medizin. „Ich war sehr stolz auf sie, aber dann hat sie das Studium abgebrochen.“
Salvatore Flore besaß damals eine Vespa 130 GS. Mit der fuhr er oft nach Ostberlin ins Tanzlokal „Melody“, wofür er vorher am Bahnhof Zoo Ostmark eintauschte, die er im Scheinwerfer seiner Vespa versteckte – „manchmal bis zu 6.000 Mark“. Die Italiener durften im Gegensatz zu den Westdeutschen und Westberlinern 48 Stunden in Ostberlin bleiben. Mit einem geliehenen chilenischen Pass besuchte er das Studentenwohnheim in Biesdorf, wo er eine Freundin hatte. Als diese schwanger war, bekam er eine Vorladung vom Jugendamt Spandau: „Trotz Kalten Kriegs arbeiteten die Jugendämter in Ost und West zusammen, ich musste Alimente zahlen.“
1980 zog er nach S.O.36 in die Ritterstraße. Langsam lief sein Geschäft immer schlechter, der Kottbusser Damm veränderte sich und geriet mehr und mehr in türkische Hand. Salvatore Flore hat inzwischen das Vertrauen verloren, dass es mal wieder besser werden könnte. „Aber insgesamt hatte ich eine schöne Zeit, mein Geschäft war die einzige Pizzeria dort. Meine Frau hat das Lokal gemacht und ich die Küche. Heute spiele ich im Lotto. Meine Frau und ich sind geschieden. Als reguläre Bedienung arbeitet jetzt Margerita bei mir, eine Tschechin. Wenn ich mehr Zeit hätte, könnte ich billiger einkaufen, statt telefonisch oder elektronisch alles zu bestellen. Das Internet gefällt mir überhaupt nicht. Was für eine Ware bekomme ich da? Das ist alles Scheiße – zu unpersönlich.“
P.S.: 2005 schließt er seinen Laden und geht in Rente, sein Sohn arbeitet nun bei einem mobilen Kaffeeausschank.
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4.
Es gibt Flegel und Schlögel. Beide leben in Kreuzberg, und das nicht immer einträchtig. Der Slawist Karl Schlögel aus der Köpenicker Straße, jetzt GUS-Professor in Frankfurt/Oder, hat sogar einen Gutteil seiner Kraft dem Kampf gegen die autonomen Kreuzberger Flegel gewidmet, die er „Landsknechte“ nennt. Sein publizistischer Feldzug gegen die Autonomen begann kurz vor dem 1. Mai 1987 im Tagesspiegel. Es ging darin um die Lärmglocke über dem Kiez. Für diesen äußerst hellhörigen „Essay“ bekam Schlögel einen „Autorenpreis“. Es folgten harsche SFB-3-Polemiken (in der Reihe „Aus dem Fenster gesehen“).
Nach drei 1.-Mai-Krawallen wurde Schlögel paranoid. In der FAZ befürchtete er, daß es bald „zwischen Müll und Nicht-Müll keine Unterscheidung mehr“ in Kreuzberg geben würde. Denn „wenn der Landsknecht feiert, dann ist es schon ein richtiges Fest, möglichst nach Mitternacht, möglichst mit starken Lautsprecherboxen. Wenn er gefeiert hat, steht die Stadtreinigung schon bereit, gratis zu Diensten. Denn Handarbeit, selbst die bescheidenste, verachtet der Held, der zu Höherem berufen ist… Jede Zeit hat die Desperados, die sie verdient, und jedes Gemeinwesen hat die Freibeuter, die sie sich gefallen läßt.“
Just zu der Zeit, als massenhaft Entmietungen einsetzten (Stichwort: „Dachgeschoßlumpen“), schrieb Schlögel: „Das aufgeklärte Kreuzberg spricht über seine geheimen Pläne, nämlich wegzugehen, nur im kleinsten Kreis. Das ist das Hauptthema.“ Das war nur dreist gelogen! Abschließend hieß es jedoch: „Ein Viertel, das seine Autonomie wiedergewonnen hat, hat Berufsautonome nicht nötig.“ Diesen Gedanken hat Schlögel nun, da die meisten Flegel in den Osten vertrieben wurden, in der FAZ (vom 3. Dezember) wieder aufgegriffen – und zwar anläßlich der Eröffnung der Oberbaumbrücke; ein Einschnitt, den Schlögel als Wiederanknüpfung „liest“: „Baustellen sind wie Wirbel“ und „Die Stadt gewinnt an Tempo“. Der langandauernde Widerstand gegen die Brückeneröffnung wird mit keinem Wort erwähnt. Dabei hatte gerade das „aufgeklärte Kreuzberg“ dagegen aufgemuckt.
Erwähnt sei der AL-Verein SO 36, der gerade wegen seiner Beteiligung am Oberbaumbrücken-Widerstand beim Bezirksamt in Ungnade fiel. Schlögel hatte seinerzeit noch mit einigen Vereinsmitgliedern im Projekt „Café des Ostens“ zusammengearbeitet. In seinem FAZ-Essay bemerkt er über deren Niederlage nur: „Man blickt aus dem Fenster auf die Straße und liest in dieser faszinierendsten Enzyklopädie der Stadt das neueste Kapitel… Parolen und Graffiti – Lebenszeichen einer Stadt im Wartestand – verschwanden.“ Dann folgen Sätze, wie sie der FAZ-Leser liebt: „Alles geschah in Sequenzen, die ihre eigene Folgerichtigkeit hatten, und in Intervallen, denen man kaum zu folgen vermochte.“ Und noch genauer: „Nun ist es nicht mehr der Lärm der auf volle Lautstärke gestellten ,Einstürzenden Neubauten‘, sondern der gleichmäßig hohe Lärm von der Straße her.“
Dem folgt ein Satz, der auf der nach oben offenen Hartung-Skala für verquaste Verblendung nur mit „Bingo“ zu bezeichnen ist: „Es entsteht das ganze komplizierte Regelwerk aus Vorfahrt und Anhalten, die Disziplin des Stop and Go… Seine privilegierten Beobachter und Teilhaber in einem sind die Einwohner… Wir sind zu Zeugen eines Augenblicks geworden, der so kostbar ist wie jeder ,historische‘.“ Ich würde sagen: Wir sind Zeuge geworden, wie aus einem einigermaßen intelligenten Menschen mit der nationalen Wende ein Arschloch wurde – finally, und das mitten in SO 36.
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5.
Glühbirnenbild von Norbert Schwontkowski
In den Fünfzigerjahren und erst recht nach dem Mauerbau, gab es einen drastischen Verfall bei den Berliner Immobilienpreisen; jetzt-erst-recht-unternehmerisch wurde das hochkommende Entsetzen darüber mit einer verschärften Amerikanisierung auszubügeln versucht. In Kreuzberg hielten die beiden Drogerie- (Drugstore-)Besitzer Orlowsky und Hisserich damit stand. Letzterer expandierte sogar in die Nachbarbezirke. Daher auch der Name „Der große Hisserich“. Er geht auf den Stipendiaten des Künstlerhauses Bethanien, Norbert (Kreti) Schwondkowski (siehe Bild) aus Bremen, zurück, der seinen Berliner Atelieraufenthalt seinerzeit eigentlich dazu nutzen wollte, einen Roman unter der Überschrift „Der Große Hisserich“ zu schreiben bzw. zu malen.
Ich bin mir nicht sicher, ob er Herrn Hisserich überhaupt kennengelernt hat oder ob ihn das große Ladenschild bereits dazu inspiriert hat. Orlowsky wechselte dann über die Protestbewegung gegen die Kreuzberger Kahlschlagsanierung vom Drogisten zum grünen Lokalpolitiker. Der Große Hisserich fand seine Gegner in drospa, Schlecker und anderen Ketten. Statt wenigstens „anständig zu kleben“, d.h. seine Rente abzusichern, schwankte er lange Zeit zwischen Expandieren und Aufgeben, derweil er eine Filiale nach der anderen schließen mußte. Bis auf sein „Kerngeschäft“ in der Mariannenstraße, über dem er auch – mit seiner Frau zusammen – wohnt.
Seine Frau arbeitet im Laden, außerdem gibt es da noch eine (treue) letzte Verkäuferin Frau Ingeborg. Vor der Wende saß Herr Hisserich oft im Laden hinten auf einem Stuhl. Seit einigen Jahren verläßt er aber die Wohnung kaum noch. Im Laden habe ich öfter mit ihm gesprochen, wenn ich meine Filme hinbrachte oder abholte. Er hatte ein Nervenleiden und konnte nicht mehr schlafen, zigmal war er deswegen bereits in Behandlung gewesen und schimpfte nun sehr qualifiziert auf Ärzte und Urban-Krankenhaus. Schon mehrmals hatte er im Laden junge Mädchen beim Lippenstiftklau erwischt – deswegen schimpfte er auch auf die Jugend, insbesondere auf die türkische. Selbst das Saunatreiben der feministischen Schokofabrik-Frauen im Hinterhaus ließ ihn nicht kalt, ebensowenig die komischen Geschäftsleute des Bioladens am Heinrichplatz, wozu natürlich auch ihre Kunden gehörten. Der Große Hisserich machte sie alle und alles runter. Dabei war bzw. ist er jedoch kein Apokalyptiker geworden. Alles bleibt streng im Empirischen, wobei ihm natürlich schon die Unfähigkeit der heutigen Ärzte als allgemeine Tatsache gilt. Selbst die Drogeriewaren und -arzneien sind schlechter geworden, wenn ich ihn richtig verstanden habe. Das geht über „Kraft durch Nörgeln“ hinaus.
Wenn ich mies gelaunt war, pflegte ich schnell einen Film vollzuknipsen, um ihn beim Großen Hisserich entwickeln zu lassen. Wichtig war mir dabei vor allem, den Klagen des Großen Hisserich zuzuhören. Wenn gerade niemand im Laden war, gesellten sich seine Frau und seine Verkäuferin, beide in blütenweißen Kitteln, dazu – und lächelten bisweilen gequält oder murmelten etwas Versöhnlerisches, wenn er sich allzu sehr in Rage redete. An sich waren sie sich aber wohl einig: Der Sinn liegt allein in der Expansion, d.h. im Erfolg, und der letzte Laden – das hat alles keinen Zweck mehr, da wird jetzt nur noch weitergemacht, weil er damals zuwenig geklebt hat: „Sie wissen doch, wie das so ist!“
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6.
Die am 1. Mai 1987 abgebrannte Bolle-Filiale in Kreuzberg, Ecke Wiener Straße, war bis 2007 ein Trümmergrundstück. Seit 1994 wird das eingezäunte Gelände jedoch genutzt, um dort Nagetiere freizulassen! Anfangs waren es junge Frauen, die, nach allen Seiten sichernd im Dunkeln mit einer braunen Maus in einer nichttötenden Mausefalle an den Bolle-Zaun traten, wo sie die Maus in die Freiheit entließen: mit einem Seufzer der Erleichterung. Bald folgten jüngere Kinder, die dasselbe taten, jedoch ungenierter und mit zahmen, hellen oder schwarzweißgefleckten – Mäusen. Es handelte sich dabei zumeist um mongolische Springmäuse, von denen die Kinder zu Recht annehmen durften, daß sie dort draußen die Auflösung des Käfigs überleben würden.
Als mit dem „Piercing“ und „Tatooing“ die Laborratten langsam aus der Mode kamen, sah man gelegentlich auch waschechte Punker am Bolle- Zaun, wo sie sich umständlich von ihren „Rättinnen“ verabschiedeten: „Es war eine dufte Zeit!“ In Kreuzberg vermehren sich seit Jahren die Hausmäuse. Eine Freundin dort fängt ihre regelmäßig im Abfalleimer – mit Käseresten. Den Eimer deckt sie mit einem Aktenordner ab und trägt ihn raus – zu Bolle um die Ecke. Ein ehemaliger Kamerjäger aus der Lausitzerstraße meinte zu mir: „Die sindschneller wieder oben in der Wohnung als deine Freundin!“
Es gibt hier eine Schutzpatronin, die vor allem Säufern gegen Mäuse und Ratten hilft: die heilige Gertraut, sie steht an der gleichnamigen Brücke beim Spittelmarkt. Die meisten Mäuse kommen jedoch auch so vom Bolle-Gelände nicht weit: ununterbrochen fließt der Verkehr am Görlitzer U-Bahnhof. Und dann führen türkische Jugendliche gerne ihre Pitbulls an die alte Platane vor der Bolle-Ruine. Nebenan ist das „White Horse“, früher ein Puff, heute eine türkische Männerkneipe, und schräg gegenüber das „Morgenland“, das erste Kreuzberger Musik-Café für Deutsche und Türken. Bis zum Abfackeln des Supermarktes 1987 war dort ein Laden für Heimwerker, der sich – ohne Bolle – nicht mehr halten konnte.
Auch das in jener Nacht „befreite Gebiet“ wurde nicht lange gehalten, seit der Wende sind darüber hinaus die Plünderer von damals schwerem ökonomischem Druck ausgesetzt, dieser mag das seine zum Mäuse-Aussetzen beitragen. Der einzige, der direkt von der damaligen „Gewaltexplosion“ profitiert hat, ist Stefan Krautschik, ein Geograph, der erst einen Job bei der „750-Jahr-Feier“ hatte, um dann, genau am 1. Mai – als der Ärger über die ganze Feierei in den „Kreuzberger Krawallen“ kulminierte -, ausgerechnet zum Leiter der Pressestelle des Kreuzberger Bezirksamtes berufen zu werden. Als solcher verfaßte er immerhin die bisher gründlichste Studie über die Geschichte des Bolle- Grundstücks (Im letzten Band der Historischen Kommission veröffentlicht).
Sie beginnt mit dem Grundstücksspekulanten Hartung, der 1888 das Gelände Wiener Straße 1-6 kaufte, um darauf ein Mietshaus zu errichten. Danach erwarben mehrere Wolffs die Immobilie. Bevor Bolle seinen Supermarkt dort eröffnete, war das im Krieg teilweise zerstörte Haus ein Kino. Während der Regionalforscher Salm-Schwader die Ursache für die Supermarkt-Zerstörung in einer Bolle-Spargelanzeige sieht, auf der damals Käthe Be, Assistent des Feuerkünstlers Kain Karawahn, posiert hatte: wobei er das Gemüse wie Dynamitstangen in der Hand hielt, ist Krautschik aus naheliegenden Gründen und zusammen mit der Polizei der Meinung, daß es einen – sogar geständigen – Einzeltäter gibt: den 29jährigen Serienbrandstifter und Gelegenheitsarbeiter Armin St., der laut Tagesspitzel „keine Bindungen in der Stadt hatte“.
P.S.: Inzwischen ist auf dem „Bolle-Gelände“ eine Mehrzweckmoschee gebaut worden, die 2010 eingeweiht wird. Ich behaupte, es ist eine ägyptische, die – allerdings nicht besonders gläubigen – Islamis in meinem Freundeskreis bestreiten das jedoch. Die türkische Moschee sechs Häuser weiter wird übrigens von mehr gemischtkonfessionellen Schülern samt Lehrern besucht als von Gläubigen. Die zwei Mullahs dort, die aus Stutgart kommen, machen gerade einen Deutschkurs.
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7.
Die Morgenpost-Jungredakteurin Suzan Gülfirat versuchte sich unlängst an einem Bericht über einen Polizeieinsatz in Kreuzberg, bei dem die Familie von Hassan K., der in der Muskauer Straße die Kneipe „Le Soleil“ betreibt, regelrecht überfallen wurde. In der Springerschen Mopo hatten hernach die Täter das letzte Wort: Die Beamten hätten nur „aus Eigenschutz“ gehandelt, und „ein Arzt habe keine Notwendigkeit gesehen“, tätig zu werden. Also war alles harmlos. Tatsächlich war aber überhaupt kein Arzt dabei, als über zwölf Spezialeinsatz-Polizisten am 7. November um 5 Uhr morgens die Wohnungstür von Hassan K. (52) einschlugen. Fünf Beamte hätten ihn etwa fünfzehn Minuten lang auf die Matratze gedrückt, erzählt K. Erst als seine Frau, Sakine K. (46), die Polizisten anschrie, ließen sie ihn los. Im Wohnzimmer versuchte derweil der türkische Polizist Hüseyin, die zitternde Tochter Lale (10) zu beruhigen. Eine Polizistin machte dem geschockten Kind einen nassen Umschlag, während die übrigen Beamten die Wohnung auf den Kopf stellten. Polizeiobermeister Hüseyin habe schließlich beschämt den Schauplatz verlassen, nachdem er einen Wortwechsel zwischen seinem Vorgesetzten und seinem Landsmann hörte. Einsatzleiter Hartmund (Nr. 3759): „Wenn Sie sich nicht beruhigen, lassen wir die 116 kommen!“ (die Psychiatrisierer) Darauf Hassan K.: „Jetzt weiß ich, warum 20 Prozent der Polizisten die Reps gewählt haben!“ Einsatzleiter Hartmund: „Nein, nein, wir haben zu 80 Prozent die Reps gewählt!“
Seine Truppe suchte eigentlich Hassan K.s Sohn (25), der bei seinen Eltern nur noch polizeilich gemeldet ist. Seinetwegen waren zuvor auch schon Kontaktbereichsbeamte dort gewesen – sie hatten sich relativ anständig benommen. Als das Überfallkommando um 7 Uhr wieder abzog, ging die Familie zum Arzt, der Hassan K. blaue Flecken an Rücken, Beinen und am Hals bescheinigte; dann erstatteten die K.s Strafanzeige wegen Körperverletzung. Seit dem Überfall wagt es die Familie nicht mehr, in ihre Wohnung zurückzukehren: Lale schläft bei Verwandten, die Eltern in einem Hinterraum der Kneipe. Hassan K., der seit 26 Jahren in Berlin lebt, hatte den Theater- Treff „Le Soleil“ 1994 deswegen übernommen (zu seinen Stammgästen gehörte Heiner Müller, der im Hinterhaus nebenan wohnte), um seinen beiden ältesten Töchtern (22 und 28) eine Existenzgrundlage zu schaffen. Seit der Razzia leidet die Jüngste, Lale, unter nervösen Zuckungen, und ihre Schulleistungen sackten ab. Ihr Vater wird ebenfalls von Angstzuständen geplagt, das Essen schmeckt ihm nicht, und wenn er von dem Polizeiüberfall spricht, bekommt er Kopfschmerzen. In dieser Situation sahen er und seine Frau keinen Sinn mehr darin, die Kneipe weiter zu betreiben, und boten sie einem Makler an. Sie stehen nun kurz davor, in die Türkei zurückzugehen. Wie zum Hohn bekamen sie gerade jetzt die deutsche Staatsbürgerschaft!
Hassan K. wandte sich an den bündnisgrünen Abgeordneten Ismail Kosan. Dieser versicherte mir nun: „Das ist nicht der einzige Fall. Unlängst wurde einem Jugendlichen bei einer Hausdurchsuchung ein Backenknochen gebrochen. Bei einer portugiesischen Familie quartierten sich Polizisten tagelang ein, um den Sohn zu verhaften. Ich werde eine kleine Anfrage einbringen, wohl wissend, daß die Antwort der Senatsverwaltung für Inneres unbefriedigend sein wird. Solch ein Rambo-Vorgehen gegen Unbeteiligte läßt sich mit dem bloßen Verdacht gegen einen Angehörigen nicht rechtfertigen, das ist reine Schikane.“
P.S.: Wenig später sprach ich mit der Mopo-Redakteurin Suzan Gülfirat über ihren schändlichen Artikel. Sie meinte, dafür könne sie nichts, man habe ihn in der Redaktion des Springerverlags völlig umgeschrieben. Kurz darauf bekam sie einen Journalistenpreis. Bei Wikipedia heißt es seitdem über sie: „Die Autorin gehört zu den ersten türkischstämmigen Journalistinnen innerhalb der deutschsprachigen Medienwelt und hatte am Anfang ihrer früh mit einem Journalistenpreis ausgezeichneten Karriere noch mit „Umschreibversuchen“ deutscher Kollegen zu kämpfen – so schrieb sie z. B. für die Berliner Morgenpost einen Bericht über einen Spezialeinsatz der Polizei in der Kreuzberger Kneipe eines Türken Le Soleil, bei der der Kneipenbesitzer grundlos von der Staatsmacht, die eigentlich auf der Suche nach seinem Sohn war, so brutal überfallen wurde, dass ein türkischstämmiger Polizist aus Gewissensgründen nicht weiter an dem Einsatz teilnehmen konnte. In dem in der Zeitung veröffentlichten Bericht war später entgegen den von Gülfirat recherchierten Tatsachen zu lesen, die Polizisten hätten „aus Eigenschutz“ gehandelt und „ein Arzt habe keine Notwendigkeit gesehen“, den verletzten Türken zu behandeln – ein Arzt war aber gar nicht gerufen worden.“
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8.
Das Schönste an der albernen Olympiade ist, daß sich immer weniger Leute dafür interessieren, je mehr die Medien sie aufblasen! Das gilt besonders für Kreuzberg. Dabei kam von dort der goldverdächtige Europameister im Halbweltergewicht, Oktay Urkal, der am letzten Atlanta- Nervtag gegen Hector Vinent aus Kuba („Where boxing ain’t allowed no more!“ – Bob Dylan) antrat: und nach Punkten verlor! Urkal, der sich „Muhammed Ali von Kreuzberg“ nennen läßt und gern im Cabrio die Oranienstraße rauf- und runterdüst, verkehrt – ebenso wie einige andere Boxer aus dem Ring der „Neuköllner Sportfreunde“ – im Adana-Grill in der Manteuffelstraße, wozu bis vor einiger Zeit auch das Kellerlokal „Mahsen“ („Weinstube“) gehörte. Beide Etablissements werden von den etablierten Hausbesetzern gegenüber als „üble Drogenumschlagplätze“ bezeichnet. Wahr ist, daß im „Mahsen“ des öfteren reiche Türken mit ihren Mercedessen vorfuhren, um dort zu essen, und – selbstbewußt genug – dem Wunsch der Ökos, solange den Motor auszustellen, nicht nachzukommen. Zwei Kuriere aus dem „Mahsen“ belieferten zudem allnächtlich türkische Bars und Bordelle mit Gegrilltem.
Der berühmteste Gast dort war Askin Karaoglan – ein Tenorsänger, dem zwei Ehefrauen weggelaufen waren: beide, weil Askin als klassischer Sänger zunehmend weniger arbeitete und sie deswegen mitverdienen mußten. „Als Selbstverdiener wollten sie dann natürlich mehr Rechte – oh, die Emanzipation ist ein Kampf“, so der immer mehr Raki trinkende Askin in fast schon marxistischer Erkenntnisklarheit. Der „Adana-Grill“ hieß früher bemerkenswerterweise „Selbstgrill“, und es verkehrten viele junge „Kämpfer“ dort: Judo, Boxen und „Streetfighting“. Einige gingen im vergangenen Jahr nach Tschetschenien, um sich dort den islamischen Kämpfern gegen die Russen anzuschließen – nicht so sehr aus Glaubenseifer, sondern eher aus arbeitsloser Perspektivlosigkeit und weil ihnen seit der Wende der deutsche Rassismus immer mehr auf die Pelle gerückt war. Auch der deutschpässige Boxer Oktay Urkal wird davon verfolgt – bis nach Atlanta: Der TV- Moderator bezeichnete „den gebürtigen Türken“ durchgängig als „Berliner“ bzw. „Kreuzberger“: „Aber er kämpft, das war auch nicht anders zu erwarten!“ Von seinem Gegner Hector Vinent wußte das öffentlich-rechtliche Arschloch: „Alle Kubaner sind physisch stark, sie tun ja auch nichts anderes als boxen!“
Wahr ist: „Man spielt Baseball, aber man spielt nicht Boxen“ (Joyce Carol Oates). So gesehen müßte dieser Sport auf der Olympiade ebenso verboten werden wie das Boxen einst auf Kuba. Dort waren übrigens in diesem Jahr in allen Hotels die Olympischen Spiele über US-Fersehsender zu empfangen, was unter den europäischen Touristen fast einen Aufstand auslöste, denn diese Idiotensender lieferten ausschließlich Bilder von amerikanischen Sportlern, und am ausgiebigsten zeigten sie das heuer erstmalig als olympische Disziplin zugelassene Baseball, das niemanden interessierte.
Im Adana-Grill interessierte noch nicht einmal das dagegen vergleichsweise unpatriotische deutsche Olympia-TV-Programm. Selbst den Kampf Urkal gegen Vinent verpaßte man dort. Als Mehmet vom Boxverein „Neuköllner Sportfreunde“ reinkam und berichtete, daß Oktay soeben „Silber“ erkämpft habe, wußte der Kellner jedoch zu ergänzen, daß mit dem Boxer Thomas Ulrich, der tags zuvor „Bronze rausholte“, nunmehr zwei „Berliner“ Medaillen gewonnen hätten. „Warum boxen Sie?“ wurde einst der irische Champion Barry McGuigan gefragt. „Weil ich kein Dichter bin, ich kann keine Geschichten erzählen!“
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9.
Wie erst jetzt in den letzten Details – übermittelt von Mathias Mildner aus Kreuzberg 61 – bekannt wurde, starb Ende Juni der Buchhalter Norbert „Hoffi“ Hoffmann aus Wetzlar. Und zwar während des EM- Halbfinalspiels England- Deutschland – vor dem Fernseher in seiner Kreuzberger Wohnung. Sein Freund Schucki stupste ihn noch an: „Ey, warum sagst du nichts mehr?!“ Hoffmann starb an einem Herzschlag – im Alter von 123 Jahren! Dazu erklärte ein Redner auf der Beerdigungsfeier, die im berühmten Wetzlarer Szenelokal „Akro“ (früher „Akropolis“) stattfand: „Der allzu früh Verstorbene – er bekam das Elfmeterschießen nicht mehr mit – lebte genau dreimal so schnell wie alle anderen.“
Norbät verkehrte in den Sechziger Jahren fast täglich in dieser griechischen Wohnstube des Wetzlarer Undergrounds. Er kultivierte eine Lebensweise, bei der das Auslassen sich anbietender Rauch-, Schluck- und Schnupf- Gelegenheiten geradezu Sünde war. Naturgemäß brachte ihn das zunehmend in Konflikte mit stocknüchternen Arbeitgebern. In den siebziger und achtziger Jahren war er bei der IBA angestellt, danach mußte er jedoch immer öfter seinen Arbeitsplatz wechseln – wegen „Alkoholproblemen“. Aus dieser Not machte er schließlich eine Tugend: Recht eigentlich verhalf er der „amerikanischen Bewerbung“ (Unterlagen plus Performance) in Westberlin zum Durchbruch – indem er nämlich bei Vorstellungsgesprächen sein vielseitiges Können und seine Flexibilität sowie Mobilität aufs eindrucksvollste zur Darstellung brachte.
Seinen Charme entwickelte er bereits als Wetzlarer Gymnasiast: Einem Rausschmiß im – damals noch – Knabengymnasium Goetheschule kam er durch einen raschen Wechsel in die gerade koedukativ reformierte Weilburger Mädchenschule zuvor. Dort konnte er – nahezu konkurrenzlos – in Ruhe seine Minnekünste entfalten. Berühmt wurde er in mittelhessischen Schülerkreisen vor allem mit seiner vernichtenden Kritik am Notensystem, das er treffend als „Onanie“ bezeichnete. Dies brachte ihm einen schweren Tadel ins Klassenbuch ein: „Hoffmann: ,Das Ergebnis dieser Klassenarbeit ist geistige Onanie.'“ Beim „Bund“ gelang es Hoffmann, einen Arrest mit anschließender unehrenhafter Entlassung in eine krankheitsbedingte Ausmusterung – „im gegenseitigen Einverständnis“ – umzuwandeln. Erst nach seiner Rückkehr ins Zivilleben entdeckte man, das nahezu die gesamten Morphiumbestände im Sani-Bereich des renommierten 135. Artillerieregiments Wetzlar bollemäßig geplündert worden waren. Dies ließ noch einmal seinen Ruhm in Mittelhessen aufblühen. In Berlin wurde er dann vor allem mit „Hoffmanns IBA-Erzählungen“ berühmt.
In den neunziger Jahren eröffnete ihm eine Freundin aus Pankow „die wunderbare Damenwelt des Ostens“: Er verehrte Katarina Witt (mit einem Poster von ihr im zentralen Fernsehraum seiner Wohnung), der Theoretikerin Sarah Wagenknecht hing er an den Lippen: „Und wie klug sie ist!“ Das Politische war seine Sache jedoch nicht: Er trat der PDS bei. Aber nicht in Kreuzberg, sondern in Mitte: „Wesche dene Genossinne da!“ Seine letzte Freundin in den späten Neunzigern war ein weiblicher Exleutnant der Roten Armee. Ihr gefiel an dem begnadeten „Glücksrad“-Wortrater Norbert Hoffmann vor allem die trotz seines Gescheitert-Seins völlig fehlende Verbitterung: seine ungebrochene Lebensfreude.
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10.
Der tschechische Philosoph Vilem Flusser meinte einmal: „Das Wort ‚Wohnwagen‘ scheint sagen zu wollen, daß die Dialektik des unglücklichen Bewußtseins dabei ist, überholt zu werden, und daß wir dabei sind, glücklich zu werden.“ Trotz massenhaft leerstehender Häuser und Wohnungen entwickelte sich in Westberlin in den Siebzigerjahren unter den jungen Leuten ein starker Hang zu Wohnwagen, die sie sich ausbauten, um Leben und Mobilität miteinander zu verbinden. Gleichzeitig wurden jedoch auch die leerstehenden Immobilien immer attraktiver, zumal wenn deren Besetzung auf eine senatsgeförderte Objektsanierung hinauslief. So rückten die Bauwagen der Handwerker in den Kiez ein, von wo aus sie bei Demonstrationen regelmäßig zu brennenden Barrikaden umfunktioniert wurden. Damit war das „Massenmedium Bauwagen“ geboren, was den von der Öko-Gentryfication Betroffenen erst recht die „Rollheimer“-Siedlungen attraktiv machte. Auf den innerstädtischen Brachflächen entstand eine „Wagenburg“ nach der anderen. Nach der Wende wurden die meisten geräumt bzw. an den Stadtrand verfrachtet, gleichzeitig gab es jedoch ein großes Angebot an NVA-Lastwagen und DDR-Bauwagen. Eine Rollheimer-Siedlung, neben dem Georg-von-Rauch-Haus am Mariannenplatz, gibt es bis heute. Dort wohnen u.a. Mandy und Lia. Erstere erzählte mir einmal: „Lia, meine Freundin nebenan, ist viel unterwegs, ohne ihren Wohnwagen, aber meist zieht sie von Wagenburg zu Wagenburg, auch im Ausland. Sie ist noch als Studentin versichert, verdient ihr Geld aber im Puff in der Adalbertstrasse. Ich geh da auch manchmal hin zum Anschaffen, wenn ich nichts mehr zu beißen habe. Das mach ich auch in anderen Orten so: Da wohn ich meist in einer Wohnwagensiedlung und kuck mich dann nach einem Bordell in der Nähe um.
Das scheußlichste Erlebnis, das Lia und ich bisher hatten, war die gewaltsame Räumung der Wagenburg am Engelbecken. Aber dabei lernten wir Christian kennen, einen Jesuitenpriester, der in einer Wohngemeinschaft von ehemals Obdachlosen in der Naunynstrasse lebt und als Schweißer bei Siemens arbeitet. Sein Freund, ebenfalls ein Jesuit, arbeitet in einem Taxikollektiv. Die beiden organisierten den Widerstand gegen die Räumung mit. Das war wiederum eine sehr schöne Erfahrung. Obwohl ich später fand, dass die beiden schon fast zu vorbildlich leben und arbeiten. Auf dem darauffolgenden Autonomen-Kongreß im Mathematikinstitut der TU schälten sie zum Beispiel für alle Teilnehmer Kartoffeln, damit die zwischendurch eine warme Mahlzeit bekamen. Die asketische Einstellung der beiden Jesuiten, hat man mir mal erzählt, hat etwas damit zu tun, dass sie ihre ganze, ungeteilte Liebe den Sakramenten widmen sollen. Das finde ich aber auch übertrieben – männlich, ich weiß nicht…“
Nach der Räumung fuhr Mandy mit ihrem Wohnwagen erst einmal ins Allgäu. „Dort fand gerade in der Nähe das ‚Kornhausseminar‘ statt, wo unter anderem der Philosoph Vilèm Flusser einen Vortrag hielt – über die Küche der Zukunft. Am letzten Tag half ich ihm und seiner Frau noch stundenlang, ihren weggelaufenen Hund im Wald wieder zu finden – vergeblich. Abends kam er dann jedoch von selbst wieder zurück. Flusser hatte sich schon fast mit dem Tod seines Hundes abgefunden und tapfer jeden Anflug von „Sentimentalität“, wie er das nannte, niedergekämpft. Als ich wieder nach Berlin zurückfuhr, begleitete mich ein Wagenburgler von der Eastside-Gallery, die inzwischen auch schon lange geräumt ist. Seine Mutter arbeite in der taz, erzählte er mir. „Cool,“ meinte ich, „überhaupt nicht,“ antwortete er. Die hätten dort beispielsweise eine italienisch geführte Kantine und wenn ihn seine Mutter zum Essen mitnehme, würde die Bedienung sich weigern, ihm einen Teller hinzustellen – weil er zu schmuddlig aussehe. Seine Mutter würde sich daraufhin zwar jedesmal beschweren, aber irgendwie sei sie doch der selben Meinung wie die Kellner.“
Mandys Eltern leben in Kaiserslautern, einmal besuchte ihre Mutter sie in der Wagenburg am Mariannenplatz. Sie war erschüttert, wie ihre Tochter dort lebte: „Schlimmer als die Zigeuner!“ Dabei war sie selbst aus ihrer Wohnung geflüchtet, weil sie es mit ihrem Mann, Mandys Vater, nicht mehr ausgehalten hatte. Aber auch Mandy ging es nicht gut: Sie fühlte sich von einigen Freiern regelrecht verfolgt: „Während der ganzen Zeit war mein Wagen eine Hochburg der Paranoia, die sogar Lia erfaßte. Darauf folgte bei mir eine längere Phase der Euphorie – über die ansonsten nichts weiter zu sagen ist. Und dann überfiel mich eine Depression, die leider noch immer anhält und über die ich deswegen nichts erzählen will, um sie nicht noch realer zu machen als sie ohnehin schon ist. Aber jedesmal hat sich der Zustand meines Wohnwagens verändert: Erst stand er schief, so dass einem ständig der Tee aus den Tassen schwappte; dann schloss die Tür nicht mehr richtig, so dass ich mich ständig beobachtet oder belauscht fühlte, und nun tropft es durchs Dach. Ich wette, bei meinem nächsten seelischen Zustand verziehen sich die Bodenbretter oder der Ofen rußt oder was weiß ich. Jedenfalls reagiert so ein Wohnwagen viel sensibler auf seine Bewohner als das beim sozialen Wohnungsbau jemals der Fall sein könnte.“
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11.
„Wir von den Medien hatten uns im Vorfeld eigentlich mehr von diesem Tag erhofft gehabt“, sagte ein Journalist zu einem Gewerkschafter – beim Auseinandergehen. Für die ausländischen Bauarbeiter auf dem Potsdamer Platz begann der 1.-Mai-Terror bereits am Abend davor: Nachdem die Polizeitruppen alles abgesperrt hatten, durfte niemand mehr die Wohncontainer verlassen. Am nächsten Morgen ging von dort aus der IG- Bau-Demonstrationszug los. Im Gegensatz zu diesem wäre der Marsch der IG-Metaller absolut kümmerlich ausgefallen, wenn sich ihm nicht die ganzen „Schwarzköpfe“ angeschlossen hätten: die radikalen türkischen Blöcke.
So akzeptierte die Berliner IG-Metall-Führung diese „Stalinisten“ denn auch diesmal wieder. Ein IG-Metall-Ordner wies mich später noch auf einen weiteren Grund hin: „Die wirklich guten Berliner Betriebsräte waren früher fast alle kurdische Maoisten!“ Obwohl die IG Metall eine Art „Sicherheitspartnerschaft“ mit der Polizei vereinbart hatte, nach der Eingriffe nur nach Absprache mit dem verantwortlichen zweiten Bevollmächtigten stattfinden sollten, griff sich ein Zivilfahnder einen Türken mit verbotenem Emblem aus dem Block des antifaschistischen marxistischen Komitees. Dies hatte zur Folge, daß nach einem Gerangel neben dem AFMK- Aktivisten noch ein kurdischer Arzt und der taz-Holzjournalist Christian Specht festgenommen wurden. Der Grünen-Sprecher Christian Ströbele erklärte sich sofort bereit, über Fax deren umgehende Freilassung zu fordern, und die IG-Metall-Ordner telefonierten ununterbrochen nach dem Ermittlungsausschuß. Überhaupt war man wild entschlossen, an diesem Tag internationale Solidarität zu zeigen: Auf dem Mariannenplatzfest wurde die „Multikulturalität“ geradezu Programm.
Der „Stalin von Bad Schwartau“, Dr. Seltsam, bemühte sich obendrein, es so romantisch wie möglich zu moderieren. Statt des üblichen Punk-Rock-Geschrammels spielte und tanzte die Gruppe „Omayra“. Gegen Abend räumte die Polizei den Platz dennoch, dabei kam es zu Scharmützeln. Autos und Gerätschaften brannten beziehungsweise gingen zu Bruch. Um Mitternacht stürmte die Polizei eine badensische Autonomenkneipe in der Oranienstraße. Im Anschluß an die West-Autonomendemonstration in Mitte (mit dem absprachewidrigen Emma- Goldmann-Motto „Wenn ich hier nicht tanzen kann, ist das nicht meine Revolution“) gab es ähnliche Zusammenstöße zwischen kleineren militanten Gruppen – in der Oranienburger-Straße beispielsweise. In Prenzlauer Berg flammten sogar rudimentäre Barrikaden auf. Hierbei kam auch das Massenmedium Bauwagen wieder zum Einsatz. Einige polnische Bauarbeiter – in Kamerabegleitung – waren schwer beeindruckt davon.
An der Maoisten-Demo in Kreuzberg beeindruckte zum einen, mit wie wenig Türken man eine imposante und laute Demo hinkriegt, und zum anderen, wie blaß und grau, ja fertig, die Deutschen neben den „Schwarzköppen“ aussehen. Da half auch nicht die Parole meiner türkischen Lieblingsstalinistin „Das Proletariat hat kein Vaterland / Nie wieder Deutschland!“, mit der sie im zweiten Lautsprecherwagen ununterbrochen die Massen aufpeitschte. Neben mir gingen zwei Mädchen. Die eine sagte: „Ich hab‘ nur noch mit Türken und Arabern zu tun.“ Die andere: „Sag mir doch mal, wo du die alle kennenlernst!“ Neu war heuer, daß es auf der Autonomen-Demo neben dem sogenannten schwarzen Block noch einen rabenschwarzen gab: bestehend aus einer Gruppe aufgehübschter Grufties. Auf dem Humannplatzfest im Osten trafen sich fast ausschließlich gepiercte „Buntköppe“. Das Mariannenplatzfest organisierten diesmal alle Kreuzberger Gruppen – von SPD bis KPD/RZ – gemeinsam. Zwischen dem Gewerkschaftsfest vor dem Roten Rathaus und der PDS- Veranstaltung auf dem Alexanderplatz schlenderten die Massen hin und her, wobei eine Kartenlegerin in Mitte ein Bombengeschäft machte, indem sie den Leuten ihre Zukunft („Ist mein Arbeitsplatz sicher?“) voraussagte. Iraner, Tamilen und Äthiopier geißelten auf Flugblättern ihre Heimatregimes. Die Berliner Pfingst-Uni warb für ihren Themenschwerpunkt „Widerstand“, und die Frankfurter „Rosa-Luxemburg-Tage“ versprachen zum selben Datum „Eine Welt in Aufruhr“. Die Gruppe „Revolutionärer Funken“ bewies indes in einem längeren Text: „Es müssen also unkonventionelle Lösungen her!“ Eine Gruppe junger Schöneberger hatte sie bereits: „Werd auch du so / wie ein Juso!“ – „Ein Tag der großen Worte“, resümierte der Spätausgabenkommentator der „Tagesschau“ den 1.Mai anschließend.
Als Gehaltsempfänger sprach er sich sogleich auch noch mutig für die totale Lohnflexibilisierung aus. Auch neu war diesmal, daß die Berliner Springer-Presse und sogar Jelzin in Moskau die Arbeiter aufforderten, ins Grüne zu fahren, um sich mal einen Tag so richtig zu erholen. Als böte der Ausflug ins Grüne noch eine Alternative zum bunten städtischen Treiben. Eine Blitzumfrage unter einigen Berliner Demo-Spätheimkehrern ergab, daß die überwiegende Zahl gerade das urbane 1.-Mai-Angebot in diesem Jahr „super“ beziehungsweise „urst schau“ fand – die Reeskalationsstrategie des Innensenators war ihnen dabei weniger ein Problem als die – eventuell sogar zunehmende – Unfähigkeit, sich ihr kollektiv entgegenzustellen. Schon bei der Festnahmeaktion im IG-Metall-Zug am Vormittag sei dies der „Knackpunkt“ gewesen. Und nichts hätte dies deutlicher machen können als die DGB- Sprecherin auf der anschließenden Kundgebung: „Wir fordern, daß Berlin sich als eine Stadt zu erkennen gibt, in der es sich lohnt, zu leben und zu arbeiten!“ Das muß man sich mal auf der Zunge zergehen lassen…
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12.
„Zerrissen“. Die Premiere von Uwe Gooß‘ Dokumentarfilm hatte etwas von einer Beerdigungsfeier – konzentriert war es in der Kneipe in Berlin-Kreuzberg, und nüchtern. Mike K., der Protagonist, dessen Familie bei der Premiere dabei ist, starb 1985 an einer Überdosis Heroin, seine Freundin Heike im vergangenen Jahr an Aids. Wohl auf Wunsch der Düsseldorfer Eltern – der Vater ist Architekt, die Mutter betreibt eine Galerie-Boutique – wurde der Nachname K. verkürzt. Anfang der Achtziger brachten es die beiden laut SFB zu „Punk- Ikonen“ – sie als Cover-Girl der Berliner Stadtillustrierten Zitty, er in Fernsehshows. „Er hatte zwar zerrissene Hosen an und so, war aber immer sauber, und die Schuhe immer geputzt“, erzählt seine Mutter. Sein Kumpel Campino von den Toten Hosen ergänzt: „Und die meisten Nieten auf der Jacke.“
Mike war in Düsseldorf von der Privatschule geflogen, klaute dem Vater 20.000 Mark und machte sich mit Heike auf nach Berlin, wo er 1980 die Kneipe „Chaos“ eröffnete. Freilich nicht in „SO 36“, dem legendären Kreuzberger Kiez, wie der SFB behauptet, sondern in „61“. Der Sender sitzt weit weg von diesen „Problemvierteln“, sein Film blieb jedoch durchgehend nahe dran. Regisseur Uwe Gooß gehörte einst zur selben Scene wie Mike. Angesichts der Alternativen – Knarre, Fixe oder Kamera – entschied er sich schließlich für letzteres. Anders Mike: Nachdem der seine Kneipenkonzession verloren hatte, hätten sie beide, so erzählt sein Freund im Film, „aus lauter Liebe“ zu ihren Freundinnen wie diese angefangen zu fixen. Die Mädchen arbeiteten in einer Peepshow, die Jungs versuchten es mit Beschaffungskriminalität. Die Eltern zogen unterdes nach Freiburg aufs Land. Einmal kam Mike zum Entzug, Vater und Sohn versöhnten sich wieder und bauten zusammen einen Resthof aus: „Da waren wir ein Superteam!“, erinnert sich der Vater. Doch es war nur ein kurzes Intermezzo. Ach, es ist alles so schrecklich. Das liegt aber beileibe nicht am Film!
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13.
„Life like a failing business“ – das ist der Alltag auf der Kreuzberger Oranienstraße. Und dazu gehört auch seine künstlerische Bearbeitung – post mortem. Im vergangenen Jahr wurde das tote Düsseldorfer Punkpärchen, das es bis aufs Zitty-Cover brachte, filmisch gewürdigt – und damit als Doppelfall abgeschlossen. Außerdem wurden die zwei türkischen Gemüsegärtner hinter der Mariannenplatz-Kirche sowie die Wagenburg am Engeldamm in einem Film „verewigt“.
Heuer war nun Ingrid Rogge dran: jenes blonde schwäbische Mädchen, das in den Achtzigern ermordet auf dem Dachboden der Waldemar 33 gefunden wurde. Eine Spiegel-Edelfeder hatte sie beizeiten gewürdigt: in einer Reportage über die verwegene Waldemarstraße, in der die Punkmädels sich schminken und Felle von vom Aussterben bedrohten Tierarten tragen durften: „wenn ihnen darüber nicht der Charme von Sperrmüll abhanden kam“. Der Regisseur Erwin Michelberger hat – mit SFB-Geldern – aus seiner „Spurensuche“ ein geradezu existenzialistisches Oeuvre gezwiebelt: „Hat es was genützt, dass wir erwachsen geworden sind?“ So lautete seine Ein- bzw. Ausgangsfrage. Michelberger stammt aus derselben Gegend – Saulgau – wie Ingrid Rogge und ihr Bruder Dieter. Beide waren auf „extreme Erfahrungen“ aus. Bei Dieter waren das harte Drogen, bei Ingrid Kreuzberg. Zunächst tat ihr das gut, das muss sogar der Sprecher der Mordkommission einräumen.
Nachdem sie daheim zunächst in einer T-Shirt-Fabrik gearbeitet hatte, verließ sie mit 16 das Elternhaus und ging 1979 nach Berlin, wo sie zunächst kellnerte. Irgendwann zog sie dann in die Walde 33, wo sich damals eine Kommune befand sowie das Frontkino und hintendran der Kinderbauernhof. Der Regisseur fand Archivmaterial über diverse Polizeieinsätze und auch noch zwei Frauen aus der Kommune sowie einen jungen Mann, der 1979 zwölf Jahre alt war und in der Fabriketage aufwuchs. Außerdem interviewte er den Betreiber des Frontkinos, der ihm ein teures Nan-Goldin-Originalfoto von sich schenkte, was den Regisseur sehr verblüffte. Michelberger studierte einst in Düsseldorf, und deswegen gehören auch Joseph Beuys mit seinem Adlatus Anatol sowie der KPD/AO-Maler Immendorff mit ein paar Schülern zu seiner „Spurensuche“. Immer wieder kommt er auf die oberschwäbische Heimat zurück: auf die Hexenmasken der Fastnachtsbräuche, den Silberschatz im Wald, auf seine ehemaligen Schulkameraden, die sich jetzt in ihrer Tochter und ihrem Holzhaus mit Sonnenblumen drumherum verwirklichen… Vor allem aber auf das inzwischen abgerissene Oberland-Kino, wo sie früher in der ersten Reihe saßen und sich vorab die Werbe-Dias – als Waren- bzw. Glücksversprechen – untereinander aufteilten. Ein Kinospiel, das es auch in Norddeutschland gibt: Derjenige, der dran ist, bekommt das, was das Dia gerade zeigt. Da freut man sich dann z.B. über einen Mercedes, ärgert sich über Rasierwasser und lacht hämisch über den, der Damenbinden abbekommt.
Dergestalt wird die kindliche Psyche früh auf Wünsche und Waren prospektiv enggeführt – und das autonom. Ingrid Rogges Wunscherfüllung war wie gesagt auf „Extremeres“ aus: Sie suchte den wahren „Kick“. Und nun ist die Gegend um die Walde 33 schon lange schick. U. a. domizilierte sich dort das Hanfhaus und etwa ein bis zwei Dutzend neue Medienfirmen. Ingrids Tod vor der Wende – „Turning-Point“ auf der Berlinale genannt – wurde nie aufgeklärt, wie man so sagt. Dafür hat der Regisseur ihr nun ein kleines Denkmal gesetzt. Sein Film ist etwas zu „poetisch“ geraten, aber der jungen Saulgauerin hätte er wahrscheinlich gefallen.
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14.
In der Fürbringerstraße laufen zwei Jungtürken, ein bärtiger Alternativer brüllt: „Ihr Schweine, wenn ich euch erwische!“ Ein Typ mit Basecap bleibt hinter ihm stehen und ruft den Füchtenden nach: „Geht bloß da hin, wo ihr hergekommen seid!“ Der anscheinend Bestohlene dreht sich zu ihm um und sagt: „Du spinnst wohl!“ Da haben wir wie in einer Nußschale, was derzeit die Grünen und Sozialarbeiter des „Problembezirks“ umtreibt. Erst klagten sie öffentlich im „Kotti“ über die Türkenjugend – unter der Überschrift: „Warum wir (nicht mehr) in Kreuzberg leben wollen“. Dazu zirkulierte eine „Analyse“ des „Kreuzberger Projekteplenums der Kinder- und Jugendarbeit“, in der die Entwicklung „zum Slum“ und die akute Gefährdung der „Kreuzberger Mischung“ mit dem Zerfall der türkischen Familien und dem dadurch zunehmenden Fundamentalismus unter den Jungtürken der dritten Generation erklärt wurde.
Die alt- und alldeutsche Frankfurter Allgemeine (FAZ), schon immer allem Multikulturellen abhold, widmete diesem „Topereignis“ sogleich einen nachdenklichen Riesenriemen: „SOS 36“ betitelt. Exakt zehn Jahre zuvor geißelten die Kreuzberger Grünen bereits die zunehmende „Gewalt“ im Kiez – und drohten mit Wegzug! Dafür machten sie jedoch 1988 noch die „autonomen Haßkappen“ verantwortlich. Die grünen Analytiker Volker Härtig und Karl Schlögel zogen dann auch tatsächlich weg: der eine als SPD-Immobilienentwickler nach Potsdam und der andere als FAZ- Professor nach Frankfurt/Oder. Aber zehn Jahre davor, 1978, hatten die Alternativis bereits die Schwarzköppe im Visier gehabt: „Türken raus – warum nicht, wenn es dem Kiez hilft!“ schrieb ein Szeneblatt den „behutsamen Stadterneuerern“ hinterher. Nachdem die Autonomen entweder in die Ostbezirke oder nach Hause, ins Rheinland, abgedrängt wurden, muß nun erneut die gewaltbereite Jugend aus Anatolien – freilich jetzt in der „dritten Generation“ – herhalten. Klammheimlich wird bereits der Schönbohmschen „Zero Tolerance“-Politik („Mehr Grün auf die Straße!“) Beifall gezollt. In der Kreuzberger Alten Feuerwache machte die Turnschuhpartei dieses Dauerproblem neulich sogar zum Wahlkampfthema. Wobei einige Referenten immerhin auf die „Rahmenbedingungen“ (so heißt der Kapitalismus bei den Grünen) zu sprechen kamen: Von 1987 bis 1997 stieg die Arbeitslosigkeit von 17 auf 37 Prozent in Kreuzberg, die Jugendarbeitslosigkeit wird im Jahr 2000 sogar albanische 60 Prozent erreichen.
Der Bezirk hat die meisten Sozialhilfeempfänger: jeder fünfte Haushalt hat unter 1.000 Mark monatlich zur Verfügung, dennoch hat der Bezirk ein höheres Steueraufkommen als Zehlendorf. Aber nicht die Reichen dort bedrohen den „inneren Frieden“, sondern die „türkischen Jugendlichen“ hier! Dazu erklärte mir eine Studentin: Wenn sie abends nach Hause komme, und es stünden im Dunkeln drei Türken vor ihr, dann habe sie „einfach Angst“. Sie wolle die Wohnung jedoch wegen der billigen Miete unbedingt halten. Deswegen sei auch sie für „mehr Sicherheit“. Selbst an der Freien Universität (FU) werde es immer schlimmer: Wenn sie in der Mensa sich vordrängelnde türkische Studenten kritisiere, werde sie als „Rassistin“ beschimpft.
Übers Saalmikrophon äußerte sich ein alter Sozialarbeiter so: „Die Minderheiten dürfen sich nicht jede Frechheit herausnehmen – und zum Beispiel türkisch sein schon als Qualifikation ansehen!“ Daß die Türken in SO 36 eine Mehrheit sind, war ihm anscheinend noch nicht aufgefallen. Für Vera Gaserow war dies jedoch gerade ein Grund dafür, daß es in Kreuzberg – im Gegensatz zu allen anderen Bezirken und erst recht zu anderen Deutsch-Städten – doch recht harmonisch zugehe. Christian Ströbele setzte noch einen drauf: Die Berliner Grünen würden sich ja auch im Gegensatz zu anderen Grünen noch relativ positiv verhalten – und zum Beispiel für viele ausländische Belange einsetzen. Der Kreuzberger Bürgermeister Franz Schulz fand – wie immer – abschließend die richtigen Worte: „Multikulti“ – das sei eben ein „dynamischer Prozeß“! Off the record erfuhr ich dann noch von einer 68er-Feministin: „Ich habe mich ja lange für Latinos eingesetzt – und begeistert. Aber Kinder wollte ich nie.“
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15.
Die Menschen sind zum Jahresbeginn noch ganz voll von ihren guten Vorsätzen. Bei Hartz-IVlern sind das nicht selten Geschäftsideen, also Pläne und Projekte, um sich selbständig zu machen. Im Neuköllner Salon Petra, der selbst eine halbe Existenzgründung ist – von zwei Buckower Geschwistern, meinte Sabine, als ich den berühmten Spruch von KPD/RZ-Mitbegründer Mao Meyer „Too old to die young“ fallen ließ: „Oh, den schreib ich mir auf. Meine Freundin und ich, wir wollen nämlich T-Shirts bedrucken und die dann verkaufen, haben aber noch nicht genug Ideen dafür.“ Als Ralph im Gespräch über verbotene Silvesterknaller aus Polen auf die von der Bundesanstalt für Materialprüfung (BAM) zertifizierten Feuerwerkskörper zu sprechen kam, die allein erlaubt sind, fasste er das in dem Satz zusammen: „Also, kein Bum ohne Bam!“ – „Wunderbar,“ rief Claus, „das schreib ich mir auf, vielleicht kann man den Satz als Werbung an eine Knallerfabrik verkaufen …“ Seine Freundin Christa, deren Mutter kürzlich starb und die deswegen oft auf dem Friedhof war, will dort in der Nähe ein „Witwen-Café“ aufmachen, „das fetzt“. Denn sie hat herausbekommen, dass sich fast täglich „unheimlich viele Frauen“ auf dem Friedhof treffen, deren Männer dort liegen: „Die sind alle saugut drauf, gehören aber zu einer Generation, die sich noch nicht traut, einfach in eine Kneipe zu gehen.“
Im Café Jenseits am Heinrichplatz, Existenzgründung eines ehemaligen Clowns aus der DDR, wird fast nur noch über Projekte geredet: Da ist zum einen die „Künstlerverschickung ins sibirische Tscheljabinsk“, für die Peter schon seit Jahr und Tag versucht eine Förderung aufzutun. Und zum anderen der Künstler Fritz, der bereits 250.000 Euro zusammenbekommen hat, um eine Gruppe von Künstlern in einem White Cube in einer Tupolew der Schwerelosigkeit auszusetzen, wobei sie einige berühmte Bildszenen nachstellen sollen. Ihm fehlen aber noch einmal so viele Euros für die Bezahlung des Flugs.
In der Respect-Bar, die vor allem von Frauen mit einem Faible für Afrikaner frequentiert wird (deswegen der „respect“ mit tiefem „c“ im Barnamen), drehen sich die Gespräche zwar auch oft um „Projekte“, doch meistens um Hilfsprojekte, die eher was kosten, als was einbringen: etwa das Einsammeln von gebrauchtem Werkzeug für eine Berufsschule im Senegal oder das Besorgen von ausrangierten Spielplatzgeräten für fünf Spielplätze in Gambia. Neulich brachte Jörg allerdings ein ganz anderes Thema dort auf: „Ich habe gerade einen Job in 61,“ sagte er, der in SO 36 aufwuchs und immer noch dort wohnt. „Ihr glaubt’s nich, die sagen dort zum Abschied ,Tschüssi‘!“ – „Is wahr?!“ Man wollte es kaum glauben. Man nennt die 61-Kreuzberger hier übrigens auch die „Futonficker vom Südstern“. Die Wirtin fasste sich als Erstes: „Wenn einer das bei mir hier sagen würde, würde ich ihn glatt rausschmeißen!“ Das fand Jörg etwas übertrieben, aber man kam überein, dass die da in 61 ganz anders ticken als in 36, also „eine ganz andere Kultur“ hätten – und dass man deswegen auch nicht zusammenkommen könne, was wiederum bedeute, dass man dort vernünftigerweise auch kein „Projekt“ upstarten sollte. Jörg entschuldigte sich damit, dass das Arbeitsamt ihn dahin vermittelt hätte – gegen seinen Willen quasi. Seine Sachbearbeiterin hätte ihn mit den Worten verabschiedet: „Wir müssen alle Opfer bringen.“
Im Advena, einer Existenzgründung von Ali und seiner Frau, erfuhr ich von Jens, er hätte nun endgültig die Schnauze voll von den 1-Euro-Jobs des Arbeitsamtes, und deswegen habe er sich ein Indoor-Gewächshaussystem gekauft, gebraucht für 400 Euro. Damit wolle er jetzt Marihuana züchten und sich so selbstständig machen. Er hat bereits alles ausgerechnet: Von zwei Ernten im Jahr könne er gut leben – „und dann goodbye, Arbeitsamt!“ Mich fragte er, ob ich nicht Kunde bei ihm werden wolle, er würde ein Supergras anbieten. Dabei hatte er noch nicht mal den Samen dafür gekauft, geschweige denn eingesät.
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16.
Zu den herausragenden Zeitungsläden unseres Viertels zählt der von Fred Abel in der Skalitzer Straße 96. Er hat von morgens um vier bis abends um neun auf. Laut Firmenstempel ist es ein „Tabakcenter“. Obwohl ich dort nur unregelmäßig einkaufe, bekam ich Ende 1997 von Abel eine Flasche Wein geschenkt. Mein einziges Weihnachtsgeschenk! Fred Abel hatte einst Kellner auf Schloß Brüningslinden in Kladow gelernt: „Das gibt’s aber nicht mehr.“ 1989 übernahm er den Tabakladen von Siggi Neumann, einem Drahtseilartisten, der mit einer Motorradnummer – zwischen Kirche und Oberbaumbrücke – berühmt wurde. Abel wird in diesem Jahr 60, „aber ich fühl mich nicht so – ich bin immer noch dieser Fred. Meine Braut sagt das auch: Kerstin Fischer – die ist phantastisch. Sie ist gelernte Hutmacherin und malt z.B. alle Schilder für den Laden – wie nix. Sie ist auch Mitinhaberin.“ Und dann gibt es da am Stehtresen noch die „nette Truppe“: eine Gruppe ruhiger Trinker, Raucher und Skatspieler. Sie haben schon vier Preisskatrunden gewonnen: Die „Zeitungsladenpokale“ stehen im Regal. Sieben mal wurde Fred Abels Laden bereits ausgeraubt. Nach dem dritten Mal kündigte ihm seine Versicherung. „In Kreuzberg haben ja viele Probleme mit ihrer Versicherung.“
Am 1. März 1998 wurde erneut bei ihm eingebrochen, diesmal transportierten die Diebe fast das gesamte Inventar ab: Zigaretten, Alkoholika, Süßigkeiten, sogar das Telefon und teure Zeitschriften. „Sie haben mich total ausgeraubt.“ Fred Abel war wie betäubt. Dann sprang auch noch sein dritter Teilhaber Peter Bittner ab. Fred Abel mochte gar nicht mehr seinen leeren Laden betreten, meist hielt er sich bei der attraktiven Bäckerin nebenan auf, ab und zu ging er zum Briefkasten und holte unbezahlte Rechnungen raus. Am 27. 4. lag zum Glück nur Reklame im Kasten, aber Fred Abel knickte plötzlich so unglücklich mit dem Fuß um, daß er sich dabei dreimal sein Bein brach. Damit war jedoch seine Pechsträhne anscheinend zu Ende, denn jemand lieh ihm Geld, und kurz danach gewann er auch noch den Kreuzberger Kaufmann Salih Ötkem als neuen Teilhaber dazu – und der ließ sofort den ganzen Laden durchrenovieren: „Der hat richtig was drauf, der Junge – als Geschäftsmann“, so Fred Abel, der jetzt „fast nur noch Mitarbeiter“ ist.
Seit dem 20. 7. ist der Laden nun wieder geöffnet – und mit einer teuren Alarmanlage ausgestattet. Ansonsten ist das Angebot aber wie früher: Morgens gibt es belegte Brötchen, frischen Kaffee und die türkische sowie deutsche Presse, darunter die seltenen „Traber-Kuriere“ aus Mariendorf und Karlshorst, die von 10 Kunden gekauft werden, und den „Box-Sport“, den vier Leute verlangen. Dann gibt es natürlich Tabakwaren, die den Hauptumsatz ausmachen, sowie Eis und Süßigkeiten, ferner sieben Sorten Bier, diverse Schnäpse sowie Weine, darunter der seltene „Bad Cannstätter Zuckerle“ und einige gängige türkische Weine. Außerdem noch Schokodrinks, Luftballons, diverse Formulare, Berlin- und Kreuzberg-Postkarten – und Schulsachen: „Wir haben hier drei Schulen in der Nähe!“ Im Regal der Zeitschriften, speziell bei den Sexblättern, sieht es noch etwas mau aus: „Aber das wird sich auch bald ändern“, verspricht Fred Abel, der davon ausgeht, daß demnächst sowieso wieder alles wie früher sein wird – „sogar noch besser!“
Langsam trudeln auch die alten Stammgäste wieder ein. In letzter Zeit gab es hier nicht nur viele türkisch-deutsche Geschäftsgründungen, etliche Türken haben auch alleine Zeitungs- und Tabakläden aufgemacht. Der erste und beste war lange Zeit der türkische Kiosk unterm U-Bahnhof Görlitzer Bahnhof, am höflichsten ist das Ehepaar des alteingessenen Lottoladens in der Oranienstraße, und am merkwürdigsten das Tabakgeschäft in der Manteuffelstraße, das einem selbstbewußt-kundenfeindlichen Kerndeutschen gehört. Er will vor allem Angelausrüstung verkaufen.
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17.
Der Eskici – das ist ein türkischer Händler, der mit mehr oder weniger Hingabe Kullanilmis Esya (gebrauchte Waren) an- und verkauft. Der Almanci- Poet Feridun Zaimoglu aus Kiel schreibt in seinem Buch „Abschaum“: „Eines Tages, wir sind wieder im Flohmarkt, immer Flohmarkt, mein halbes Leben im Flohmarkt…“ Dies gilt auch für das andere halbe Leben meines Freundes Fikret Genç aus der Wiener Straße. Er hat dazu gerade den Laden seiner Bruders übernommen, der sich als Immobilienmakler versuchte und nun in einem Gemüsegeschäft arbeitet. Fikret begann seine Berufstätigkeit als Dolmus-Fahrer in Ankara. 1981 war die politische und soziale Situation dort so, daß er wegwollte. Sein Bruder besaß eine Kohlenhandlung in Berlin, er zeigte eines Tages einer Deutschen ein Foto von Fikret, und sie besuchte ihn daraufhin in Ankara. Die beiden heirateten.
„Die ersten beiden Monate in Deutschland waren schrecklich“, meint Fikret. Er kam mit den deutschen Männern nicht klar. Dann begriff er jedoch: „Sie wollten Kraft zeigen, also zeigte auch ich meine Kraft und schlug mit der Faust auf den Tisch. Die Männer haben mich verstanden, und noch am selben Abend habe ich mit Gerd und Ralf Blutsbrüderschaft geschlossen. Danach begann eine gute Zeit für mich… Es gab Arbeit, und für 100 Mark bekam man bei Aldi viele Tüten voller Lebensmittel, die für eine Woche reichten. Ich verdiente 1981 für eine Tonne Kohlenausliefern 24 Mark.“ Später eröffnete Fikret einen Kebabladen. Eine Episode daraus wurde dann als Fotoroman unter dem Titel „Dönerliebe“ in der taz veröffentlicht. Fikret hatte nicht nur unzählige Liebschaften, zeitweilig vermittelte er auch deutsch-türkische Ehen. Er selbst lebte lange Zeit mit einer bulgarisch-türkischen Zigeunerin zusammen.
1994 fuhr er mit seinem roten Mercedes nach Bulgarien zu ihren Eltern. Die Fahrt dorthin, durch Polen, die Ukraine und Rumänien, ähnelte einem Spießrutenlauf: So viele Men in Sportswear trachteten unterwegs danach, ihm das Auto abzunehmen. Aus finanziellen Gründen mußte er den Mercedes anschließend verkaufen. Wieder begann er als Kohlenträger zu arbeiten: Er bekam genau denselben Lohn wie 1981 – „weil die Polen und Ukrainer in Berlin auch für 5 Mark die Stunde arbeiten. Und damals bekam ich am Tag manchmal 300 Mark Trinkgeld – heute sind es oft nicht mehr als 25 bis 30 Mark… Das Sozialleben ist wirklich schlimm geworden, viele Deutschen reagieren böse auf die Arbeitslosigkeit – an der Tankstelle, auf der Straße, im Fahrstuhl, nirgendwo wird man mehr angelächelt… Mein Traum ist, daß in Deutschland alles wieder so wird wie damals, als die Grenzen noch zu waren.“
1996 erwarb Fikret einen alten VW-Transporter, damit kaufte er über Kleinanzeigen in der Zweiten Hand Gebrauchtmöbel auf, die er anschließend auf dem Flohmarkt an der Oranienburger Straße mit Gewinn wieder zu verkaufen versuchte. Der Erfolg war mäßig, um nicht zu sagen entmutigend. Das Geschäft dümpelte dahin, bis Fikrets Bruder seinen Laden aufgab. Damit versuchte er nun noch einmal sein Glück im An- und Verkauf als vollberuflicher Eskici. Der Laden befindet sich in der Ohlauer Straße Nr. 4 in Kreuzberg. Es kommen viele Leute vorbei, außerdem verkehrt dort der 129er-Bus, und Fikret ist ein sehr kommunikativer Mensch, so daß er inzwischen schon eine richtiggehende Laufkundschaft hat und nicht mehr ausschließlich auf die Annoncen in der Zweiten Hand angewiesen ist. Es gibt jedoch heute kaum noch etwas umsonst: „Für alles muß man bezahlen. Am günstigsten sind natürlich die Versteigerungen, weil dort auch größere Posten billig zu haben sind, aber für mich sind sie noch zu teuer.“ Im Endeffekt geht es Fikret wie den meisten Trödlern in Berlin: Ihr Warenangebot besteht fast nur aus Unikaten. Selbst wenn es sich um ehemalige Massenprodukte handelt, sind sie zunächst derart durch einen persönlichen Gebrauch gegangen, daß sie quasi wieder zu einem Einzelstück wurden. 10.000 solcher Gebrauchsgegenstände besitzt jeder Bundesbürger im Durchschnitt. Bei einem Ghanaer sind es nur siebenunddreißig! Welche Dinge braucht der Mensch wirklich? Die große Anzahl wirkt hier wie ein Wohlstandspolster, das nun langsam und notgedrungen abgespeckt wird. Folglich entstehen immer mehr Trödelmärkte, auch im sogenannten Berliner Speckgürtel.
Fikret bekam gerade ein Angebot, einen Trödelmarkt auf dem vielbesuchten Schmachtenhagener Bauernmarkt bei Oranienburg zu organisieren. Er kennt viele Eskici, vielleicht kann er einige seiner Kollegen überreden mitzumachen. Weil man auf dem Land mehr Platz zum Horten von Gegenständen hat als in der Stadt, wäre ein Trödelstand auf dem Bauernmarkt auch und gerade für den Ankauf interessant – und Fikrets warmherzige Art der Kaufverhandlung könnte dort mittelfristig gut funktionieren. Freilich müßte dann während dieser Zeit immer jemand anderes in seinem Laden arbeiten – und das ist ein Problem: „Denn die meisten Kunden kommen meinetwegen. Wenn ich irgend jemand als Vertretung nehme, habe ich bisher noch nie was verkauft.“ Fikret arbeitet auch an seinem Äußeren – so hat er sich z. B. gerade eine Glatze schneiden lassen und betreibt Kampfsport.
P.S.: Als 2003 der Laden nicht mehr lief, eröffnete Fikret erst ein Musik-Café nahe der Kochstraße und als das nicht lief, machte er seinen Taxischein. Nun fährt er Taxi – und „es läuft auch ganz gut,“ wie er neulich meinte, als er mich umsonst nach Mitte mitnahm.
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18.
Ich sammel Dias und gehe deswegen gelegentlich auf Flohmärkte. Die meisten Märkte hat hier der Kunstsammler Michael Wewerka gepachtet. Man trifft ihn allerdings eher auf Ausstellungseröffnungen als zwischen den Ständen seiner Händler. Anders der Pächter des Hallenmarkts an der „Arena“ in Treptow, der oft sogar unter der Woche da ist, wenn der Markt geschlossen ist. Dann finden dort nicht selten Dreharbeiten für Spielfilme statt.
Es gibt da unter anderem einen kleinen Stand gleich am Eingang, der 10.000 (!) verschiedene Fernbedienungen im Angebot hat. Er gehört Tina Vollmer und Ahmad Alik. Die unverheiratete Tina ist ambulante Schwerstpflegehelferin, der Familienvater Ahmad war Kommunikations-Elektroniker bei Siemens. Sie ist für die Finanzen zuständig, er für die Technik. Außerdem hilft sie seinen Kindern bei den Hausaufgaben, Ahmads Frau kocht dafür für sie mit. Den Stand haben die beiden seit 1998, sie zahlen 180 Euro im Monat dafür. Ihre Kunden sind meist Studenten und Hartz-IV-Empfänger – „die kommen sogar aus Spandau und dem Umland“ – und haben ihre Fernbedienung (FB) entweder verloren, fallen gelassen, mit Flüssigkeit übergossen, wegen des schlechten Programms zertreten oder Hund, Katze oder Papagei hat das Plastikgehäuse zerbissen. Einmal kam ein Punk, dessen Ratte alle Knöpfe angeknabbert hatte.
Bei vielen Modellen gibt es schon nach sieben Jahren keine Ersatzteile mehr, zum Beispiel den Quarzresonator. Man kann andere FB daraufhin umprogrammieren, oder der Kunde begnügt sich mit einer „Universal-FB“, die aber nur die Grundfunktionen hat. Die FB kosten zwischen 5 und 20 Euro, für Reparaturen zahlt man 10 Euro.
Bis zur EU-Erweiterung wurde der Flohmarkt massenweise von Osteuropäern besucht. Jetzt ist es da manchmal richtig ruhig. Dafür hat sich das FB-Geschäft von Tina und Ahmad über das Internet erweitert in alle Welt.
Die taz-Leserin Tina kommt aus einem Dorf bei Münster und wurde dort von einer Landkommune in der Nachbarschaft politisiert, Ahmad stammt aus Pakistan, seine Frau bekam gerade ihr viertes Kind, seine zwei ältesten Töchter gehen aufs Gymnasium. Bevor die beiden ihren Stand eröffneten, sammelten sie 1.000 FB auf diversen Flohmärkten ein. Heute bekommen sie manchmal ganze Kartons voll von Fernsehtechnikern oder Kunden, die ihre FB sonst teuer entsorgen müssten.
Die Geschäftsidee stammt von Ahmad: Ihm war ein Jahr vor dem Mauerfall die FB für seinen Grundig-Fernseher kaputtgegangen; die neue sollte 50 Mark kosten. Nach langem Suchen fand er auf einem Flohmarkt eine gebrauchte. Er hatte damit eine Marktlücke entdeckt.
Die beiden betreiben ihren FB-Stand eher aus Spaß – „für ein Taschengeld“, wie sie sagen. „Der Flohmarkt ist auch ein bisschen mein zweites Zuhause“, meint Tina, die sich an den rauen Ton, der dort herrscht, „längst gewöhnt hat“. Immer wieder ist sie versucht, vom Zustand der FB ihrer Kunden auf deren Persönlichkeit zu schließen – auch, „was passiert ist“. Einmal kam zum Beispiel eine Frau mit einem blauen Auge und legte eine kaputte FB auf den Tisch. Tina vermutete – zu Recht, wie sich dann herausstellte -, dass sie damit im Streit nach ihrem Freund geworfen und ihn verfehlt hatte. „Die schwierigsten Kunden sind Geschäftsleute, die gar nichts bezahlen wollen, die einen dreist anlügen – nur um ein paar Euro zu sparen. Meistens sind es Leute aus Zehlendorf und Dahlem, die um den Preis feilschen. Und anschließend zahlen sie mit einem Hunderter. Die wissen nicht, sich in Armut zu benehmen.“
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19.
Zu dem für mich herausragensten Event der letzten Zeit zählt der Austausch der zwei Poller vor dem Eingangstor der Bundesdruckerei in der Kreuzberger Kochstraße. Durch die schwer bewachte Einfahrt gehen täglich auch die Angestellten dieser nunmehr gesamtdeutschen Geldfabrik. Es ist immer wieder ein extrem entwürdigender Anblick, wenn die Drucker und Sekretärinnen bei Schichtende noch hinter dem Gittertor warten müssen – bis es auf die Sekunde genau 15 Uhr oder was weiß ich schlägt. Jetzt können sie sich so lange an den roten Blumen der zwei Kübelpoller erfreuen, bis das Gittertor hochgeht. Während die großteils üppig gewordenen Bürodamen dann in den 129er-Bus drängen, schwingen sich die sportlichen Arbeiter auf ihre Motorräder – ohne die zwei neuen Blumenkübel noch eines Blickes zu würdigen.
Die Bundesdruckerei gehört zur Hälfte einem süddeutschen Multiunternehmer – mit Kapitäns-, d. h. Bugarchitektur-Ambitionen -, sie ist also nur noch halbstaatlich. Derzeit ringt das Unternehmen um den Großdruckauftrag „Euro“ und überlegt zugleich, ob es nicht Paketlösungen mit Geldzählmaschinen und Schreddern anbieten soll. Nun zu den jüngsten Pollern vor der Bundesdruckerei: Blumenkübel. 1988 hatte mich bereits eine längere Poller-Recherche vor die Tore der Bundesdruckerei geführt. Damals sprach ich über diese meiner Meinung nach staatsterroristische „Verpollerung“ der Stadt mit Stadtsoziologen, Urbanisten, Pollerdesignern und -herstellern. Zwar waren wir uns im wesentlichen einig, dass die „stummen Polizisten“ eine wahre „Eigendynamik“ entfaltet hätten. Bei der Zwangstransformierung der Bewegungen des Klassenkampfes in gegeneinanderstrebige Verkehrsteilnehmerströme komme man aber nun mal nicht um die „Sachzwänge“ herum: Siemens-Ampel, Zeiss-Überwachungskameras und Wellmann-Poller. Immerhin meinte einer der am Institut für Urbanisten von mir befragten Verkehrsexperten (mit expliziter Neigung zu grünen Alternativen): „Blumenkübel sind out!“
Infolge der Wiedervereinigung spitzte sich die Pollerfrage dann noch einmal zu: Im Osten wurden gleich nach der Wende alle Straßen und Plätze „abgepollert“. Im Gegensatz zu Kreuzberg, wohin der dortige „Penis“-Poller extra – wegen der Autonomen und linken Türken – ankerverstärkt geliefert wird, forderten im Osten die Bürger selbst „Mehr Poller!“. Dort wird der Verkehrsteilnehmer jetzt auch weitaus faschistischer gegängelt als zuvor: mit jede Menge Ketten zwischen den Pollern und kilometerlangen Straßenabgrenzungsgittern. Dazu kommen alle 100 Meter Ampeln und Parkautomaten, selbst auf Dörfern. Im Westen würde man sich so etwas nicht einmal in Ostfriesland gefallen lassen, wo man ganz besonders genau die Verkehrsregeln beachtet. Das Poller-Ding war also gesamtdeutsch blitzschnell gelaufen, und die Straßenmöblierungs-Lieferanten verdienten sich dumm und dämlich.
Zwei – aus Hessen – traf ich unlängst im Café Leopold in Bombay. Dort holten sie gerade zum ganz großen Schlag aus: Bombay hat 14 Millionen Einwohner – und so gut wie überhaupt keine Poller, die wenigen Ampeln werden souverän ignoriert. Die Deutschen hatten bereits Kontakt zum Führer der faschistischen Shiv-Sena-Kommunalisten Bal Thakeray aufgenommen, der seine Stadt-Utopie aus dem „frei fließenden Verkehr Chicagos“ bezieht: „That is how Bombay has to be!“ Die beiden Hessen spendierten mehrere Lokalrunden.
P.S.: 2009 hat man in der Bundesdruckerei ein Einsehen – und entfernt die zwei Blumenkübel-Poller wieder.
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20.
Neuerdings trifft man auf Podien und Konferenzen immer öfter so genannte Globalisierungskritiker, ja sogar „anerkannte GlobalisierungskritikerInnen“ – zuletzt auf der Le-Monde-Diplomatique-Diskussion im Berliner Haus der Kulturen der Welt in der John Foster Dulles Allee. Mich verschlug es anschließend in die Moabiter Kneipe „Uschi und Ich“. Während ich dort an der Theke saß und noch darüber nachdachte, ob das nicht auch für mich der richtige Beruf wäre – ein gottverdammter Globalisierungskritiker -, fing neben mir plötzlich Hans an, auf die Wirtin – Uschi – zu schimpfen. Am Schluss seiner Tirade, die Uschi übrigens still über sich ergehen ließ, sagte er: „Ach, geh mir doch los, du olles Globalisierungsarschgesicht.“ Anscheinend war auch Hans, der zuletzt eine Kita-Kontrollgruppe auf ABM-Basis in Pankow kontrolliert hatte, inzwischen voll im Globalisierungskritik-Geschäft tätig.
Ähnliches passierte mir dann im Café Anadolu in der Wiener Straße in Kreuzberg: All die türkischen Senioren dort waren mittlerweile Globalisierungskritiker geworden – und wie! Selbst in den Kreuzberger Grundschulen hat sich dieser neue Beruf schon voll durchgesetzt: Wenn ein Lehrer mal wieder mit einem pubertierenden Bosnier oder Kurden nicht klarkommt, dann sagt er auf der Lehrerkonferenz bloß noch: „Aus dem wird mal ein richtiger Globalisierungskritiker!“ Sogar die schnelle Eingreiftruppe für die Heroinhändler im U-Bahnhof Schönleinstraße bedient sich dieses Jargons – und spricht in ihren Fahndungsmeldungen zum Beispiel davon: Diesen oder jenen „schnurrbärtigen Globalisierungskritiker – den schnappen wir uns, sobald er die Treppe hochkommt“.
Klar, es gibt unfreiwillige Globalisierungskritiker – wie den CDU-Regiermeister Diepgen oder den Dienstleister Dussmann. Es gibt unseriöse Globalisierungskritiker – wie die Neonazis oder Hans aus Moabit. Verpisste Globalisierungskritiker – wie Erwin und Moni am Kotti. Verbeamtete Globalisierungskritiker – wie die Konstanzer Unileute und die Politologie-Profs vom Otto-Suhr-Institut der Freien Universität. Aber es gibt daneben auch ganze Regionen, die voll auf Globalisierungskritik setzen – zum Beispiel die Ostler in den fünf neuen Bundesländern: Was ist deren Nörgeln und Nölen anders als angewandte Globalisierungskritik? Das geht bis dahin, dass sie sich zum Beispiel standhaft weigern, ihre ganzen kleinen Scheißläden – Existenzgründungen genannt – länger als bis 17 Uhr 55 offen zu halten.
Neulich behauptete ein Leipziger Philosoph, Peer Pasternak, der über die Abwicklung der ostdeutschen Wissenschaft geforscht hatte, es gehöre wesentlich zum westlichen Pluralismus, dass auch der Marxismus-Leninismus staatlicherseits gelehrt werden müsse. Der Ostler spinnt, dachte ich. So weit kommt es noch, aus dem Marxismus-Leninismus eine öde Seminarveranstaltung mit Referatszwang und Zensurvergabe zu machen. Aber genau das passiert zur Zeit – nahezu überall: nur dass der aggressive Antikapitalismus jetzt Globalisierungskritik heißt. Ohne Globalisierungskritik ist schon fast gar keine Forschung und Lehre mehr möglich. Sogar völlig korrupte Karrieristinnen – wie Riedmüller-Seel, Anke Martiny, Cora Stephan und Georgia Tornow – machen nun lauthals einen auf Globalisierungskritik. So beschwerte sich Letztere, nach der übrigens inzwischen eine globale Rosensorte benannt ist, zum Beispiel darüber, dass die Kapitalgeber die Verluste ihrer Wirtschaftszeitung Econy nicht mehr länger hinnehmen wollten. Was ist das anderes als Globalisierungskritik? Höchstens könnte man es noch als Kapitalismusfeindlichkeit durchgehen lassen. Beides läuft aber auf dasselbe hinaus. Um es kurz zu machen: Der Menschenrechts-Aktivist, der Umweltschutz-Experte, der Jugo-und Afghanistan-Krisenmoderator – all diese Berufe sind out! Behaupte ich. Der neue Wunschberuf bei alt und jung – das ist der Globalisierungskritiker. Schon wirbt zum Beispiel die Uni Bochum mit dem Spruch: „Wir bilden die Globalisierungskritiker von morgen aus!“ Gleiches könnte auch die Leitung des Tegeler Knasts von sich behaupten.
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21.
Kürzlich musste ich früh aufstehen, um eine „Blattkritik“ zu machen – und dazu musste ich erst einmal das die taz zuvor gründlich gelesen haben. Anschließend war ich noch müder, aber ich sollte noch eine Kolumne schreiben. Was lag da näher, als sich – antriebslos und mit leerem Kopf – für diesmal klassisch journalistisch aus der Affäre zu ziehen – und einen (Text) zusammenzugoogeln. So wie es die Studenten angeblich nur noch machen. Computer angeschmissen, die Suchmaschine angeklickt – und dann das Wort „Frühaufsteher“ eingegeben: 6.980 Eintragungen gab es dazu. Bei „Frühaufsteher Berlin“ waren es noch 1.060, bei „Kreuzberg“ – wo bis zur Wende die Nächte angeblich besonders lang waren – noch 38 Eintragungen.
Die erste kam von einer Kreuzberger Flüchtlings-Initiative, die zu einem „antirassistischen Einkauf“ – um Punkt 12 Uhr – bei Reichelt aufrief. Das war nicht besonders früh! Die zweite „Frühaufsteher“-Eintragung hatte ihren Termin jedoch noch später angesetzt. Es handelte sich dabei um eine „Latin Parties“-Initiative, die diesbezügliche Clubs aus ganz Deutschland mit ihren Programmen vorstellte. Die dritte Eintragung bestand ebenfalls aus Club-Adressen – jedoch für Blues- und Jazzfans, wobei Google mir die Kreuzberger Regenbogenfabrik rausgesucht hatte, die laut eigener Einschätzung „nix für Frühaufsteher“ sei. Im Gegensatz zum Qigong-Zentrum in der Zossener Straße, deren chinesische Heil- und Meditationsangebote angeblich nicht nur für Frühaufsteher ihren „Reiz“ hätten. Man fängt dort also schon sehr früh an – das kennt man ja von den Chinesen. Noch früher aber fängt die Schülerredaktion einer Radiosendung des Berliner Offenen Kanals an: nämlich um zwei Uhr nachts. Darauf folgen eine Jungle World-Reportage über einen ebenfalls recht frühen Polizeieinsatz in Kreuzberg, die Frühaufsteher-Tipps einer Morgenpost-Redakteurin und eine Güterabwägung zwischen den optimalen Öffnungszeiten fürs Prinzenbad und den Wünschen einiger Frühaufsteher. In der nächsten Eintragung behauptet das Videodrom „Filmfreaks sind Frühaufsteher“. Und in einer weiteren meint der „Künstlerbedarf Ebeling“, für Frühaufsteher sei der Laden genau der richtige. Vorm Amtsgericht protestierten „250 wetterfeste Frühaufsteher“ – gegen eine Ortsveränderung. In der Berliner Zeitung ist davon die Rede, dass viele Verbände nach Berlin ziehen, denn man muss früh aufstehen, um erfolgreiche Lobbyarbeit zu betreiben. Ein weiterer Zeitungsbericht handelt vom hoffnungsvollen Nachwuchs im Backgewerbe: „Frühaufstehen ist kein Thema mehr“, meint ein gewisser Zernicke, dessen Arbeitstag in einer Bäckerei in der Mariannenstraße oft schon um zehn Uhr abends beginnt. In einem Wahlinfo wird vom Finanzsenator berichtet, dass er als Frühaufsteher bereits morgens zur Wahl ging. Der Tagesspiegel schrieb über das derzeit kaum noch vorstellbare Schnee-Chaos auf den Straßen – es sei besonders für Frühaufsteher unangenehm. Eine Rockband, die auch von Satanisten gerne gehört wird, hat „für alle Frühaufsteher ein fettes Grunz“ auf ihrer Webpage übrig. Und eine Kreuzberger Schwuleninitiative will fürderhin auch für „Frühaufsteher“ attraktiv sein. Der letzte Eintrag stammt von den Deutschrockern Rod Army, in deren Gästebuch sich unter anderen auch ein „Frühaufsteher“ zu Wort meldete.
Summa summarum: Die Frühaufsteher, das sind – zumindest in Kreuzberg – immer noch so etwas Ähnliches wie die „Besserleger“ beim Golf. Es ist schön und gut, wenn sie es tun – die Frühzüge und Gewerbeimmobilien fahren beziehungsweise stehen nicht so lange leer usw. Aber wie leicht kann diese Tugend in Besserwisserei oder gar Penetranz ausarten. Dies erfuhr ich erstmalig bereits 1970 – damals hatte Matthias Broeckers gerade einen Semesterferienjob in der Kreuzberger Eierlikör-Fabrik Verpoorten angetreten und musste ab sechs Uhr morgens am laufenden Band Eier zerschlagen: hunderte und tausende. Dabei war er irgendwann ins Grübeln gekommen. Seine festangestellten Arbeitskollegen dort hielten sich als muntere Frühaufsteher für etwas Besseres als ihn, den meist müden Aushilfsstudenten, der sogar noch eine Viertelstunde früher als sie anfangen mußte. Mit der Verwandlung von Industrie- und Handwerks- in Dienstleistungs-Arbeitsplätze standen die Leute immer später auf. In Friedrichshain gab es 1992 noch kollektiven Widerstand dagegen – im Glühlampenwerk Narva. Dort meinte der neue Geschäftsführer Jesus Comesana: „Wir sind jetzt ein Dienstleistungs und keine Produktionsfirma mit Schichtbetrieb mehr, deswegen fangen wir ab 2003 um neun statt um sechs Uhr an“. Auf einer Betriebsversammlung wurde das abgeschmettert – u.a. mit dem Argument „Ich wohne in Kaulsdorf, dann kann ich ja gleich im Betrieb bleiben und da schlafen.“
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22.
Das Kreuzberger Haus, in dem ich wohne, gehört dem ehemaligen Adjudanten des Wüstenfuchses (Rommel). Und sein damaliger Hiwi ist heute sein Verwalter. Weil sie beide so alt sind, beschäftigen sie aber noch eine dynamische Hausverwaltung, die sie jedoch ständig wechseln. Nur die Mieter bleiben, das heißt, wenn sie sich nicht gelegentlich selber entmieten, indem sie zum Beispiel im Suff mit Zigarette einschlafen und alles in Brand setzen. Das geschah in unserem Seitenflügel schon zweimal. Die dritte Mieterzermürbung bewirkte ein verschlagener Bremer Architekt mit seinen endlosen Renovierungsmaßnahmen. Im Vorderhaus ziehen die Leute dagegen nur aus, um sich wohnumfeldmäßig zu verbessern. Das ist aber auch schlecht: Pakete werden von dort nicht nach hinten ausgehändigt und man grüßt auch nicht. Das ist jedoch eine Binsenweisheit: dass die Elite längst asozial geworden ist – und die Unterschicht allein das Soziale noch trägt. Man stelle sich nur mal Kreuzberg mit ausschließlich Deutschen vor: Es wäre die Hölle. Allein die Türken und ihre Spießigkeit inklusive Moscheen und Männercafés halten das einstmals erkämpfte Soziotop noch einigermaßen intakt. In unserem Hinterhaus samt Seitenflügel und Remise leben vornehmlich Türken. Aber auch wegen Rommel viele Afrikaner – die meine Wohnungsnachbarin übrigens alle für den Mieterbund gewonnen hat.
Eine sammelt alle auf den Hof abgestellten Altmöbel, Teppiche, Vorhänge etc. ein – und füllt damit einen Übersee-Container. Zuletzt wird der noch mit einem Zentner Alt-tazzen ausgestopft – und dann geht es ab nach Ghana, wo die Freundinnen unserer Nachbarin das Zeug wiederaufbereiten und auf dem Markt verkaufen. Die tazzen brauchen sie zum Einwickeln. In der Remise wohnt eine junge Türkin, die leere Einwegfeuerzeuge sammelt – und nach Mexiko-Stadt schickt, wo ein Freund von ihr sich mit einem mobilen Einwegfeuerzeug-Wiederauffüll-Set selbstständig gemacht hat. Vorne gibt es ein kurdisches Café mit Bäckerei, das Herrn Genc gehört, der sich als Gewerbetreibender ungerne mit den Mietern solidarisiert, dafür spielt er unentgeltlich den Hausmeister für alle.
Neulich brauchte ich wegen eines Kabelbrandes einen Elektriker. Herr Genc kannte einen – und der reparierte mir dann auch alles ganz prima. Als ich ihn fragte, was er dafür haben wolle und ob ich eine Quittung bekäme, damit der Hauseigentümer mir das Geld zurückgebe, schickte er mich zu Herrn Genc. Dieser meinte dann: „Das mach ich selber mit dem Eigentümer klar, notfalls ziehe ich es von der Pacht ab.“ „Aber, Herr Genc“, sagte ich, „dass kann ich doch auch machen – es von der Miete abziehen OE“ „Ach, ist schon gut!“ „Wie kann ich das wieder gutmachen?“, fragte ich ihn zuletzt. „Behalten Sie mich in Ihrem Herzen“, antwortete Herr Genc. Tief beeindruckt über so viel Nachbarschaftshilfe schlich ich in meinen Seitenflügel zurück.
Im Gegensatz zu den meisten Berliner Treppenhäusern brauchen wir hier keine subtilen Kenntnisse über Fußmattenmuster, um zu wissen, in welchem Stockwerk man sich gerade befindet, denn in unserem Treppenhaus steht auf jedem Flur ein anderes Möbel: im Hochparterre ein Nähmaschinentischchen, mit einem Faxgerät (statt einer Nähmaschine); im ersten Stock ein Kinderwagen (mit Spielzeug gefüllt); im zweiten Stock ein metallener Couchtisch ohne Glasplatte; im dritten Stock ein modernes Aktenschränkchen (von einer Frau, deren Beziehung auseinander ging und die daraufhin wieder zurück nach Böblingen zog – sie hatte um die Ecke gewohnt: wir wollten ihr ein Schränkchen abnehmen, sie bestand jedoch darauf, uns zwei mitzugeben); im vierten Stock schließlich stehen eine ausrangierte Waschmaschine und ein alter Computer im Flur. Das alles dient der Orientierung, zur Not geht es ab nach Ghana.
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23.
Wenn man vom autonom-islamischen Kreuzberg ins christlich-soziale Prenzlauer Berg kommt, fällt einem als Erstes auf, wie roh dort alles noch ist: von der Kleidung und den Speisen über die Bedienung und den Straßenhandel bis zu den Kneipen und der Gentrification. Es gibt so gut wie keine Telefonierläden in Prenzlauer Berg, in Kreuzberg dagegen an jeder Ecke einen. Zwar hat der Ostbezirk seine Bevölkerung fast komplett ausgetauscht, aber er ist deutsch geblieben, und jeder hat zwei Telefone. Detlef Kuhlbrodt führt das Rohe des Prenzlauer Bergs auf den geringen Ausländeranteil zurück. Es stimmt, das gut durchgekochte Kreuzberg ist den Türken und ihren kulturellen Einrichtungen – von der Familie über die Geschäfte und die Arbeiterclubs bis zu den Religionsvereinen – zu verdanken. Die wenigen Deutschen sind hier zum großen Teil fertig, voller Macken oder eher asozial. Auch die Türken haben ihre rohesten Geschäftsleute nach Prenzlauer Berg abgeschoben. Wer ihre Läden in Kreuzberg frequentiert, dem kommen die Tränen im Osten. Selbst die einfachsten Dönerbuden sind dort Verbrechen am Schaf und am Kunden. Aber gegenüber dem McDonald’s-, Großkino-, Allee-Arcaden- und Kulturbrauerei-mit-Bayernlokal-Publikum auf der Schönhauser Allee wirkt selbst der Fixertreffpunkt am Kottbusser Tor wie ein Intelligenzler- und Gourmettreffen. Und das ist er auch.
Vor allem leidet Prenzlauer Berg unter seinen neuen westdeutschen Eigentümern, die bei ihren Hausrenovierungen mit jedem Kamelhaarpinselstrich „ein Stück Sozialkultur“ (Habermas) ausradierten. Mühsam versuchen jetzt die neu zugezogenen Jungmütter auf den Bänken der Kinderspielplätze aus diesen Ruinen wieder etwas (demokratisch) Neues aufzubauen – beim privaten Erziehungskombinat „Klax“ ist es ihnen schon fast gelungen. In Kreuzberg kämpfen solche „Initiativen“ seit über 35 Jahren, und das nicht nur – wie die BI Oderbergerstraße – an einer Ecke. Und wenn auch die schlimmsten Karrieristen und Dachgeschosslumpen mehrmals über die Militanten siegten, entweder zogen sie dann in bessere Viertel, oder sie kamen ebenfalls herunter – auf Sozialhilfeniveau bzw. Kleinkriminalität. Nur einige wenige ganz Ausgekochte haben sich gehalten – wie etwa die Betreiberin des „Blockschock“: mit einem selbst finanzierten Eintrag im „Who’s who“ oder dem einst stadtbekannten Model – mit lauter „Fotografieren verboten“-Schildern an den Fenstern. Im Prenzlauer Berg sind dagegen selbst die Promis gemein und roh: Günter Grass im Pasternak, Bill Clinton im Gugelhof, Minister Trittin in der U 2.
In Kreuzberg werden nicht nur etliche Irre von den türkischen Händlern mit durchgefüttert, auch die Bettler machen sich dort einen Namen und besetzen einen Stammplatz, in Prenzlauer Berg können solche Leute dagegen jahrelang wirken, ohne wahrgenommen zu werden – außer von den Bullen. Das hängt dort natürlich mit dieser irssinigen Masse an lebensgeilen jungen Menschen in modischen Klamotten zusammen. Es gibt in Prenzlberg junge Frauen, die nur für ihre Tattoos, Piercings, Fitness- und Solariumsbesuche anschaffen gehen. Selbst 42-jährige Mütter, die von ihren Ehemännern ausgehalten werden, sind hier so stolz auf ihre Erscheinung und den Ort ihrer Selbstverwirklichung (auf dem Ökomarkt am Kollwitzplatz z. B.), dass jeder Provinztourist und jeder Eingeborene sofort denkt: Sie haben den Schlüssel zum Glück gefunden. Dabei führen sie nur die allergewöhnlichste Öko-Prénatal-Existenz vor – und zurück.
Die Öffnung der Mauer hat es Kreuzberg leicht gemacht: Die widerlichsten und angepasstesten Deutschen haben sofort das Viertel verlassen – und sind nach Prenzlauer Berg gezogen. Zusammen mit den neuen Hausbesitzern bilden diese Westweicher dort nun ein „internationales Flair“ aus, das sich gewaschen hat. Die Buchhandelskette Thalia hat gerade nach Übernahme von Kiepert in den Allee Arcaden das Sortiment um 40 (von 100) Intelligenzpunkten gesenkt – und der Laden flutscht! Ähnliches versucht man jetzt leider auch in Kreuzberg: Dort hat der Immobilienentwickler und -verwalter, Wertkonzept-Müller, an der Schlesischen Straße den Bau der zukünftigen Spree-Arcaden an sich gerissen. Aber er wird scheitern! Stattdessen entsteht daraus eine weitere schöne Moschee. So wird hier jedenfalls quartiersmanagementmäßig gewettet.
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24.
Das Gebiet zwischen Mariannenplatz und Köpenicker Straße war bis Ende 1989 eine Idylle „im Schatten der Mauer“ gewesen: Künstlerhaus Bethanien, Georg- von-Rauch-Haus mit Wohnwagen drumherum, die Thomaskirche und dahinter zwei Schrebergärten mit einem zweistöckigen Bethaus und drei Bäumen auf einer ehemaligen Verkehrsinsel, wo Osman Kalin und Mustafa Akyol mit ihren Frauen und Kindern Sonnenblumen und Gemüse anbauen. Sie wohnen im letzten stehengebliebenen Haus dahinter. Kalin ist schon 1944 – „als Verbündeter“ – nach Deutschland gekommen. Ihre Gärten befinden sich im Westen, stehen aber auf DDR-Gebiet. Deswegen hat niemand vom Tiefbauamt oder von der Polizei dort etwas zu sagen gehabt, und die Grenzoffiziere ihnen die Gartenanlage sogar ausdrücklich erlaubt. Die Nachbarn stiften später Zaunmaterial.
Nach der Wiedervereinigung rücken ihnen jedoch Planer und Tiefbauamtsleiter aus Mitte auf die Pelle. Der Kreuzberger Bürgermeister hält zwar schützend seine Hand über die „Öko-Laube“, aber er hat dort bald nichts mehr zu sagen. Die Mauer ist verschwunden und der gleich dahinter verlaufende Luisenstädtische Kanal, der als Todesstreifen zugeschüttet war, soll mit ABM und enormen Sachmitteln (wieder) zu einer Lennéschen Promenade rückgebaut werden. Der Pastor der Thomasgemeinde, wo man mangels Gläubigen bereits darüber nachgedacht hat, sich das inzwischen renovierte Kirchenschiff mit einer islamischen Gemeinde zu teilen, verhindert zweimal eine Räumung der Schrebergärten. Dann geht jedoch den Kanalplanern gottlob! das Geld aus, und es kehrt erst einmal wieder Ruhe ein.
Inzwischen hat der Innensenator aber die Rollheimer-Siedlungen auf dem Kanalmittelteil „Engelbecken“ und dann auch auf der anderen Spreeseite an der „East Side Gallery“ räumen lassen. Ein Teil dieser Wagenburg verlagerte sich daraufhin an den Bethaniendamm auf den imaginär gewordenen Mauerstreifen zwischen Kinderbauernhof, Rauch-Haus und den zwei türkischen Gemüsegärten. Auch diese Siedlung wird schließlich mit schwerem polizeilichen Räumgerät auseinandergetrieben … All diese gewalttätigen Auseinandersetzungen rund um ihr „Paradies“ lassen Osman Kalin und Mustafa Akyol nicht kalt. Das Ehepaar Kalin verkauft seine Zwiebeln auf dem Markt am Maybachufer. Irgendwann verrücken sie den Zaun zwischen den beiden Gärten um einige Meter, so daß sich ihr Land auf Kosten von Akyols Anbaufläche vergrößert. Der quasi interne Streit darüber gefährdet das Biotop der beiden Türken nun zusätzlich. Vielleicht wollten sie damit aber auch nur die ganzen Konflikte um sie herum wieder zu ihrer eigenen Angelegenheit – zwischen zwei Grundstücksbesitzerfamilien – machen?
Der Film „Was man so sein eigen nennt“ von Harms und Winkelkotte beantwortet diese Frage nicht, obwohl er sonst vor philosophischen Erörterungen – z.B. der Frage, was permanentes Glück und flüchtiges Eigentum überhaupt sind – nicht zurückscheut.
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25.
Kürzlich war ich an einem Sonntag mit meinem Freund Andersan auf einer Einzugsparty im Grunewald. Es war schon fast hell, als wir nach Hause gingen. Vor einer schönen Villa mit Garten blieben wir stehen. „Friede den Palästen, Krieg den Hütten“, murmelte ich. Da trat ein dicker Mann mit Mülltüten aus dem Haus. „Was suchen Sie hier?“, fragte er uns. Der immer noch angetrunkene Andersan antwortete: „Wir kommen aus Kreuzberg und kucken uns nur um!“ Dann – nach einer Pause: „Wenn das hier alles enteignet wird, dann brauchen wir ein Haus für die Kinder, und dies ist nicht schlecht!“ – „Sind Sie betrunken?“, fauchte der Mann. „Nein“, sagte Andersan, „aber sagen Sie, gibt es hinten auch noch einen Garten?“ – „Wenn Sie nicht gleich verschwinden, hole ich die Polizei!“, schrie der Mann.
Auf den Nachbargrundstücken tauchten prompt einige Leute auf und kamen neugierig-feindselig näher. „Ja, wenn Sie so leicht erregbar sind, können wir Sie nicht brauchen, ich dachte erst, Sie könnten hier dann Reparaturen durchführen und ein bisschen den Hausmeister spielen,“ meinte Andersan beleidigt – und zu mir gewandt sagte er dann: „Komm, wir gehen, aber schreib auf – 10 bis 12 Zimmer!“ Kaum waren wir um die Ecke, da fuhr auch schon ein Polizeiwagen langsam an uns vorbei. An der nächsten Ecke kam ein zweiter – uns entgegen. Dieser hielt an und man fragte uns, wo wir hinwollten: Zur S-Bahn – wir durften weiter gehen. Am Bahnhof stand aber schon der andere Polizeiwagen.
In der S-Bahn fiel mir ein, dass die Initiative Bankenskandal von Peter Grottian im Herbst einen „Grunewaldspaziergang“ durchgeführt hatte, wobei den Teilnehmern angesichts der vielen Villen sofort ähnliche Umnutzungsideen eingefallen waren. Und der Redebeitrag der Sprecherin vom „Autonomen Mädchenhaus“, dem man gerade die finanzielle Förderung gestrichen hatte, begann mit dem Büchner-Satz: „Friede den Hütten, Krieg den Palästen!“ Wir beide waren aber gar nicht dabei gewesen, ich hatte nur davon gehört oder gelesen. Wahrscheinlich im Internet. Oder reichte es bereits, wenn 10.000 Leute die Rede anklickten, dass man es dann automatisch auch wusste?
Andersan meinte sich erinnern zu können, dass Lenin der Münchner Räterepublik 1919 einmal ein Telegramm geschickt hatte, in dem er sie an „das Wichtigste“ erinnerte: sofort die Bürgervillen beschlagnahmen und sie obdachlosen bzw. in allzu beengten Wohnverhältnissen lebenden Proletariern zuweisen. Das Telegramm von Lenin endete mit den Worten: „Friede den Hütten, Krieg den Palästen!“ Es erreichte die Münchner Genossen jedoch nicht mehr: Die Reaktion hatte die Räteregierung bereits verjagt und ihre Mitglieder erschossen. „Das Telegramm wurde erst ein paar Jahre später bekannt und dann so berühmt, dass viele der Meinung waren, der Büchnersatz stamme von Lenin.“
Nach diesem Grunewalderlebnis mit Andersan traf ich am Abend im PDS-Buchladen am Rosa-Luxemburg-Platz den Altgenossen Sirius, dem ich gleich davon erzählte. Er war mäßig beeindruckt und meinte dann: „Was ihr aus Kreuzberg da angeblich im Grunewald erlebt habt, das ist ein alter Hut, aber von zwei Weddingern – und die haben den Grunewaldspaziergang nicht spontan gemacht, sondern geplant. Das stand schon 1930 oder so in der Roten Fahne, wo die bei den Lesern damals so gut angekommen ist, dass die DDR die Geschichte später in einen Sammelband mit aufgenommen hat. Ich habe leider vergessen, wie der hieß.“ Diese Auskunft ließ mir keine Ruhe. Bereits am nächsten Tag fand ich den Text im Antiquariat Zossener Straße: „Wir sind die Rote Garde“ (Band 1 und 2). Den hatte Kurt Held – alias Kurt Kleber – 1931 veröffentlicht und er hieß: „Perlemann geht in den Grunewald“. Da geht die Geschichte dann jedoch so weiter, dass die beiden Spaziergänger aus dem Wedding von einem Polizisten mit Fahrrad bis zum S-Bahnhof Grunewald begleitet werden, unterwegs beschimpfen die Anwohner sie als „freches Proletenpack“. Und Perlemann meinte zum Schluss: „Wirklich eine herrliche Gegend, ganz so, wie wir sie brauchen!“
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26.
Herr Karasahin sitzt an der Theke des Cafés Advena in der Wiener Straße und trinkt einen heißen Zitronensaft mit Honig. Er ist Rentner, die meiste Zeit des Jahres lebt er in Istanbul, in einer Wohnung mit Garten am Bosporus, nur Mai und Juni verbringt er in einem Sommerhäuschen in Antalya. Wenn er in Berlin ist, wohnt er in der Forster Straße – in einer Wohnung, die er 1969 anmietete. Feti Karasahin wurde 1942 in einem Dorf in der Osttürkei geboren. Bereits als Kind musste er schwer arbeiten: „Erst Holz aus dem Wald schleppen und später für die Männer einer Zementfabrik Wasser holen.“
1960 bekam er eine reguläre Arbeit auf einer Baustelle, danach musste er zum Militär. 1966 stellte er sich in Istanbul einer deutschen Musterkommission, um sich als Gastarbeiter in der BRD zu verdingen. Die Ärzte bemängelten seine starke Sehschwäche – aber er hatte damals noch kein Geld für eine Brille. Auf dem Frankfurter Flughafen begrüßte man ihn mit Blumen. Seine erste Arbeitsstelle bekam er bei einer hessischen Baufirma: „Deren Baustellen waren manchmal so klein, dass wir nicht mal eine Zementmischmaschine hatten und alles mit der Hand machen mussten.“
1968 kam er nach Westberlin: „Es war ein harter Winter mit viel Schnee, wir haben oft Schlechtwetter gemacht.“ Seine Arbeitsstelle war zunächst ein Brückenbau für die Stadtautobahn am Jakob-Kaiser-Platz. In dem Wohnheim am Kurt-Schumacher-Platz blieb er drei Monate, dann fand er in der Forster Straße 18 eine Wohnung. Sie war stark heruntergekommen, stank und hatte eine Außentoilette, außerdem wohnte im vorderen Zimmer noch eine zuckerkranke alte Frau aus der DDR. Herr Karasahin renovierte erst einmal zusammen mit seinem Bruder. Der wegen der neuen türkischen Mieter verängstigten Nachbarin erklärte er: „Ich bin auch ein Mensch, habe auch eine Mutter. Du kannst nicht sagen, die Türken haben alle ein Messer. Hab also keine Angst!“
Seiner kranken Mitbewohnerin half er beim Einkaufen, außerdem brachte er sie mehrmals ins Krankenhaus, wo er und sein Bruder sie auch mit Blumen besuchten. Ein nervenkranker Mitpatient im selben Zimmer meinte: „Ich spring noch aus dem Fenster – ich habe sieben Kinder, bekomme aber nie Besuch, und diese Frau ist allein, wird jedoch laufend von Türken besucht.“ Die Forster Straße war Anfang der Siebzigerjahre eine dunkle, heruntergekommene Straße: Auf der rechten Seite – zwischen Reichenberger und Paul-Lincke-Ufer – wohnten Ausländer und auf der linken Deutsche: zumeist solche, die aus alkoholischen und/oder polizeilichen Gründen den Absprung nach Westdeutschland nicht geschafft hatten. Ende der Siebzigerjahre fing die Stadt an, die Häuser langsam zu entmieten.
Die Forster Straße 17 und 16 wurden daraufhin besetzt: „Meine ältere Schwester ist dann da mit eingezogen. In der 17 hatte noch Herr Baumgart ein Fotogeschäft. Er hat alle Bilder von den Hochzeiten meiner Kinder gemacht.“ 1970 ließ Feti Karasahin seine Frau Ipek nachkommen. Drei ihrer Kinder, die Tochter Birgül und die Söhne Ismail und Ali, blieben erst mal in der Türkei – bei Verwandten. 1973 wurde ihre Tochter Sengül in Berlin geboren,1975 der Sohn Bülent – im Urbankrankenhaus. Kurz danach holten die Eltern Ismail und Ali nach Berlin. Mit ihnen gab es Schulprobleme: Herr Karasahin hatte den Schulsenat gebeten, ihnen Schulplätze zur Verfügung zu stellen, aber nur Ismail bekam einen, Ali nicht: „Er musste zu Hause bleiben und hat geweint. Wir bekamen zu hören, dass die Türken ihre Kinder nicht zur Schule schicken – und sollten dafür Strafe zahlen. Da habe ich dem Minister für Erziehung in Ankara geschrieben. Eine Woche später hatte Ali einen Schulplatz – in Istanbul.“
Ali blieb bis zum Abitur 1986 in Istanbul, dann kam er nach Berlin, um zu studieren. Sein Vater hatte 1982 aufgehört zu arbeiten und war Frührentner geworden, nachdem er sich dreimal einen Leistenbruch zugezogen hatte – zuletzt auf einer Baustelle in der Spichernstraße: „Im Sommer haben wir wie die Ochsen gearbeitet und geschwitzt. Ein Kasten Bier für vier Mann, der war in einer Stunde leer.“ Seine Frau Ipek arbeitete noch bis 1984 – bei bei DeTeWe in Kreuzberg. Es war eine schwere Arbeit – und außerdem giftig: „Als sie nach 14 Jahren, 1984, dort aufhörte, hatte sie chronisches Asthma.“ Seitdem er Rentner ist, pflegt Herr Karasahin in seinem Garten die Blumen und Obstbäume und geht in Antalya im Sommer täglich schwimmen. Seine Rente ist so niedrig, dass er z. B. keinen Krankenhausaufenthalt davon bezahlen könnte: In den letzten 18 Jahren war er deswegen nicht mehr beim Arzt. Seine Frau muss sich jedoch regelmäßig behandeln lassen. Dazu fliegt sie nach Berlin. Obwohl das Klima in der Türkei für sie besser ist als in Deutschland, musste sie anfangs wegen ihrer Krankheit, deren Behandlung sehr teuer ist, in Berlin bleiben. Anfangs hat Herr Karasahin deshalb in Istanbul alleine gelebt.
„Für ein dreimonatiges Einreisevisum muss ich jedesmal 50 Euro zahlen und zweimal anderthalb Tage vor dem Konsulat warten. Seit 1985 bin ich nur fünfmal hier gewesen, meine Frau kommt aber jedes Jahr. Mit ihrer deutschen Staatsangehörigkeit ist es einfacher“, sagt er. Ihre Kinder sind inzwischen verheiratet, bis auf Sengül und Bülent. Die älteste Tochter Birgül ist Kindergärtnerin geworden, Sengül Technische Assistentin in Metallografie, und der älteste Sohn Ismail hat Restaurantfachmann gelernt. Bülent und Ali haben studiert: der eine Wirtschafts- und der andere Ingenieurwissenschaft. Bülent arbeitet jetzt als Unternehmensberater und Ali betreibt ein Café. „Es war immer mein größtes Ziel, dass unsere fünf Kinder eine anständige Ausbildung bekommen. Und das haben wir auch geschafft“, sagt Herr Karasahin.
„Ob es mir in Berlin oder in Istanbul besser gefällt? Die Menschen sind überall gut. Nur das Kapital hetzt sie aufeinander. Ich bin Alevit. Für die Türkei ist die alevitische Kultur sehr wichtig: Ohne sie gäbe es dort weder Touristen noch Alkohol. In Berlin gibt es erst seit 1990 einen alevitischen Kulturverein. Sie haben seit einigen Jahren ein eigenes Zentrum in der Kreuzberger Waldemarstraße – von den Zeugen Jehovas übernommen. Ich war auch schon ein paar Mal da, obwohl wir in unserer Familie alle nicht gläubig sind. Die Wohnung in der Forster Straße 18 hat mein Sohn Ismail übernommen, da wohn ich nun auch, jedes Mal, wenn ich in Berlin bin.
Abends sitz ich dann im Café „Advena“ meines Sohnes Ali und trinke einen Tee mit Honig.“ Bülent ist – ebenso wie die anderen Söhne und Töchter – dem Vater dankbar dafür, dass er allen Kindern eine Ausbildung ermöglichte: „Dieser einfache Mann aus Ostanatolien und ohne Bildung hat dafür sein ganzes Leben lang geschuftet. Er könnte stolz auf uns sein, zeigt seine Gefühle jedoch nicht, aber wir Kinder wissen, dass er uns in seinem Herzen trägt.“
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27.
„Kam’n rin, hoben die Fäuste und schrien: ,Free Bommi Now!‘ “ – Damit war der eingeknastete Bommi Baumann gemeint. „Det war der Blues!“, erklärte Peter Paul Zahl, der zuletzt in Berlin die Anarchozeitung Fizz herausgab. Der Blues hatte Ende der 60er einen „Zentralrat“ – „der umherschweifenden Haschrebellen“ genannt -, zu dem Bodo Saggel gehörte: „Mit unserer vom Dope erhellten Intelligenz heckten wir so manche Streiche aus“, schrieb der 1998 in einer Neuauflage seines Buchs „Der Antijurist“ über seine Haschrebellenzeit. Damals propagierten sie unter anderem das „kostenlose Leben“ in Berlin – durch Ladendiebstähle etc. – und riefen in Flugblättern alle ähnlich Gesinnten Europas dazu auf, aus der Frontstadt eine einzige „Subkultur“ zu machen: „Alle Berliner werden Berlin verlassen! Von uns abgeschreckt in die Provinzen ziehen und letztlich uns Berlin überlassen!“
Es kam dann jedoch genau andersrum: Längst haben die letzten Langhaarigen die Stadt verlassen. Heiligabend raffte es auch den Unbeugsamen Bodo Saggel hinweg. Er wurde 65 Jahre alt. Sein Freund Günter Langer, der jetzt bei seiner neuen Freundin in Florida lebt, berichtete auf Partisan.Net, dass es Saggel in der Kneipe Puttchen plötzlich vom Barhocker riss. Bodo Saggel stammte aus Essen, wo er bereits als Jugendlicher Zugang zur kriminellen Szene gefunden und insgesamt 10 Jahre im Gefängnis gesessen hatte. Wieder draußen, besorgte er sich 1968 erst mal den damals noch linksliberalen Spiegel mit einem Foto von Rudi Dutschke auf dem Cover. Innen drin stand dessen Adresse: das SDS-Haus am Kurfürstendamm in Berlin. Saggel fuhr sofort hin und wurde der „Ersatzproletarier des SDS“.
Und dieser Proletarier bei den sozialistischen Studenten war nicht von Pappe: Erst mal verarbeitete er seine langjährigen Justiz- und Knasterfahrungen zu dem bereits erwähnten Buch „Der Antijurist – oder die Kriminalität der schwarzen Roben“, das er dann mit SDS-Hilfe druckte und selbst verkaufte: meist vor Hochschulen, was jedes Mal mit Agitation und „Hasch-ins“ verbunden war. Klaus Eschen vom sozialistischen Anwaltskollektiv hatte ein Vorwort dazu beigesteuert. 1969 warb Saggel für seine Antijuristenkampagne gar mit einem Teach-in im Audimax der TU – und zwar ganz allein. Das war ziemlich beeindruckend. Erst 1996, als er mich bat, wegen des 25 Jahre zuvor von Polizisten erschossenen Georg von Rauch in der taz noch einmal an die Haschrebellen zu erinnern, erfuhr ich, dass er das Teach-in eigentlich zusammen mit Bommi Baumann und Manfred Grashoff bestreiten wollte: „Aber beide erschienen dann nicht, so dass ich alleine über die ,Hure Justiz‘ sprechen musste“. Überhaupt hätte der gesamte „Zentralrat der umherschweifenden Haschrebellen“ in ein Auto reingepasst. Und das gehörte damals dem Vater von Günter Langer.
Dieser wiederum berichtete zusammen mit Bommi Baumann auf der „SDS-Website“ über Bobo Saggel: Er habe damals Freundschaft mit dem alten Genossen Erich Langer geschlossen, „der einen Ein-Mann-Fuhrbetrieb besaß und Hilfe brauchte. Das ungleiche Paar arbeitete jahrelang zusammen: Erich organisierte die Fuhren und Bodo schippte die Kohlen, die Schlacke oder was es sonst gab. Irgendwann hatte Bodo jedoch genug von Berlin. Er zog sich zurück aufs Land, kaufte sich ein Haus in Lüchow-Dannenberg. Jetzt ist er aber wieder in Berlin, in Kreuzberg, quicklebendig wie eh und je.“ Das war 1999. Dazwischen bereiste Saggel auch noch – mit dem Verkaufserlös seines Wendland-Hauses – alle fünf Kontinente. Günter Langer schrieb einen ersten Nachruf. Darin heißt es, dass Bodo Saggel heute, am 3. Februar, auf dem Alten Luisenstädtischen Friedhof in Kreuzberg – am Südstern – beerdigt wird, pünktlich um 9.15 Uhr. Ich füge hinzu: Im Anschluss daran findet im Puttchen in der Obentrautstraße 70 noch eine kleine Trauerfeier statt.
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28.
Wie viele taz-Frauen schon an Krebs gestorben sind, weiß ich nicht, aber es hat bereits eine höhere Merkwürdigkeit. Im Januar beerdigten wir auf dem Kreuzberger Südstern-Friedhof Regine Walther-Lehmann. Ende der achtziger Jahre war sie Medien-Redakteurin gewesen. Weil sie es nicht bedauern wollte, eine Disco-Rezension von Thomas Kapielski, in der das Wort „gaskammervoll“ vorkam, abgedruckt zu haben, mußte sie derzeit, zusammen mit Sabine Vogel, die taz verlassen. Regines Redaktions-Vorgängerin, die inzwischen ebenfalls an Krebs gestorbene Ulrike Kowalsky, organisierte daraufhin ein Bühnenprogramm im Kino „Eiszeit“ für sie. Einige der daran mitwirkenden Männer gründeten später die „Höhnende Wochenschau“, aus der etliche Berliner Bühnen-Kollektive hervorgegangen sind. Von Thomas Kapielski, derzeit mit einer Kunst-Professur gesegnet, erschien soeben der zweite Merve-Band – zum Thema „Gottesbeweise“.
Der Autor kommt darin erstmalig auch auf seinen taz- Skandal zu sprechen, der seltsamerweise Wiglaf Droste berühmt machte. Zurück zu Regines Beerdigung: Weil speziell in der Single-Hochburg Berlin die Bestattungsrituale nicht mehr festliegen, und auch die diesbezüglichen Institute relativ locker geworden sind (Ilona Petersen wurde neulich z.B. von einer lesbischen Camp-Bestatterin „betreut“ und die Sargrede hielt jemand vom Stammtisch ihres Mannes – derüber weiter unten) – ist dem „Anything Goes“ Tür und Tor geöffnet. Regines Mann Achim und Rosa, ihre studierende Tochter, entschieden sich für die ganze Spannbreite: Zuerst lasen sie einige Texte von Regine vor, dann trug ein Freund ein Gedicht von Hilde Domin vor und betete anschließend das Vaterunser, das „wer vermag“ mitbeten konnte. Zum Abschluß erklang eine Orgel – kein Walzer, wie bei Ilona – normale Trauermusik. Da es meine erste Urnenbeerdigung war, bedrückte mich zunächst die Kleinheit von Regines Grab. Überhaupt war ich die ganze Zeit mit Formproblemen beschäftigt. Schließlich malte ich mir sogar eine ständige Kolumne über Berliner Beerdigungsriten aus – im Stil von Theaterrezensionen. Dazu trug bei, daß ich am Friedhofseingang eine Tafel mit dem täglichen Spielplan dieser Anlage entdeckt hatte. Regines Name stand auch drauf. Wie ich dann aus den Grabreden erfuhr, war sie 1972 Regieassistentin in der Neuen Volksbühne gewesen. Nach der taz arbeitete sie einige Zeit als Redakteurin bei „Radio 100“. Im Osten hatte sie es bis zur Jungpionierin gebracht, seit sie im Westen lebte, forschte sie immer wieder gern über DDR- Themen. 1994 unternahm sie eine umfangreiche Recherche über das Ost-Ampelmännchen. Danach war sie organisatorisch für einen Germanisten-Kongreß im Schloß Rheinsberg tätig. Auf dem Kongreß wurde Ulrike Kowalskys Freund , Wiglaf Droste, der 1989 ebenfalls aus Solidarität mit Sabine Vogel und Regine Walther-Lehmann die taz verlassen hatte, von den anwesenden Germanisten zum kontemporären Tucholsky gekürt. – Im Tagesspiegel berichtete jetzt gleichzeitig ein freiwillig aus der taz ausgeschiedener Redakteur über die Trara-Beerdigung des Berliner „Currywurst- Königs“. Ja, das Leben kann manchmal grausam sein!
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29.
Zuvor hatten wir auf dem Friedhof am Südstern bereits Ilona beerdigt – die Frau des Satanisten-Galeristen Jes Petersen, der gerade wegen Rauschgift im Knast sitzt, aber dort – immerhin – schlank, gesund und schön geworden ist. Jes ist – Jahrgang 1936 – 25 Jahre jünger als die 1910 geborene Ilona. Sie war bereits zweimal verheiratet gewesen, als sie ihn 1961 in Flensburg kennenlernte. Damals hatte der schleswig-holsteinische Landwirtssohn gerade mit Franz Jung zusammen den Sex-Pol-Verlag Petersenpress gegründet. Und Ilona hatte angefangen, bei der Grotesktänzerin Valeska Gert – in deren Berliner „Hexenküche“ sowie im Sylter „Ziegenstall“ – Tanz zu studieren. Sie war ihrem „Hang zur leichten Muse“ gefolgt, wie ihr Beerdigungsredner, der Theologe und Antiquar Bernd Gärtner, das auf dem Friedhof am Südstern ausdrückte. Er sehe seine Aufgabe – bei diesem letzten Freundschaftsdienst – im übrigen nicht darin, die Trauer (der Verwandten und Freunde) zu verstärken, so sagte er. Zumal die Verstorbene „in der Summe ein gutes Leben“ hatte.
Ilona „war immer von strahlender Eleganz, eine Dame, meist ganz hell oder in leuchtendem Grün bzw. Rot angezogen“. In den fast fünfzig Jahren ihrer Ehe hatte Jes ihr täglich frische Blumen hingestellt, und wenn sie ihn drängte, etwas zu erledigen, hatte er – im Chor seiner Freunde, mit denen er meist im Vorderzimmer seiner Galerie zusammensaß – geantwortet: „Ja, Ilona!“ Während er mit Schröder-Sonnenstern und später Oskar Huth herumzog, arbeitete Ilona mit Wolfgang Neuss: im Keller des Hauses am Lützowplatz. Eine Zeitlang konnten sie es sich mit Jes‘ Gutshoferbschaft leisten zu verreisen – und tourten durch Südamerika. Zwar mischte Ilona sich nicht in den „chaotischen Galeriebetrieb“ ein, aber „sie war stets dabei, wenn es abends was zu feiern galt“.
Das Bemerkenswerte daran war, daß „auch die wildesten Künstlergestalten ihr gegenüber immer die Contenance bewahrten“. So gesehen, lebte das Ehepaar Petersen relativ ausbalanciert durch die Zeitläufte: „Sie gingen zusammen durch dick und dünn – allen Unkenrufen zum Trotz!“ Die Petersenpress wurde inzwischen wiederbelebt: Mit der Zeitschrift Sklavenaufstand des Schriftstellers Wolfram Kempe und mit den Basisdruck-Editionen von Andreas Hansen, die dann auch – als Abordnung Ost quasi – bei der Beerdigung und der anschließenden Trauerfeier im „Zwiebelfisch“ am Savignyplatz – der letzten Stammkneipe von Oskar Huth, über den dort auch ein Buch verkauft wird – dabei war.
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30.
Auf dem „Türkisch-Europäischen Kulturfest“ vor dem Brandenburger Tor, das sich dort wohl bald als EU-Love-Parade etablieren wird, trat neben zig berühmten türkischen Sängern, Eurovision-Song-Contest-Teilnehmern und DJs auch die „Türkische Folklore Gemeinschaft e. V.“ aus Kreuzberg auf – mit mehreren Jugendtanzgruppen. Begleitet wurde ihre Aufführung von einem Kemence-, d. h. Kniegeigen-Spieler. Zwei Wochen zuvor hatte ich dieses Tanz-Ensemble bereits in seinen Vereinsräumen in der Wrangelstraße 22 besucht. Das geschah anlässlich des Muttertags, der auch ein türkischer Feiertag ist (ebenso wie der Internationale Frauentag). Da wurde dort unter den erwachsenen Vereinsmitgliedern die „Mutter des Jahres“ geehrt und es fand ein großes Fest statt.
Aus diesem Anlass waren außerdem eine Vertreterin des Integrationsbeauftragten des Senats, die Frau des türkischen Generalkonsuls in Berlin, ferner ein Kamerateam von TRT und zwei Lokalreporter von Hürriyet erschienen. Mich hatte der Vereinsvorsitzende Muzaffer Topal eingeladen – als sein Nachbar und taz-Journalist. Der 1966 in Akcaabat geborene Volkstanzlehrer kam 1981 nach Berlin, wo er sich zunächst zum Elektrogerätemechaniker ausbilden ließ und im Fernstudium Volkswirtschaft studierte. 15 Jahre arbeitete er dann als Qualitätskontrolleur bei einer Neuköllner Elektrofirma, wo er außerdem 12 Jahre lang als Betriebsratsvorsitzender tätig war. 2002 wurde seine Firma jedoch von einem westdeutschen Konzern aufgekauft und der Standort Neukölln überraschend dichtgemacht. Muzaffer Topal entließ man in die Arbeitslosigkeit. Die „Türkische Folklore Gemeinschaft“ hatte er bereits 1986 gegründet.
Der Verein hat heute 40 erwachsene Mitglieder, und seine Räume in der Wrangelstraße werden von etwa 60 Kindern und Jugendlichen zwischen 6 und 25 Jahren genutzt. Sie können dort neben dem Einstudieren von Volkstänzen in traditionellen Kostümen auch noch Schach und Tischtennis spielen sowie im Chor singen und sich mit Musikinstrumenten wie der Saz vertraut machen. Die Folkloregruppen des Vereins treten inzwischen nicht nur in Berlin, sondern auch in vielen anderen Orten auf – seltsamerweise öfter in Ost- als in Westdeutschland: bisher in Leipzig, Dresden, Neuruppin, Storkow, Freiberg, Frankfurt (Oder), Bonn und Kaufbeuren. Muzaffer Topal ist neben seiner Vereinstätigkeit seit 1994 auch noch Mitglied der CDU, für die er vier Jahre im Ausländerbeirat des Bezirks Kreuzberg saß. Nachdem sich der Ortsverband Görlitzer Bahnhof auflöste, arbeitet er nun in der CDU-Ortsgruppe Innsbrucker Platz mit. 1995 heiratete er, im vergangenen Jahr bekam seine Frau ihr erstes Kind.
Seit er arbeitslos ist, hat er zwar mehr Zeit, sich der „ehrenamtlichen Jugendarbeit“ zu widmen, aber das ist keine Dauerlösung. Gelegentlich springt er noch als Aushilfskraft in der Bäckerei seines Cousins ein, er sucht jedoch einen neuen Job in seinem erlernten Beruf. Sein Folklore-Verein wurde und wird von den CDU-Politikerinnen Renate Laurien und Barbara John aktiv unterstützt, dennoch sollte ihm Anfang des Jahres die staatliche Förderung gestrichen werden. Es gelang dem Integrationsbeauftragten des Senats jedoch, diesen Beschluss wieder rückgängig zu machen – trotzdem musste der Verein dann eine Kürzung von 1.000 Euro hinnehmen: „Aber was soll man machen? Überall wird das Geld knapper“, meinte Muzaffer Topal. Ich nickte betrübt, denn auch mir hat die taz gerade meinen Honorar-Dispo reduziert.
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31.
Als ich zuletzt Olga, die ukrainische Putzfrau eines befreundeten „Spiegel TV“-Journalisten, heiraten sollte und wollte, begab ich mich mit meiner Zukünftigen aufs Standesamt Friedrichshain/Kreuzberg: Dort warteten ausschließlich Mischpärchen darauf, abgefertigt zu werden – mit einer handgeschriebenen Nummer auf dem Schoß, die sie unentwegt anstarrten. Nr. 17, eine Iranerin, sagte zum Informationsfräulein, das erst mal alle „Kunden“ auf die einzelnen Standesbeamten verteilt: „Ich will heiraten, weiß aber noch nicht wen.“ Ehrlich währt hier jedoch nicht am längsten!
Die Standesbeamte sind bei Verdacht einer Scheinehe zur Denunziation angehalten. Nr. 12, eine Weißrussin, die mit einem Weddinger angetanzt war, sagte: „Wir müssen uns beeilen, ich bin schon im 6. Monat schwanger.“ Ungerührt fragte das Informationsfräulein zurück: „Und haben Sie sich schon entschieden – mit der Musik und so?!“ An den Flurwänden hing Reklame – von Firmen, die Hochzeitsfotos, -ringe und -kleider verkaufen, im Wartesaal, der wie ein Wickelraum wirkte, lagen Hochzeitsauto-Kataloge.
Eine philippinische Braut, Nr. 9, entschied sich für einen weißen Omega, aber ihr Neuköllner Alphamännchen winkte sofort ab: „Entweder einen Ford oder deine zwei Kinder herholen – beides ist nicht drin!“ Die Nummern 27 und 28 hielten zwei Jamaikaner, die ihre Blondinen in der Karibik-Disko am Zoo kennen gelernt hatten, wo sie auch ihre Hochzeit feiern wollten. Sie waren sich nur noch nicht einig, welchen DJ sie dafür anheuern sollten – über den Musikstreit überhörten sie fast den Aufruf ihres Standesbeamten. Auch die Nr. 29 war nicht ganz bei der Sache: Ein Sinologe, der sich natürlich – aus Berufsgründen – eine Chinesin geangelt hatte oder umgekehrt. Zwar war er einverstanden, ihre Großfamilie zur Hochzeit nach Berlin einzuladen, aber diese ganze peinlich-peinigende Prozedur mit x Dokumenten, ISO-Norm-Übersetzungen und -Beglaubigungen war ihm nun zu „prollig“. Seine Braut verstand ihn nicht und blätterte verzweifelt im Mandarin-deutschen Wörterbuch nach, fand das Schimpfwort aber nicht. Das ließ nun wieder ihn verzweifeln – nämlich an der Distinktionsfähigkeit seiner Zukünftigen. Ich machte mich ämternützlich und wies eine Bulgarin darauf hin, dass sie sich eine Nummer vom Haken nehmen müsse. Als die Nr. 28 aufgerufen wurde, meinte sie beleidigt: „Aber Sie haben mir doch eben gesagt, die Nr. 28 sei schon drin!“ Ich lächelte nur und dachte: „Gut, dass ich die nicht heiraten muss – was für eine Kampfhenne!“ Dann waren wir, die Nummer 31, Olga und ich, dran. Es ging alles sehr schnell: „Aha, Ukraine“, sagte der Beamte, holte eine Formular hervor und kreuzte darauf alle Dokumente an, die Olga beizubringen hatte. Damit schoben wir wieder ab. Anschließend trafen wir uns mit einer befreundeten Russin, die dolmetschen sollte: Da Olga geschieden war und zwei Kinder hatte, musste sie zusätzlich zur Familienstandsbescheinigung, zur Geburtsurkunde, zur polizeilichen Anmeldung, zur Aufenthaltsbescheinigung, zum Kindernachweis und zur beglaubigten Visumkopie auch noch ein gerichtliches Scheidungsurteil und dazu eine Bestätigung von der Miliz einholen. Das alles aus der Ukraine! Und dass sie hier schwarzarbeitete und nicht angemeldet war, verkomplizierte die Sache noch einmal. Mutlos ging sie nach Hause.
Eine paar Wochen später trafen wir uns wieder, die Dolmetscherin hatte ich dazubestellt: „Es geht nicht“, sagte Olga, „ich krieg die Papiere nicht zusammen!“ „Dann heiratet doch in Dänemark“, riet uns die Dolmetscherin. Ich rief daraufhin beim Standesamt in Tonder an. Sie wollten zwar etwas weniger Papiere haben, aber die waren genauso schwierig zu beschaffen, außerdem war der „mehrtägige Aufenthalt“ dort teuer. Um es kurz zu machen: Irgendwann gaben wir auf! Ich bin immer noch ledig, und Olga lebt wieder in Kiew. Für die traurige Rückreise nahm sie, nebenbei bemerkt, für 500 Euro die Dienste einer Schleuserbande in Anspruch, die Touristen von West nach Ost schleppt, damit diese kein Wiedereinreiseverbot in den Pass gestempelt bekommen.
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32.
Eidechsen – so hießen früher die Hardcore-Lesben in SO 36 liebevoll. Es gab ein autonomes taz-Autorenkollektiv „muz“ (menschenverachtend und zynisch) – das Vorspiel der KPD/RZ, das in seinen Kolumnen diese Eidechsen würdigte, die sich ihrerseits auf den Häuserwänden im Kiez äußerten: „Bildet Banden“, „Kastriert alle Vergewaltiger!“ usw. Ihr Ruhm strahlte bis nach Hamburg, von wo eines Tages die Journalistin Edith Cohn anreiste, um über diese feministischen Terroristen eine das Blut in den Adern der Elbchausseer gefrieren lassende Insiderstory aus Original-Kreuzberg zu liefern.
Leider konnte die taz-Berlin-Redaktion sie davon überzeugen, dass es sich bei den ganzen kastrationsbereiten Eidechsen bloß um einen weiteren Dreh am „Mythos Berlin“ (Der Spiegel) handelte. Mit der Abwanderung der „Zeitgeist“-Schwaben und Rheinländer in die Ostbezirke geriet dann aber sowieso der „Problembezirk“ außer Konjunktur („Nur in SO 36 lebt man kreativ!“, meinte z. B. Claudia Skoda 1985 und 1995: „Nie wieder Kreuzberg!“). Man hörte dann auch nichts mehr von den Eidechsen. Die letzten wurden mit der Zerstreuung der Wagenburgen an den Stadtrand gedrängt, einige zogen mit ihren Wohnwagen „in Richtung Süden“ ab.
Jetzt kommt aber neue Kunde von ihnen – diesmal aus dem Berliner Schwabing Prenzlauer Berg. Wie die gewöhnlich gut unterrichteten Punker vor Kaiser’s und McDonald’s erklären, handelt es sich dabei um „Solarent-Frauen mit eidechsenfarbenen Tattoos, deren dauergebräunte Haut inzwischen verlederte“. Seltsamerweise gab es schon 1984 eine Zeitschrift für Eidechsen, herausgegeben vom „Bräunungsstudio Malaria“, zu dem der Eastbam-Manager Indulis Bilzens, der Westbam-Manager und -Vater William sowie das Gestaltungsduo Johannes Beck und Walter Baumann gehörten. 20 Jahre später lesen die Eidechsen, die auf die Bräunungsstudios in Prenzlauer Berg abonniert sind, vor allem Körperzeichen. Ihre Solarium-Szene arbeitet an einer eigenen Kultur, deren Speerspitze jene neuen Eidechsen sind. Ihr typisches Erscheinungsbild ist die Twentysomething mit Pferdeschwanz und Sporttasche, Jogginghose, Top, Stöpsel im Ohr und Handy am Hals.
In ihrer prominenten Form werden sie u. a. durch „TV-Star Jennifer Nitsch“ verkörpert, die neulich aus dem Fenster fiel und starb. Die Bild-Zeitung zitierte erst ihren Regisseur: „Der Fenstersprung war ein Hilfeschrei!“, und rekonstruierte diesen dann durch Jennifers letzte Stunden: „15 Uhr 30 – sie geht in ihr Schwabinger Fitnessstudio ,lady sportiv‘; 17 Uhr 30 – sie ist zu Hause mit ihrer besten Freundin verabredet: ,Wir haben auf dem Bett gelegen, ferngesehen, über Klamotten, Fingernägel, Haare und Partys gesprochen‘; 20 Uhr – die beiden machen sich für den Abend zurecht: ,Wir haben ein paar Klamotten ausprobiert, ich habe für sie ein Kleid gebüdelt‘; 21 Uhr 40 – die beiden gehen ins ,Kytaro‘, dort ist Jennifer Nitsch mit einem Photographen verabredet, es herrscht Partystimmung, der Ehemann von Model Guilia Siegel kommt dazu, es sind schließlich 20 Personen, sie essen griechische Spezialitäten; 2 Uhr 45, fröhlich fährt die Runde zum Club ,Max Suite‘, dort, so sagen Zeugen, trank sie viel Wodka, auch Champagner; 5 Uhr – sie tanzt barfuß, verletzt sich am Fuß, Türsteher Arturo hilft ihr ins Taxi; 5 Uhr 30 – sie schläft ein, um 12 Uhr 30 telefoniert sie mit ihrer Mutter, der sie erzählt: ,Wir hatten eine tolle Party, jetzt muss ich mich aber ausruhen‘; 13 Uhr 07 – sie stürzt aus dem Fenster des vierten Stocks OE“ Die Bunte ergänzte dann: Sie litt unter „Beziehungslosigkeit“ und „Bulimie“. Und Bild ließ noch ihre Mutter zu Wort kommen: „Es war niemals Selbstmord“, meinte sie, mit anderen Worten: Die Fitnessclubs sind wahrhaft mörderisch! War Edith Cohn etwa auf der richtigen Spur, als sie in der Frauensauna am Heinrichplatz mit ihrer Recherche begann?
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33.
Kreuzberg ist wieder „im Kommen“, wie Ingeborg Bachmann bereits 1964 unkte. Nun allerdings ohne Touristen und „Lifestylisten“ – so bezeichnet die SO 36-Ethnologin Barbara Lang den letzten Schrei aus Künstlern, Linksalternativen, Hausbesetzern, Alten Wilden und Autonomen im „Problembezirk“, die nach der Wende gen Osten verschwanden. Viele der Dableiber wurden nach und nach arbeitslos: „Wenn früher von zehn offenen Stellen neun durch Türken besetzt wurden, werden heute stattdessen neun Ostdeutsche eingestellt“, so sagte es 1995 der Osram-Betriebsrat. Infolgedessen versuchen sich die Türken in allerhand Existenzgründungen, wobei sie nicht selten auch Deutsche mit ins Boot nehmen. Wenn ich nicht irre, machte das Restaurant Kafka in der Oranienstraße den Anfang. Überhaupt hat sich diese Straße vom wendeeuphorischen Shit for Brain Drain bereits gut erholt.
Jetzt ist die Wiener Straße dran: Hinten eröffnete der türkische Efesgarten „Burg am See“, vorne entsteht – an der Stelle des abgebrannten Bolle – eine handgeschnitzte Moschee, ein Stück weiter hat sich das Tanzcafé Advena etabliert, und gegenüber eröffnete gerade das Gartenlokal Feuerwasser. Um von dort einen Zugang zur Wiener Straße zu haben, musste die Feuerwache nebenan ihre Zustimmung geben – was sie auch tat. An ihrer Stelle stand übrigens früher einst ein jüdisches Kaufhaus, das dann von einem Rollkommando aus dem SA-Gartenlokal Wiener 10 gestürmt wurde. In dieser Nazistammkneipe hatte sie im Kegelbahnkeller ein „wildes KZ“ eingerichtet – und bis heute lastet ein Fluch auf dieser Location: Kein Wirt hält es darin länger als ein Jahr aus, jetzt versucht es der türkische Hausbesitzer zur Abwechslung mal wieder selbst. Ansonsten geht es jedoch gut ab in der Wiener, weswegen sich der Gartendurchbruch – von der Skalitzer 14 aus – für das Feuerwasser auch lohnt.
Initiiert hat es Cahit Aslan, ein Garten-, Landschafts- und Raumgestalter, der oft und gerne mit den vier Elementen arbeitet. Am Lokal ist es ein großer Brunnen im Garten, aus dem unentwegt Feuer und Wasser sprudeln. Nachdem er damit fertig war, übernahmen drei junge Leute, Kerem Atasever, Kaan Müjdeci und Sascha Wilczek, das Objekt, wo sie zuvor schon das Sinema Cekirdek (Sonnenblumenkernekino) betrieben, in dem freitags und samstags alte türkische Spielfilme gezeigt werden, dazu gibt es Zuckerwatte, Halva, Eis und frisch geröstete Kichererbsen sowie Sonnenblumenkerne. Ansonsten sind die drei beim Multikulti-Karneval aktiv und Herausgeber eines kostenlosen Veranstaltungs-„Magazins der Kulturen“ namens Tellal („Ausrufer“ auf Arabisch). Das Gartenlokal war zuvor ein türkischer Zockertreff, der sich jedoch nicht rentierte. Überhaupt mussten die meisten türkischen Männerlokale mangels Umsatz inzwischen steuerbegünstigten Kultur- und Sportvereinslokalen weichen. Das Feuerwasser muss noch den Vorbesitzer auslösen, ein Problem, an dem Cahit angeblich scheiterte.
Im Gartenlokal soll es nach einer Renovierungspause neben dem Kino noch Lesungen sowie Musik- und Tanzveranstaltungen geben – eine indische Tänzerin und eine Bauchtänzerin sind quasi schon unter Vertrag. Andersherum hat das Künstlerhaus Bethanien bereits Interesse an einer Kooperation mit dem „Feuerwasser“ gezeigt. Denn dort, das heißt in der aus Geldmangel geschlossenen türkischen Bibliothek, wird demnächst eine Ausstellung mit türkischen und deutschen Künstlern eröffnet: „Berlin-Istanbul vice versa“. Und diese Schau ist wiederum Vorspiel für ein ähnliches, größeres Kunst-„Projekt“ im nächsten Jahr. Ich will damit sagen: Der Exodus der Deutschen (Trendhechler) aus Kreuzberg hat dem Bezirk gut getan! Ganz anders sieht das natürlich der CDU-Ekelprotz Landowsky: „Die interessante Szene“ hat sich nach Mitte verlagert, meint er, während in SO 36 nur „Junkies, Gewalt und Ausländer zurückblieben“. Was er nicht sagt, ist, dass daran allein die BVG schuld ist, die am Görlitzer U-Bahnhof ständig „Zu-rückbleiben!“ ruft. Die Gegend drum herum ist darob regelrecht gemütlich geworden.
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34.
Der ehemalige Betriebsratsvorsitzende von Krupp Stahlbau Berlin, Karl Köckenberger, hat eine große Familie und lebt im Wohnhaus der Kreuzberger Regenbogenfabrik. 1992 schenkte er seinen Kindern zwei Einräder, mit denen sie auf dem Hinterhof übten. Wenig später kamen noch zehn weitere Einräder für die Nachbarskinder dazu. So fing es an – mit Cabuwazi, dem „chaotisch-bunten Wanderzirkus“, dessen Geschichte hier kurz erzählt werden soll. Als Erstes kaufte Karl sich ein Zirkus-Handbuch, über das er dann mit verschiedenen Artisten in Kontakt kam. So auch mit dem mexikanischen Clown Ranulfo Cansino, der noch heute bei Cabuwazi – und dort fürs Jonglieren zuständig – ist. Dann kam die Luftakrobatin und Braunbärentrainerin Petra Sperlich dazu, vom Staatszirkus der DDR. Sie, ebenso wie Natalie Desavis, die bei der westdeutschen Traberfamilie lernte, bringt den Kindern Seillaufen bei. Außerdem arbeiteten bei Cabuwazi noch der polnische Meister im Trampolinspringen, Boguslaw Porycki, die Varietékünstlerin Monika Kebschull – sie trainierte mit den Kindern am Trapez – und die Turnerin Antje Seifert, die unter anderem Rhönradlehrerin ist.
Im Herbst 1993 verteilte die Truppe an einigen Schulen Flugblätter: „Wer möchte an einem Zirkus-Workshop teilnehmen?“ Es kamen über 200 Kinder in die Turnhalle der Kreuzberger Kiezschule. Dafür bewilligten das Arbeits- und das Jugendamt bereits Mitte 1994 erst 14 und dann noch einmal 18 ABM-Stellen sowie Sachmittel – zur Anschaffung der ersten Technik, der Bestuhlung und einiger Requisiten. Für den Ankauf von zwei Großzelten wurden Sponsoren gefunden: Die Zelte stellte man in Treptow (Bouchéstraße 74) und in Kreuzberg (am Spreewaldbad) auf zwei sehr schönen Plätzen auf. Später kamen hier wie dort etliche Zirkuswagen und Container dazu. Und es fand sich eine Reihe weiterer Sponsoren – erwähnt seien die Bewag und die taz, daneben spendeten aber auch viele Eltern.
Inzwischen gibt es bereits vier Cabuwazi-Spielplätze: neben den bereits erwähnten auch den am Neubauviertel von Altglienicke und einen in Marzahn, wo man sich mit dem dortigen „Zelt Springling“ liierte. Daneben gibt es noch eine Kooperation mit dem Wiesenzirkus „Bunter Hund“ in Rüdersdorf, wo mit Behinderten gearbeitet wird. Und demnächst kommt noch ein eigener Zeltplatz an der Jugendeinrichtung „Schatzinsel“ im Kreuzberger Abschnitt der Köpenicker Straße dazu. In all diesen sechs Zelten wird den Kindern und Jugendlichen ein offenes, niederschwelliges Training angeboten, woraus sich dann Einrad-, Jonglier-, Diabolo-, Trampolin-, Seillauf- und Clowngruppen bilden, die von Berufsartisten sowie von angelernten Pädagogen betreut werden. Auch „Elemente der Kinder-Straßenkultur wie Inlineskating und Breakdance“ werden angeboten.
Seit 1997 organisiert Cabuwazi darüber hinaus regelmäßig Ferien-Workshops und Schulprojektwochen: „Das ist ein Riesenrenner“, meint Karl Köckenberger, „das einwöchige Training der Schüler mündet jeweils am Freitag in eine Aufführung.“ Die Cabuwazi-Kinder und -Jugendlichen erarbeiten selbst jährlich zwei Programme, die sie etwa zehnmal im Jahr in ihren Zelten präsentieren, dazu kommen noch diverse Einladungen: in den Lions-Club, zum Obdachlosenfest der Heiligkreuzkirche, zu einer Werbeveranstaltung der Bewag und jede Menge Auftritte beziehungsweise Workshops auf Festivals im Ausland: bisher in Frankreich, Polen, St. Petersburg, London und Lausanne. Die Cabuwazi-Zelte daheim werden derweil immer öfter auch von anderen Veranstaltern genutzt. Die erste große Auslandstournee führte den Kinderzirkus 1995 ausgehend von Mexiko-Stadt über die Dörfer von Chiapas. 1997 organisierte Cabuwazi dann mit 200 bosnischen Jugendlichen einen Workshop in Tusla. Und ab Mitte August 2004 stehen Aufführungen und Workshops mit 250 Kindern in Jerusalem und Bethlehem auf dem Programm, wobei man mit dem „Circus Jerusalem“ zusammenarbeitet, das heißt mit dessen 30 jüdischen und arabischen Kindern zwischen 10 und 17 Jahren. Ihre Leiterin Elisheva Yortner besuchte gerade Cabuwazi in Berlin, um die Reise vorzubereiten. Zuvor waren bereits drei Clowns aus Nablus zu einem Arbeitsbesuch angereist: „Es gab im Vorfeld harte Diskussionen, ob das Ganze nicht zu gefährlich sei für die Jugendlichen.“ Eigentlich wollte man auch noch nach Nablus, auf Einladung der palästinensischen Clowngruppe Amo Bahloul. Aber derzeit ist dort die Lage zu angespannt. „Nach Bethlehem und Jerusalem fahren wir jetzt mit zwölf jungen Erwachsenen und fünf Trainern“, berichtet Karl Köckenberger. Ihr Reiseprojekt – „Circolibre“ genannt – wird vom Deutschen Kinderhilfswerk und vom Weltfriedensdienst finanziell unterstützt.
Am Samstag fand in Treptow die Generalprobe statt. Cabuwazi ist ein gemeinnütziger Verein mit fünf Vorständlern und Platzverantwortlichen für jedes Zelt. Es gibt keine Wartelisten und keine Beitragszahlungspflichten für die Eltern: „Wir sind für alle Kinder da, vor allem an den Orten, wo es notwendig ist.“ Rund 650 Kinder trainieren dort über die Woche nach der Schule. Der Zirkus ist eine Art Sozialarbeit, weswegen das Projekt auch staatlich gefördert wird. Die Arbeit, das Jonglieren etwa, „dient der Persönlichkeitsentwicklung der Kinder, außerdem lernen sie, dabei zu kooperieren und im Jugendaustausch beziehungsweise auf Tourneen sich mit anderen auseinander zu setzen“, erklärt der Gründer. Die Jugendlichen sollen lernen, gemeinsam ein Programm auf die Beine zu stellen, das gibt Erfolgserlebnisse – und Selbstbewusstsein. 2008 bekam Karl Köckenberger für sein diesbezügliches Bemühen das Bundesverdienstkreuz.
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35.
Nach Westberlin zogen immer nur solche Leute, die im Rechnen eine Fünf, aber im Malen eine Eins hatten, meint der Künstler Kapielski. Einmal im Jahr durften sie alle auf der Freien Berliner Kunstausstellung (FBK) am Funkturm ihre Werke zeigen. Von den Alten Abstrakten und den Jungen Wilden bis zu den Spandauer Mundmalern und den aquarellierenden Wilmersdorfer Querformat-Witwen reichte dabei das Spektrum: mindestens. Die FBK wurde jedoch 1997 aus Einsparungsgründen abgewickelt. Die seit 17 Jahren dasselbe juryfreie Kunst-Auswahlprinzip verfolgende „Querschnitt“-Veranstaltung im Statthaus Böcklerpark gibt es jedoch noch immer, wenn auch nun erstmalig im Künstlerhaus Bethanien, das demnächst einem privaten Investor zugeschlagen werden soll. Der dezentrale Querschnitt beschränkt sich auf Künstler aus Kreuzberg und ist quasi eine soziokulturelle Kiezmaßnahme, inklusive Rahmenprogramm und Kunstkurse. Man sollte meinen, dass der „Problembezirk“ besonders viele künstlerische Talente hervorgebracht hat – seit die Nachkriegsboheme hier ihre Galerien eröffnete. Die über 400 Bilder, Plastiken und Objekte in den Räumen der ehemaligen Seniorentagesstätte ähneln insgesamt jedoch eher einer Zehlendorfer Rumpelkammer. Wenn man aber ein bisschen rumwühlt, dann entdeckt man doch etliche interessante Kunststücke, aber auch ganze soziokulturelle Trends.
Da haben zwei Mädchen mit Buntstiften ausdrücklich lauter Mädchen gezeichnet und dort hat ein Latina-Liebhaber seine schwarze Freundin naturgetreu nackt nachmodelliert, auf ein kunstvoll mit Kupfer beschlagenes Kreuz geklebt und das Ganze anbetungsvoll mit vier brennenden Kerzen garniert. Ansonsten haben auffallend viele Frauen halb bekleidete Frauen porträtiert. Und den jungen Marlon Brando gibt es auch mehrfach. Die surrealistischen Motive haben dagegen deutlich abgenommen, allerdings nicht die verrätselnden Titel vieler Werke. Einiges gemahnt an die Pietà von Käthe Kollwitz. Guantánamo kommt ebenso vor wie verschleierte islamische Frauen – in Öl auf Leinwand. Und Mexikaner, Indianer, Wüsten, Afrika, Kuba und Kurdistan gibt es weitaus öfter als Berliner Stadtansichten – wie „Abends am Dom“ oder „Nachts in Kreuzberg“. Die Künstler, die für die Aufnahme ihrer Arbeiten in den Farbkatalog 25 Euro zahlen müssen und sich möglichst am Ausstellungsaufbau beteiligen sollen, kommen aus allen Ecken und Enden des Bezirks: Alte, junge, vergrübelte und filmbeeinflusste, freizeitbewusste Arbeitslose, arme Esoteriker und reiche Hobbybildhauer, Schnellmaler und Bastler, die zum Beispiel monatelang an einem „Traumfänger“ rumschweißen. Mit ihren Werken spielen sie an auf: Deine Lippen / Vergänglichkeit / Begegnung /Blues / Herz / Anfang & Ende / Metamorphose / Geborgenheit / Sehnsucht / Fernweh /“Es macht nichts, wenn wir arm und unbedeutend sind“.
Die Vornamen der meisten Künstler klingen gediegen, gar unmodisch und bodenständig: Jacques, Dagmar, Annette, Hannelore, Karoline, Manfred…Während ihre Nachnamen zugleich die große weite Welt ahnen lassen: Lux, Mailaender, Lüdemann-Denninghoff, Mumenthaler, Mincu, Mastori, Medellin, Chiaramonte, Sokolowski, Yam… Vor 14 Jahren schrieb Katrin-Bettina Müller in ihrer Rezension: „Versteht man die Querschnitt 3 als Repräsentation einer Kreuzberger Szene, dann fällt im Unterschied zum Image des Bezirks die Zahmheit der Kunst auf, die kaum als Instrument des Kampfes oder der Provokation gebraucht wird.“ Das könnte man heute auch noch so sagen, allerdings soll die Querschnitt-Kunst gerade nichts repräsentieren, deswegen ist die Ausstellung ja juryfrei, das heißt, jeder darf dort seine Werke präsentieren – er muss sich nur trauen.
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36.
Das „Advena“ (Der fremde Gast) in der Wiener Straße wird von Ali und Bülent Karasahin bewirtschaftet, werktags ist es schon fast eine taz-Stammkneipe, an den Wochenenden finden dort Oriental-Pop-DJs ihr Auskommen, dazu zeigt dort ein Istanbuler Künstler Dias aus seiner Heimatstadt sowie lehrreiche Unter- und Überwasserfilme ohne Ton. Seit kurzem ist das „Advena“ außerdem noch an jedem Dienstagabend ein „Language-Café“ – dann sitzen dort einige Dutzend Leute um ein Würfelspiel namens „NewAmiciVille“, mit dem man Italienisch, Spanisch, Englisch, Französisch, Deutsch und Norwegisch lernen kann.
Erfunden hat es der weltreisende Finne Lakki Patey in Norwegen, wo er es bisher über 42.000-mal verkaufte – und zwar hauptsächlich in Kneipen bzw. Cafés, wohin er alle am Sprachenlernen interessierten Leute einlud, um sie in sein Brettspiel einzuweisen. Als er das Gefühl hatte, nun läuft es von allein, kaufte Lakki Patey sich zusammen mit seiner norwegischen Freundin ein Wohnmobil und fuhr damit nach Deutschland, wo die beiden nun ebenfalls aus diversen Kneipen „Language-Cafés“ machen. In Berlin entschieden sie sich sich nach einigem Suchen für das „Advena“. Um Spieler warben sie hier mittels Aushängen an den diversen Sprachschulen und Uniinstituten. Jeden Dienstag verteilen die beiden Wirte nun an alle Interessierten kostenlos Brettspiele, man kann sie dort aber auch für zu Hause kaufen, außerdem gibt es sie in etlichen Spielwarenfachgeschäften – für knapp 40 Euro.
Das von Lakki Patey entwickelte „Sprachenspiel“ wird von der Drolshagener Firma „California Products GmbH“ vertrieben. Beim ersten Spiel-Dienstag im „Advena“ meinte Lakki: „Sprache ist eine Brücke zwischen den Kulturen, und ,New Amici‘ ist der Schlüssel dazu. Wunderbar, dass so viele Menschen gekommen sind, um diesen Schlüssel gemeinsam auszuprobieren.“ Spanier, Norweger, Türken, Deutsche und Italiener hatten sich im „Advena“ eingefunden. Neben den Sprachversionen (z. B. Spanisch/Deutsch) mussten sie zunächst zwischen drei Schwierigkeitsgraden wählen (Gelb, Orange, Rot) sowie während des Spiels zwischen mehreren Bereichen (Zahlen, Alltagsfloskeln, Geografie etc.). Dazu wurde getrunken, gewürfelt und geraucht, außerdem boten Ali und Bülent Karasahin noch einen kostenlosen Imbiss für alle Spieler an.
Hinterher fragte ich einige Gäste, wie sie das neue Sprachspiel fanden: Sie betonten vor allem, das es interessant gewesen sei, auf diese spielerische Art mit Fremden bzw. Fremdsprachigen in Kontakt gekommen zu sein – und das auf so unterhaltsame Weise, stundenlang und dazu ohne die sonst üblichen dummen Vorstellungsfragen (What’s your name?, Where do you come from?, What are you doing in Berlin? etc.), nach denen man oft nicht mehr weiterweiß und sich in Höflichkeiten verliert. Am ersten Dienstag, zu dem das norwegische Fernsehen sowie der Berliner Korrespondent einiger norwegischer Zeitungen erschienen waren, wurden anschließend unter den etwa 40 Spielern noch drei Preise verlost. Am zweiten Dienstag waren dann nicht mehr ganz so viele Spieler da, sie integrierten sich dafür zwangloser in das normale Kneipengeschehen. Ihre Betreuung hatten Ali und Bülent übernommen, denn Lakki Patey und seine Freundin waren schon wieder unterwegs, um weitere „Language-Cafés“ zu schaffen.
Inzwischen gibt es in der BRD bereits vier: den „Spielplatz“ in Köln, die „Pony-Bar“ in Hamburg, das „Lot Jonn“ in Düsseldorf und eben das „Advena“ in Berlin, wo demnächst auch noch Lesungen mit türkischen Autoren, die auf Deutsch schreiben, stattfinden. Zwar ist das „Advena“ der Brüder Karasahin noch nicht so rentabel wie die Liebling-Kreuzberg-„Stiege“, die älteste Kreuzberger Pizzeria „Samira“, der Kanzlertreff „Jasmin“ und die anderen Kneipen der vier alteingesessenen palästinensischen Brüder, aber dafür entwickelt es sich zunehmend zu einem türkisch-deutschen Yuppielokal, besonders an den Tanzabenden, wenn Cem Özdemir und seine AL-Gang dort aufkreuzen.
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37.
Man sagt, Günter Bruno Fuchs und Robert Wolfgang Schnell begründeten den Ruf Kreuzbergs als „Kunstwiege“: Erst in einigen kaputten, aber gut geheizten Kneipen und dann ab 1959 mit der Galerie „Zinke“ in der Oranienstraße, wo unter anderem Kurt Mühlenhaupt, Johannes Schenk und Günter Grass dazu stießen. Diese „Kreuzberger Nachkriegsboheme“ wurde vor allem inspiriert von Oskar Huth, dem die Amerikaner 1946 erst die „Evidence of Anti-Nazi-Activities“ bescheinigten und dann eine Stelle im Kultursenat antrugen. Der Klavierstimmer und -spieler zog es jedoch vor, „freischaffender Kunsttrinker“ zu bleiben.
Bereits 1964 baute R. W. Schnell die Huth’schen Auftritte und Monologe in seine „Ballade aus Kreuzberg“ ein. Im selben Jahr registrierte Ingeborg Bachmann, dass Kreuzberg „im Kommen“ sei. In ihrer Dankesrede zur Verleihung des Georg-Büchner-Preises sagte sie: „Die feuchten Keller und die alten Sofas sind wieder gefragt, die Ofenrohre, die Ratten, der Blick auf den Hinterhof. Dazu muss man sich die Haare lang wachsen lassen, muss herumziehen, muss herumschreien, muss predigen, muss betrunken sein und die alten Leute verschrecken OE Man muss immer allein und zu vielen sein, mehrere mitziehen, von einem Glauben zum andern. Die neue Religion kommt aus Kreuzberg, die Evangelienbärte und die Befehle, die Revolte gegen die subventionierte Agonie. Es müssen alle aus dem gleichen Blechgeschirr essen, eine ganz dünne Berliner Brühe, dazu dunkles Brot, danach wird der schärfste Schnaps befohlen, und immer mehr Schnaps, für die längsten Nächte. Die Trödler verkaufen nicht mehr ganz so billig, weil der Bezirk im Kommen ist, die Kleine Weltlaterne zahlt sich schon aus, die Prediger und die Jünger lassen sich bestaunen am Abend und spucken den Neugierigen auf die Currywurst. An einem Haustor, irgendeinem, wird gerüttelt, ein Laternenpfahl umgestürzt, einigen Vorübergehenden über die Köpfe gehauen. Nach Mitternacht sind alle Bars überfüllt.“
Zehn Jahre später wurde daraus ein Schunkellied der Gebrüder Blattschuss: „Kreuzberger Nächte sind lang“. Die Europa-Korrespondentin des New Yorker schrieb dann – wieder zehn Jahre später: „Früher war Kreuzberg düster und schmutzig. Dann aber war es düster und schmutzig – und hatte Flair.“ Zu einem ähnlichen Befund kam dann die Spiegel-Autorin Marie-Luise Scherer in einem Artikel über die dortige autonome Szene: „Eine Frau darf hier scharf aussehen, den Pelz einer geschützten Tierart tragen und Gold auf den Lidern, wenn ihr darüber nicht das irisierende Moment von Sperrmüll abhanden kommt.“ Aus solchen und ähnlichen medialen Mätzchen (Recherchen) wurde spätestens nach den Straßenschlachten am 1. Mai 1987 – als das Viertel für einige Stunden „bullenfrei“ gekämpft war – der „Mythos Kreuzberg“, der nach Meinung seiner letzten Ethnografin Barbara Lang schließlich pars pro toto für Westberlin stand – und dann 1990 endgültig fiel.
Das Tape mit der nächtlichen Trommelmusik vom 1. Mai 1987 – „Hönkel“ genannt – erwarb die Schaubühne, als Soundkulisse für ein Ku’damm-Brecht-Stück. Einen Monat später riegelte umgekehrt die Polizei – anlässlich des Reagan-Besuchs – das ganze Viertel für einige Stunden hermetisch ab, was dann wiederum dem „Büro für ungewöhnliche Maßnahmen“ Anlass für eine Reihe humoriger Gegensperrmaßnahmen war. 1989 legte der Innensenator fest, dass die polizeilichen Einsatzabläufe zukünftig zwar direkt gefilmt und übertragen werden durften, „aber nur in Form von Totalaufnahmen“. Zehn Jahre später ermahnte die Demoleitung erstmals selbst alle Bildberichterstatter, „sich auf die Totale zu beschränken“. Zwischen dieser ganzen über 50 Jahre andauernden Kreuzberg-Reklame und -Randale steht die Eroberung des leer stehenden Bethanien-Krankenhauses 1972 durch die Linke und ihre lokale Basis. Der „Kampf um Bethanien“ fiel in eine Zeit, in der sich Kreuzbergs Bevölkerung, die sich nach dem Bau der Mauer zunächst stark reduziert hatte, noch einmal wandelte: Einerseits wurden die seit 1961 leer stehenden großen Wohnungen in Wilmersdorf und Charlottenburg, die von vielen linken Studenten bewohnt wurden, langsam wieder von ihren Besitzern mit Beschlag belegt, sodass die Szene sich nach Schöneberg und Kreuzberg verlagerte, andererseits zogen auch immer mehr türkische Gastarbeiter, die bis dahin in Wohnheimen untergekommen waren, in diese Bezirke. Während gleichzeitig die Bezirksverwaltungen dort immer mehr alte Wohnsubstanz aufgaben und für großflächige Neubebauungen, verbunden sogar mit einer Stadtautobahn, votierten. So wollte die „Baulöwin“ Sigrid Kressmann-Zschach zum Beispiel anstelle des leer stehenden Bethanien-Komplexes ein modernes Wohn- und Shoppingcenter errichten, die Denkmalschützer konnten den Abriss jedoch verhindern.
Aber schon tauchten neue Projektmacher auf – die auch sofort zur Tat schritten: Eine Gruppe, bestehend aus damals besonders unruhigen Lehrlingen und Heimkindern, rief während eines Teach-ins im Audimax der TU Berlin, auf dem die Kreuzberger Band „Ton Steine Scherben“ („Macht kaputt, was euch kaputt macht“) spielten, zur Besetzung des leer stehenden Bethanien-Krankenhauses auf. Das heißt: erst einmal zur Besetzung des Lehrschwesternhauses neben dem Hauptgebäude, das sie nach dem vier Tage zuvor von der Polizei erschossenen Mitglied der „Bewegung 2. Juni“, Georg von Rauch, benannten – es heißt bis heute so. Darüber hinaus hatten auch andere Gruppen – etwa Künstler, Eltern auf der Suche nach einem Kinderladen, eine Musikschule-Initiative, die KPD/AO, verschiedene Bezirksbehörden – einen großen Raumbedarf. Es kam zu erbitterten Auseinandersetzungen unter ihnen, wobei oft auch die Polizei mitmischte. Schließlich kamen aber alle irgendwie legal dort unter – und vertrugen sich mit der Zeit. Dazu trugen die langsamen Veränderungen im „Umfeld Bethanien“, wie später eine Ausstellung dort hieß, ebenso bei wie die der Kunstszene selbst. Beide neigten zunehmend zum Pragmatisch-Experimentellen. So zogen etwa einige Künstler ins Rauchhaus, Rauchhausbewohner versteckten sich vor der Polizei im Künstlerhaus, und mit den Grünen entwickelte sich sogar (wieder) ein staatsintegratives Soziotop, das dazu alternatives Kleingewerbe und überhaupt marktwirtschaftliches Denken begünstigte. Erinnert sei an die „Neuen Wilden“ und ihre Galerie am Moritzplatz, über die der Maler Lüpertz abschließend urteilte: „Wir erst haben Berlin an den Weltkunstmarkt angeschlossen!“ Oder die Modemacherin Claudia Skoda, die 1979 meinte: „Kreuzberg ist unerhört vielfältig“, aber gleich nach dem Mauerfall als wendige „Lifestylistin“ dem Stadtmagazin Tip gestand: „Nie wieder Kreuzberg!“ Sie zog dann ab nach Mitte, wo auch Klaus Landowsky sofort „die interessante Szene“ ausmachte, während in Kreuzberg seiner Meinung nach nur „Junkies, Gewalt und Ausländer zurückblieben“.
Bereits Ende der Siebzigerjahre hatte sich die „Politisierung“ der Studenten derart auf einige Aspekte des Alltags – nämlich der „behutsamen Stadterneuerung unter ökologischem Vorzeichen“ – beschränkt, dass sie in Kreuzberg mit den Türken aneinander gerieten. In diesen sahen sie bald nur noch „Stoßtrupps der Hausbesitzer“ – zum endgültigen Herunterwohnen der letzten Altbausubstanz. 1980 schrieb das Stadtmagazin Zitty: „In einem Türkenghetto entscheiden nur noch Justiz und Polizei. Türken raus? Warum nicht. Zumindest einige. Es sei denn, man will den Stadtteil sterben lassen.“ Viele Türken ließen nach und nach ihre Familien nachkommen, was die Kreuzberger Bezirksregierung mehrmals mit „Zuzugssperren“ zu verhindern suchte. Die linken türkischen Organisationen hatten ihren proletarischen Anhängern im Ausland zunächst geraten, sich politisch auf ihre Rückkehr in die Heimat zu konzentrieren. Nach einigen Jahren gingen aber auch sie von einer permanenten Diaspora aus, wo man unter anderem für Arbeitnehmer- und Mieterrechte kämpfen muss. Bald gab es in fast allen größeren Westberliner Fabriken türkische Betriebsräte, und die leer stehenden Souterrainräume im Viertel wurden von türkischen Arbeitervereinen genutzt. Einen – mit Lenin-Schulung – gibt es im „Mehringhof“ noch heute. Und in der IG Metall hält sich die Meinung: „Die besten türkischen Betriebsräte waren früher alle kurdische Maoisten!“
Inzwischen gibt es allerdings kaum noch türkische Arbeiter: Viele Westberliner Betriebe wurden dichtgemacht, und die restlichen stellten seit 1990 vor allem überqualifizierte Ostberliner ein. Dies zwingt immer mehr Türken, sich selbstständig zu machen: Inzwischen tragen sie schon fast die gesamte Kreuzberger Ökonomie; die streng gläubigen unter ihnen planen daneben eine Moschee nach der anderen. 1981 besetzte eine Frauengruppe die alte Schokoladenfabrik am Heinrichplatz (etwa die 170. Hausbesetzung): Neben einem türkischen Frauenbad (Hamam) entstand dort ein „Treffpunkt, Bildung und Beratung für Frauen und Mädchen aus der Türkei“. In den Achtzigerjahren tat sich noch einmal eine Kluft auf – zwischen Künstlern und „Streetfightern“ (Autonomen): Letztere versuchten, teilweise erfolgreich, einige „Schickimicki-Lokale“ im „Problembezirk“ mit Scheiße „wegzukübeln“, und zerstörten mehrere Kunstobjekte und Ausstellungen. Für diese „Kiezmiliz“ waren nicht mehr die Türken die Speerspitze der spekulativen „Gentryfication“, sondern die Künstler. Während die Türken mit ihren „Kulturvereinen“ inzwischen nach oben – in Läden – gezogen waren, hatten jedoch ironischerweise immer mehr Künstler ihre Installationsräume und Clubs in Kellern eingerichtet; erwähnt seien die Galerie Eisenbahnstraße, das Endart-Depot, Urbandart und das Fischbüro. Aus dem Keller des Letzteren trat 1989 die Love Parade buchstäblich ans Tageslicht. Ein typischer Dialog am Fischbüro-Tresen ging so: „Machen wir noch eine Bierforschung oder gleich eine Nachhausegehforschung?“ – „Ich muss jetzt erst mal ’ne Dönerforschung machen!“
Der Forschungsbegriff wurde damals von vielen Künstlern derart gestretcht. Ihre Ergebnisse firmierten unter anderem unter dem von Wolfgang Müller kreierten Mervetitel „Geniale Dilettanten“, der ebenso wie Heiner Müller fast zum Stamm des „Panzerkreuzers Bethanien“ gehörte. Dieser wohnte zuletzt einen Steinwurf entfernt in der Muskauer Straße, wo er von seiner türkischen Theaterkneipe „Le Soleil“ aus den Mariannenplatz und das schlossähnliche Portal des „Künstlerhauses Potemkin“ im Blick hatte, das immer baufälliger wird. Aber es ist kein Geld dafür mehr da, deswegen will man den ganzen Komplex jetzt privatisieren.
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38.
In der Wiener Straße in Kreuzberg standen sich „Bullen“ und „Autonome“ gegenüber, die Straße war mit Polizeifahrzeugen abgeriegelt. Seltsam nur, dass die Polizisten ganz entspannt wirkten, obwohl die jungen Antifas mit Baseballschlägern bewaffnet waren: Das hat es in Kreuzberg bisher noch nicht gegeben, auch nicht, dass die Kontrahenten neun Tage lang „kämpften“ – und zwar immer vor dem Fischrestaurant von Demirel in der Wiener Straße 10: Hier sollte sich eine Gruppe von Neonazis verschanzt haben. Tatsächlich war dieses Gartenlokal einst eine SA-Kneipe, mit einem „wilden KZ“ im Keller, wo sich eine Kegelbahn befand. Von hier aus stürmten die rechten Rollkommandos einst mehrmals das jüdische Kaufhaus gegenüber: Heute befindet sich dort eine Feuerwehrwache. Die Gefechte vor dem türkischen Restaurant waren inszeniert – für die RTL-Produktion „Abschnitt 40“. Der Regisseur hatte das Lokal in „Spreeklause“ umbenannt, der Wirt bekam für die Dauer der Dreharbeiten ein Ausfallhonorar. Zwar passte alles nicht recht zusammen: die Überbewaffnung der Autonomen, die Anwesenheit von Neonazis ausgerechnet in Kreuzberg und dann noch in einem türkischen Lokal, die Schüchternheit der Polizisten-Statisten -, aber eigentlich war das auch egal, denn fast täglich wird irgendwo in Berlin ein Aspekt aus der jüngsten deutschen bzw. Berliner Vergangenheit von einem Filmteam verbraten: RAF, 2. Juni, Stasi, Love Parade, Christiane F., Russenmafia, Führerbunker, Mauertote, der 8. Mai, der Kreuzberger 1. Mai, der 20. Juli, der 17. Juni, der 9. November – 1918, 1989.
Nicht zu vergessen die akuten filmisch aufbereiteten Juvenilprobleme mit Multikultitouch und deutschen Halbstars, die um Liebe, Sex, Eifersucht, Partydrogen, Schwangerschaft und Autorennen kreisen! Nicht nur leben immer mehr Ich-AGs davon, dass sie diesen Filmproduktionen in puncto Schminke, Catering, Kabel und Kostümen zuarbeiten, auch an den vielen Locations, die für diese Filme benötigt werden, bleibt immer mehr hängen: Der Tierpark in Friedrichsfelde verlangt zum Beispiel 200 Euro die Stunde fürs Drehen, das leer stehende „Café Moskau“ in der Karl-Marx-Allee nimmt 1.000 Euro pro Tag. Auch die Allianz-Versicherung als Besitzerin des einstigen Stasi-Versorgungstraktes in der Normannenstraße will für jede authentische filmische DDR-Vergangenheitsbewältigung 1.000 Euro täglich. Die Low-Budget-Filmer müssen sich deswegen etwas einfallen lassen. Der Regisseur Andreas Goldstein von Next-Film wich etwa für eine kleine Stasi-Szene in seinem Film „Detektive“ in den Trauungssaal des Standesamtes von Mitte aus, weil der nur 50 Euro die Stunde kostete. Bei bestimmten Locations wollen aber darüber hinaus auch noch die normalen Nutzer pekuniär ruhig gestellt werden: Im Märkischen Viertel war das eine die Dreharbeiten störende Jugendgang, der der Regisseur nur mit einer Einladung ins nächste McDonald’s beikommen konnte; am Bahnhof Zoo wurden neulich die Fixer von einem Fernsehteam laufend mit Bier und Tabak versorgt, damit sie sich so gaben, wie sie dort immer am U-Bahnausgang rumlungern; und auch die Gäste des Lokals „Stiege“, wo man früher gerne „Liebling Kreuzberg“-Szenen drehte, wurden kürzlich von einem Filmteam gebeten, sich „ganz normal, wie immer“ zu verhalten, also zu reden, zu essen und zu trinken. Dafür spendierte die Regisseurin ihnen Rotwein und Grappa. In Dimitris Kreuzberger Kneipe „Markthalle“, die vor allem durch „Herr Lehmann“ bekannt wurde und seitdem ein Schnitzel gleichen Namens auf der Speisekarte führt, scheinen viele Gäste nur darauf zu warten, dass sie dort mal wieder gefilmt werden – und dabei auch noch zu einer kostenlosen Mahlzeit kommen.
Viele russische Exilanten zieht es als Kleindarsteller nach Babelsberg: Einige der dort ansässigen Filmfilm-Firmen annoncieren seit „Stalingrad“ und „Der Pianist“ ihre Castingtermine dann auch regelmäßig in den hiesigen russischen Zeitungen. Andere verbinden ihr Casting listig mit Top-Events – wie eine „Miss-Ostdeutschland-Wahl“ in einer Rathenower Großdisko. Bei großen Atelierfesten und sonstigen Feiern passiert es immer öfter, dass plötzlich ein Kamerateam auftaucht – und statt dass die Gäste wie weiland die Kommune 1 oder die Kreuzberger Autonomen es sich verbeten, ohne Bezahlung gefilmt zu werden, zahlen die Filmer anschließend bloß den Gastgeber aus: für seine „gelungene Party-Inszenierung“, die genau genommen nur ihnen galt. Weil viele Partygäste es inzwischen sogar genießen, wenn sie vorübergehend in einen Filmscheinwerfer getaucht werden, gibt es auch bereits Fakefilmteams, die zu solchen Anlässen auftauchen und sich wichtig machen – obwohl sie überhaupt nichts drehen und auch gar keinen Film eingelegt haben. Wenn das Kino die Couch der Armen ist, wie Roland Barthes meinte, dann wird im Zeitalter des medialen Tittitainment der Kurz- und Kleindarsteller bald den Industrieproletarier ersetzen
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39.
1987 eskalierte am 1. Mai der Unmut über die polizeiliche Präsenz in Berlin-Kreuzberg derart, dass die Gegend um einen brennenden Supermarkt zu einer „bullenfreien Zone“ wurde. Der Innensenator ließ daraufhin den ganzen Stadtteil „SO36“ während des „Reagan-Besuchs“ von seinen Beamten abriegeln. Worauf die Provo-Aktionsgruppe „Büro für ungewöhnliche Maßnahmen“ mit einer Sperrung des Viertels – nach außen hin – reagierte. Diese wurde von den nach Autonomie strebenden Bewohnern des „Problembezirks“ auch gut angenommen. Das „Büro für ungewöhnliche Maßnahmen“ erlangte mit dem Dreierschritt Aktion-Reaktion-Gegenreaktion große Medienresonanz – und wurde alsbald als eine Art Straßen-Fronttheater von den Grünen beschäftigt. Damit drehte sich ihre Stoßrichtung aber um 180 Grad.
Spätestens beim darauf folgenden Wahlkampf hatten sie sich aus dem realen „Kiez“ verabschiedet. Der Kiez ist selbst wesentlich medial: Sogar die „militante gruppe“ (mg) spricht bei ihren strategischen Alternativen von „Formaten“! Ähnlich wie die des „Büros für ungewöhnliche Maßnahmen“ verlief auch die Performance von Christoph Schlingensief, die mit Kreuzberger Trashkunstfilmen begann. Seitdem rüttelt er an den Grenzen der Medien wie an Gitterstäben. Und schreckte dabei nicht mal vor einer Parteigründung zurück. Als „gelungen“ gelten jedoch vor allem seine Aktionen, die von der Straße aus ansetzten, wie etwa der Asylanten-Container in Wien.
Die Grünen haben sich jetzt für den Wahlkampf ebenfalls einen Container in das Gewimmel der Hauptstadt setzen lassen – von einem renommierten Architekten und ausgerechnet in der Amüsiermeile Oranienburgerstraße, neben dem Touristenkunsthaus „Tacheles“. Zwar interessiert sich dort kein Schwein für ihre Redeschwälle, dafür gewann aber ihre „Wählbar in der Modul-Box“ sofort mediale Aufmerksamkeit: ein Erfolg? In dem von Kreuzberger Künstlern herausgegebenen „Handbuch der Kommunikationsguerilla“ ist so ein Fall nicht vorgesehen: Hier geht es weniger darum, wie eine wichtigtuerische NGO irgendwie in die Medien kommen kann, sondern darum, da wieder rauszufinden. Man könnte auch sagen: Die Repräsentation ins Leere stoßen zu lassen – ohne dabei den ebenso fragwürdig gewordenen Begriff der Authentizität erneut zu strapazieren.
Diese und ähnliche Aktionen bzw. „Projekte“ sind zwar im Umfeld des Kreuzberger „Endart“-Humors entstanden, sie bevorzugen jedoch die Ironie: Erstere lässt sich fallen, bis auf das Schwarze unter dem Fingernagel, Letztere erhebt sich und ist subversiv – verliebt sich dabei jedoch allzu leicht in die Macht. So lehrt einer der Autoren des Kommunikationsguerilla-Handbuchs jetzt Kunst in Hamburg: „Wir dürfen nicht mehr miteinander reden – wir müssen kommunizieren“, prophezeite Baudrillard bereits 1984. Und Schlingensief kommuniziert nun direkt mit Politikern – in der Zeit: Angela Merkel, die er in einer Talkshow (sic) kennen lernte, findet er als Ärztin am Krankenbett der BRD „supersüß“, wenn ihm ein Wahlplakat der SPD nicht gefällt, ruft er da sofort an und macht einen Verbesserungsvorschlag, Schröder kann er aber „nicht mehr ertragen“ usw. Er übersetzt sich und uns seine Medienwelt und -personnage ins Alltagsleben – seine Fans sprechen von einem „Formtief“, er selbst meint, dass er schon während der Wahlkampfaktion ,Arbeitslose baden im Wolfgangsee‘ „ohne Mikro nur noch ein Gerippe war“. Von Kurt Jotter, dem Leiter des „Büros für ungewöhnliche Maßnahmen“, weiß man nur, dass er immer noch „nach ökologischen Erneuerungspotenzialen forscht“ und dass die „medienpolitische Sprecherin“ der Grünen ihn näher kennt. Die beiden Performancekünstler werden beim diesjährigen „TV-Duell“ ersetzt durch Lafontaine und Gysi, die ebenfalls eine ganz neue Partei gegründet haben. Mögliche linke Bewegungen motivieren sie nicht mehr mit Straßen-Provo, sie verlassen sich gleich auf ihre provokative „Medienpräsenz“. Selbst die taz, die sich anfänglich mit den Kreuzberger Grünen und nicht nur mit diesen quasi identisch gemacht hatte, verhielt sich erst einmal derart ablehnend gegenüber diesen beiden Sozialpausen-Clowns, dass der Aufsichtsrat sich veranlasst sah, trotz Satzungsbedenken da gegenzusteuern. So stellte sich mir das als Hilfshausmeister im Erdgeschoss dar. Genützt hat es wenig: Noch immer streitet man ernsthaft über „Pro und Contra große Koalition“ – und hält diese „Reality-Show“ für wirklichkeitsnäher als die Auftritte der „Linkspartei“.
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40.
Viele Leute haben sich mit dem Reichstagsbrand beschäftigt. Erwähnt seien der Westberliner Feuerkünstler Kain Karawahn, der seit der letzten Brandstiftung von Jugendlichen in einigen Schulen den kreativen Umgang mit Feuer lehrt, sowie die Ostberliner Geigenbauerin Julia Dimitroff, die gleichzeitig „dienstälteste Radiopiratin“ der Stadt. Seit 1995 betreibt auch sie Reichtagsbrandforschung, mit der sie sukzessive die Spiegel-These aufweicht, wonach der durchgeknallte und halbblinde holländische Anarchist Marinus van der Lubbe der Alleintäter war. Sie veröffentlichte immer neue Details über den wahrscheinlichen Täter Wilhelm Brauser, „den vorher alle bloß als einen agent provocateur der Nazis hingestellt hatten, auch der Spiegel“.
Nun sind Kunstmaler, obwohl oder gerade weil sie so hoch übers Auge organisiert sind, keine besonders guten Leser. Dennoch ist es schon ein stark ignorantes Stück, wenn jetzt der Maler Sigurd Wendland plötzlich mit einem Ölschinken (210 x 150 cm) daherkommt, auf dem ein grinsender Brandstifter Benzin an den Reichstag kippt – und dann das Ganze „Wenn Marinus wieder kommt“ nennt. Weil Wendland diese Bild- und Titelidee so unwahrscheinlich gut fand, hat er sie auch gleich noch als Großplakat an einige ausgewählte Orte kleben lassen. Zum Beispiel in der einstigen Abfackelhochburg Kreuzberg, wo seine Plakate gleich an mehreren Stellen hängen.
Der 1949 in Münster geborene und an der HdK ausgebildete Wendland gehört zu den Berliner Neorealisten und ist mittlerweile ein bekannter Porträtist. Unter anderem ließen sich Joseph Weizenbaum, Hans-Christian Ströbele und F. W. Bernstein von ihm malen: „Ein Großformat mit Händen und Füßen kostet statt 4.900 nur 3.900 Euro“, heißt es dazu auf der Webpage des Künstlers, der vor seiner Plakataktion auch schon mit einer fahrbaren „Galerie am Straßenrand“ Werbung für seine Bilder gemacht hat. Vielleicht wollte er jetzt mit seinem „Marinus“-Großbild den Volkszorn hervorlocken.
In Berlin hat jedoch niemand etwas gegen einen neuerlichen Reichstagsbrand: Je eher die Politiker sich wieder zurück nach Bonn scheren, desto besser! Sie haben einen derartigen Rattenschwanz von unangenehmen Lobbyisten, Politikberatern, Body-Guards und Absahnern hinter sich her gezogen (u. a. ganze Unternehmensberatungsfirmen, die auf weitere Privatisierungen hoffen), dass einem hier langsam, aber sicher jede Lebensfreude vergällt wird. Überhaupt ist „Hauptstadt“ etwas völlig Bescheuertes und „Reichstag“ der Gipfel, insofern hat der Künstler da ein durchaus richtiges Sujet-Gespür gehabt. Aber statt auch nur ein bisschen zu recherchieren, was es denn mit der ersten Reichstagsbrandstiftung wirklich auf sich hatte, die schon allein wegen der Größe des Objekts gar nicht von einem Menschen allein ausgeführt werden konnte, hat er dabei nur dumpf die seinerzeit noch von Alt-Gestapos lancierte Version des Spiegel wieder aufgewärmt, mit deren Verteidigung der Münchner Staatshistoriker Mommsen sich bereits demeritierte.
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41.
Alles ist im Fluss: Bereits kurz nach der Wende entstand um die Margarinefabrik in der Auguststraße ein neues Kunstzentrum – und dem alten in Kreuzberg drohte eine schleichende Abwicklung. Um dem entgegenzuwirken, entschlossen sich das Künstlerhaus Bethanien, die Kunsträume des Bezirksamts im Bethanien, die NGBK in der Oranienstraße 25 und das Werkbund-Archiv im selben Haus zu einer engeren Zusammenarbeit. Man würde darüber hinaus auch noch weitere Kunstinstitutionen in das halb leere Krankenhaus Bethanien einquartieren, wenn nicht dessen linker Flügel von den so genannten Yorckstraßen-Besetzern mit Beschlag belegt worden wäre. Diese wollen alle möglichen sozialen Initiativen dort hineinziehen lassen. In der Stadt gibt es jedoch keinen Mangel an Räumen, sondern eher einen an Initiativen. Erst einmal sind jedoch jede Menge Parteien (Grüne, WASG, PDS etc.) auf diese Besetzung raufgesprungen, um in ihrem Fahrwasser Eindruck zu schinden – in der Hoffnung, so auch im Fluss zu bleiben. Zu diesem Problem präsentierte gerade Adrienne Goehler in den Kunstwerken in Mitte ihr neues Buch „Verflüssigungen“. Gleichzeitig eröffnete im Kreuzberger Kunstraum eine Gruppenausstellung mit dem Titel „Liquid Matter“ – also ebenfalls über flüssige Dinge beziehungsweise Angelegenheiten. Und in der taz erschien ein langes Porträt von Zygmund Baumann, dessen vorletztes Buch von den „überflüssigen Menschen“ handelt – die sich zu wahren Migrantenströmen verdichten.
Unter Flüssigkeit versteht man einen Stoff, der einer Formänderung keinen, einer Volumenänderung jedoch großen Widerstand entgegensetzt. Adrienne Goehler spricht von der „flüssigen Moderne“, der alles Feste nur zu einer (vorübergehend) „geronnenen Bewegung“ wird. Wobei sie dann unter (Wieder-)“Verflüssigungen“ vor allem „Ansätze“ versteht, „die künstlerisches, wissenschaftliches und Bewegungswissen verbinden“. Dazu zählt auch die Bethanien-Ausstellung, insofern dort bei der Beschäftigung mit „Liquid Matter“ künstlerische und wissenschaftliche Mittel zur Anwendung kommen. So befasst sich der Norweger Are Viktor Hauffen mit dem Oberförster Viktor Schauberger, der das Fließverhalten von Wasser studierte und aus Strudeln und derart verzopftem Wasser Implosionskraftanlagen ableitete, deren „Reibungshöhe gegen null“ geht. Der rumänische Künstler Dan Mihaltianu archivierte seine Sammlung von Alkoholika, die er zuvor mit unterschiedlichen Gärstoffen und an diversen Orten in selbst gebauten Kolben destilliert hatte. Wo Goehler die „Wege und Umwege vom Sozialstaat zur Kulturgesellschaft“ nachzeichnet und dabei so manchen „Ausweg“ für die „Überflüssigen“ aufzeigt, sind die Flüssigkeitsforscher bereits als international tätige Berufskünstler angekommen. In gewisser Weise ist damit das Thema ihrer Arbeit („Liquid Matter“) mit ihrer neonomadischen Existenzweise identisch geworden. Diese zweifache Deterritorialisierung wird jedoch nach wie vor im Künstlertum reterritorialisiert, trotz oder wegen Wohnungen und Ateliers in gleich mehreren Städten. Von einer Unbehaustheit, wie sie den Migranten kennzeichnet, kann also keine Rede sein. Das neonomadische Künstlertum (im rechten Bethanienflügel) unterscheidet sich vom notnomadischen Proletariat, dem sich die Yorckbesetzer im linken Bethanienflügel zuzählen, dadurch, dass Erstere trotz mehrfacher Immobilität immer in Bewegung bleiben müssen, was ihnen nur durch Berufskunst gelingt, während Letztere ständig hinter sozialen Bewegungen her sind, die sie notfalls simulieren, um sich und sie zu immobilisieren. Die Profikunst gehört noch zur Rheologie und die Berufsrevolte schon zur Rheomatik: Wenn Erstere eine (pädagogische) Bewegungslehre meint, kommt Letztere einem (hysterischen) Bewegungszwang nahe.
P.S.: Die Sache geht dann erst mal so aus 2009, dass das Künstlerhaus Bethanien im Nordflügel grollend aus- – und woanders hinzieht, also sozialpolitisch mauert, und das „Neu York“ im Südflügel sich zu einem linken Veranstaltungszentrum mausert, zuletzt richtete es einen Anarcho-Kongreß aus und gewährte einer von Abschiebung bedrohten Roma-Großfamilie obdach.
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42.
Die erste Verwandlung einer Kirche in ein Kulturzentrum sah ich in dem Hippiefilm „Alice’s Restaurant“. Schon damals fanden viele diese Umnutzung ins Multifunktionale von unten vorbildlich. 20 Jahre später ist auch die Kreuzberger Heilig-Kreuz-Kirche am Blücherplatz diesen Weg gegangen: Mit 12 Millionen Mark und 185 ABM-Kräften wurde ein gläserner Fahrstuhlturm eingebaut, mit dem man in die neuen Räume über der Halle gelangt, die nicht genutzten Seitenschiffe und das Emporengeschoß wurden durch Stahl-Holz-Konstruktionen erschlossen, in der Kirchenhalle eine Küche und ein Café eingerichtet. Es finden jetzt täglich Veranstaltungen, Konzerte und Diskussionen dort statt. Federführend beim Umbau war der bei „Asyl in der Kirche“ aktive Pastor Quandt. Bereits kurz nach Einweihung des Gemeindehauses 1966 war ein „Miniclub“ für deutsche und türkische Kinder entstanden. Seit 1973 werden „Deutsch-Türkische Gemeindefeste“ gefeiert, es gibt inzwischen auch zwei türkische Mitarbeiter. Nach dem Tod Kemal Altuns wurden das erste Mal von Abschiebung bedrohte Flüchtlinge aufgenommen und eine Beratungsstelle eingerichtet, aus der der Verein „Asyl in der Kirche“ entstand.
100 Jahre nach der Einweihung der Heilig-Kreuz-Kirche, die im übrigen bis 1950 stets ein Hotspot der Erzreaktion war, „hat sich die Gemeinde zu einem Zentrum der Ausländerarbeit entwickelt“, so eine Chronik 1988. Seit der Besetzung der Kirche 1974 durch – damals noch nicht isolierte – RAF-Sympathisanten „wurde die Gemeinde immer wieder mit politischen Ereignissen konfrontiert“. Und so ist es vielleicht kein Zufall, daß die Heilig-Kreuz-Kirche bei der Modernisierung und Reattraktivierung der Berliner Großkirchen eine „Pilot“-Funktion hatte.
Die zweite Umwandlung steht kurz vor der Fertigstellung: Es ist die ebenfalls über 100 Jahre alte Emmaus-Kirche am Lausitzer Platz. Geschäftsführende Pastorin ist hier Ulla Franken. In der Emmaus-Kirche wurde nur das Turmgebäude umgebaut: In mehreren Ebenen gibt es jetzt Funktionsräume, die über Treppe und Fahrstuhl zu erreichen sind, unten befinden sich eine Küche und ein Café, im Keller Spielräume. Die erst in den fünfziger Jahren gebaute und sehr menschlich dimensionierte Kirchenhalle aus Beton und Holz, die mit dem Turm durch eine nunmehr integrierte „Pergola“ verbunden ist, wurde so belassen. Auch die Emmaus-Gemeinde versuchte sich Anfang der siebziger Jahre mit einem Jugendclub im Gemeindehaus zu attraktivieren, hier „scheiterte“ man aber – wohl infolge des „gewandelten Lebensgefühls durch die 68iger-Bewegung“, wie die Chronistin Carmen Schäfer meint. Genauso wurden die deutsch-türkischen Begegnungen wieder eingestellt. Geblieben ist die „Arbeit an Obdachlosen“.
Eine dritte „Fusion“ – der Thomas-Kirche am Mariannenplatz mit dem Künstlerhaus Bethanien – scheiterte an der Finanznot des Kultursenats. Dabei hätte sie vielleicht noch mehr als die anderen beiden das eingeleitet, was die Obdachlosenzeitung motz in ihrer Aprilausgabe (9/69) – „Trennung von Armut und Kirche?“ – fordert, um dem nur architektonisch parierten „Gemeindesterben“ entgegenzuwirken: 1. nichtgetaufte Mitglieder zuzulassen, 2. auch nichtchristliche Mitarbeiter einzustellen, 3. die Kirche zu entklerikalisieren, 4. die Überkirche EKU abzuschaffen, 5. sich an das Bekenntnis „Ich glaube an Gott, den Ohnmächtigen“ heranzuwagen.
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43.
Der Heinrichplatz ist das Zentrum von Kreuzberg 36. Auf einem seiner Viertelinseln stand 100 Jahre lang ein altes Berliner Pissoir – aus Gusseisen. Ein paar kleine Teile waren zerbrochen, die Farbe blätterte ab, es war voll mit Graffitis. Eines Tages war es verschwunden. Aus dem Bezirksamt hieß es, dass es repariert werden sollte. Stattdessen legte dort jedoch das Gartenbauamt ein Blumenbeet an. Dieses wurde ein paar Jahre später von der ins Rathaus eingezogenen KPD/RZ mit einer Sitzbank versehen, die auch gut angenommen wurde.
Zum Pissen musste man/frau jedoch bis zum Mariannenplatz gehen, wo am Parkrand ein 80er-Jahre-Pissoir steht, das allerdings oft abgeschlossen ist. Es ersetzte dort ein Altberliner Pissoir, das einst wie jenes auf dem Heinrichplatz aussah. Während des Krieges hatte ein Arbeiter aus der Muskauer Straße dort an die Pinkelwand geschrieben: „Hitler, das Schwein, gehört ermordet!“ Er war denunziert und dann hingerichtet worden.
Das vom Bezirksamt demontierte und dann eingemottete Pissoir vom Heinrichplatz ist kürzlich wieder aufgetaucht: am Rüdesheimer Platz. Dort ist nicht nur der U-Bahnhof unten komplett geschmückt mit goldenen Weintrauben, Rebstöcken, Rebläusen und Weinblättern aus Keramik und Mosaiksteinen. Oben gibt es auch einen Park – den „Rüdi“ – mit einem Wasserfall und einem Weinkiosk, „Rheingauer Weinbrunnen“ genannt. In diesem Kiosk wird seit nunmehr 40 Jahren Wein aus der Rüdesheimer Umgebung ausgeschenkt. Die meisten Gäste – einige hundert an guten Tagen – kommen aus der Nachbarschaft. Es ist ein etwas angestrengtes Mittelschichtenpublikum. Eine Sekretärin, die sich mit einem Kinderklamottenladen und der AEG-Abfindung ihres Mannes selbstständig machte; eine Hausfrau, die ihr Hobby zum Beruf machte und einen Spielzeugladen eröffnete; eine Ex-Kitaleiterin, die mit einem Zahnarzt verheiratet war, und so weiter. Der Weinkiosk hat nur im Sommer auf, und dann standen da auch zwei Dixiklos. Weil diese oft stanken, hatte das Bezirksamt Wilmersdorf heuer schließlich ein Einsehen: Es besorgte sich das Altberliner Pissoir aus Kreuzberg, ließ es aufmöbeln und stellte es an den Rand des Rüdesheimer Parks – anstelle der Dixiklos.
Von ungeheuerer Umverteilungsmentalität zeugt auch die Instandsetzung der Kaskade am Lietzensee, die jahrelang ähnlich wie die Pamukale im Görlitzer Park vor sich hinbröselte. Der eine wie der andere Bezirk hatten kein Geld, um sie zu renovieren – obwohl beide früher einmal wahnsinnig stolz auf die Wasserspiele waren. Charlottenburg konnte jetzt jedoch die Stiftung Denkmalschutz gewinnen, die Kaskaden für 180.000 Euro wieder instand zu setzen. Im Kreuzberger Park bröselt die Pamukale immer weiter vor sich hin. Etwas anders ist die Problematik im Neuköllner Körnerpark gelagert: Dort ist alles prima in Schuss – die Blumen blühen und das Wasser sprudelt, aber alle zehn Minuten donnert ein Flugzeug über den Park – zum Flughafen Tempelhof. Eigentlich sollte dieser längst geschlossen sein, aber weil die Reichen und Schönen ihn als „City-Airport“ entdeckt haben, starten und landen dort weiterhin Jets. Während der WM waren es so viele, dass die Standplätze auf dem Flughafen nicht mehr ausreichten. Logisch, dass es nun eine anschwellende Lobby gibt, die sich für den Erhalt des „City-Airports“ stark macht – über den Schließungstermin im März kommenden Jahres hinaus. Der schöne Körnerpark in der Einflugschneise ist darüber fast zu einer No-go-Area geworden.
P.S.: Nachdem man einen US-Investors, der zuvor schon den Check-Point-Charly architektonisch und sozial versaubeutelt hatte, mit seinem Plan abgeschmettert hatte, aus dem größten Flughafengebäude der Welt eine Klinik für Superreiche zu machen, in die sie mit ihrem Privatjet einfliegen können, wurde Tempelhof dann doch dicht gemacht. Und nun überlegt man sich, was aus dem riesigen Areal werden soll.
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44.
Erneut hat der Grünenpolitiker Özcan Mutlu die Wahl in Kreuzberg gewonnen – mit der Forderung: „Respekt.“ Dazu gibt es 569 Millionen Interneteintragungen: Respekt-Vereine, -Initiativen, -Kampagnen … In Kreuzberg heißt eine neue Uschi-Kneipe „respectbar“. Und Psychologie Heute machte ein „Thema“ daraus, das um „Selbstachtung“ und „Anerkennung“ kreist. Schuld daran ist ein Song der schwarzen US-Sängerin Missy Elliott: „Respect me“, aus dem Adidas eine „Respect me“-Kollektion kreierte. Dem Hit ging 1995 ein gleichnamiger von James Brown voraus. Die Zeit vermutete, es gehe dabei um „Respekt statt Demütigung“.
Als ich noch im Rap-Alter war, fühlten wir uns gerade durch die Einforderung von Respekt gedemütigt. Unsere postfaschistischen Lehrer herrschten uns laufend an: „Mehr Respekt bitte!“ Überhaupt wollten alle alten Arschlöcher als „Respektspersonen“ behandelt werden. Sie traten schon „respektheischend“ auf. Uns wurde darob jeder Respekt suspekt! Die neudeutsche Respekt-Lawine wurde in der afroamerikanischen und turkoarabischen Popkultur losgetreten, deren „Anhänger“ zwar (noch) nichts darstellen, nichts haben und auch nur wenig können, dazu werden ihnen auch noch alle Entfaltungsmöglichkeiten verbaut, dennoch fordern sie „Respekt“ – sie wollen nicht noch zusätzlich gedemütigt werden: In vielen Berliner Discos werden sie von den Türstehern abgewiesen; von der Polizei bevorzugt visitiert, gefilzt und besonders gemein behandelt; bei Bewerbungsgesprächen zeigt man ihnen, dass man wenig von ihnen hält; in den Läden werden die Besitzer bzw. Ladendetektive aufgeregt…
Aber da kommt nun unser grüner Kreuzbergpolitiker Mutlu – und fordert: „Mehr Respekt!“ Ja sogar laut Tagesspiegel: „Schulen müssen wieder Orte von Respekt sein.“ Das bezog sich auf „die zunehmende Gewalt nicht nur an Hauptschulen“ (Schulsenator Böger) – auf „Respekt statt Zusammenschlagen“, also jeden als solchen zu „respektieren“. In der Schule u. a. die Kleinen und Schwachen – also doch eher die kerndeutschen Streber als die körperbewussten turkoarabischen Schüler? Früher sagte man: „Leben und leben lassen“ – eine Art Toleranzgebot. Auch die vielgerühmte „Toleranz“ war uns herzlich verhasst: Sollte man es etwa „tolerieren“, dass alles in die Grütze ging?! Zuletzt setzte sich der Philosoph Jacques Derrida mit dem Wort auseinander.
Er meinte, dass die „Toleranz“ immer von einer Position der Überheblichkeit, von oben, ausgehe. Deswegen wollte er lieber von „Gastfreundschaft“ sprechen – die heilig ist. Es gehe nicht darum, seinen „Gast“ zu tolerieren oder zu respektieren, sondern darum, ihn uneingeschränkt zu bewirten. Vor einiger Zeit flüchtete ein von der Blutrache verfolgter Kurde in das Haus seiner Mörder – nur da war er sicher: Ihn schützte die heilige Gastfreundschaft. Die Wege, „sich Respekt zu verschaffen“, sind ebenso heidnisch-monotheistisch wie von unten und oben umkämpft. Mutlu predigt ihn zugleich von oben – als integrierter Regionalpolitiker (einer toleranten Partei) und fordert ihn von unten – als „Sprecher“ einer turkoarabischen „Scene“. Das gilt auch für viele schwarze Rapperinnen, die aus ganz bieder-religiösen Mittelschichtfamilien kommen, aber um ihrer Karriere willen eine toughe Ghettoechse mimen. Die „Gewalt“ (auf Straßen, Schulhöfen etc.) ist „furchtgebietend“ – der „Respekt“ aber ebenso. Man kann ihn ebenfalls den Menschen „beibringen“ – nachhaltig einbläuen. „Zur rechten Zeit erteilte Hiebe – erwecken Vertrauen, Furcht und Liebe“ – dieser altdeutsche Spruch hängt immer noch in einigen Küchen hierzulande. Für Mutlu ist „Respekt“ mit dem Wunsch nach „Integration“ verbunden – und umgekehrt. Letzteres ist jedoch auch so ein Ekelbegriff – ein Polizei- und Lehrerwort. Der Hannoveraner Sozialforscher Peter Brückner, der einst aus der DDR in die BRD flüchtete und hier zunächst einen gutbezahlten Scheißjob in der Wirtschaft annahm, schrieb später über die notwendige Distanz zum Schweinesystem: „Dass der Entschluss befreiend war, dass mich das Geld politisiert hat (und nicht, wie die jungen Generationen, die Sexualität), hat eine Moral. Es gibt Zustände – individuelle wie gesellschaftliche – in denen einzig ein Stück Ruchlosigkeit produktiv ist und wo die ,individuelle Interessen-Orientiertheit‘ viel weniger sozial integriert als Armut, Sozialarbeit, Tugend.“ Das gilt heute erst recht, wobei Ruchlosigkeit so viel heißt wie: „unbekümmert gegenüber dem, was [offiziell] geheiligt ist“. In anderen Worten, es geht stets um: „Always Ultra!“
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45.
Die Zeitungen berichteten letzte Woche von Rüpeleien im Prinzenbad. Im Berliner Kurier war von „Sex-Anmachen übelster Sorte“ und schwerer Randale die Rede: „Den Ärger haben wir mit den Türken und Arabern“, wurde der Badebetriebsleiter zitiert. Einen Tag später hieß es, die Politiker fordern, das Bad trockenzulegen, um nach der Idee des Innen- und Sicherheitsexperten der CDU Kurt Wansner „bei den Machos einen Denkprozess anzuregen“. Und der Kreuzberger CDU-Chef Wolfgang Wehrl sagt: „Das Maß ist voll! Frauen trauen sich da kaum noch hin. Im Tagesspiegel nimmt der Autor des Buches „Prinzenbad – 50 Jahre Eintauchen in Kreuzberg“ Matthias Oloew seine rosa Brille ab: „Das Bad droht zu entgleiten“, die Stammschwimmer würden aufgrund der Rüpeleien von „Jugendlichen mit Migrationshintergrund“ zum schicken Badeschiff nach Treptow abwandern.
An einem Nachmittag darauf sitze ich mit meinem Istanbuler Freund Doruk am Beckenrand, und wir wundern uns. Im Bad befinden sich mehr Journalisten als Badegäste und zusätzlich Polizisten in Badehose, „um sich ein Bild zu machen“. In der schmeichelhaften Nachmittagssonne wird gerade der Badeleiter fotografiert. Dem Schwimmmeister an unserem Becken folgt eine Jungjournalistin mit Riesensonnenbrille, während sich ihre Kollegin mit einem Monsterobjektiv auf die Suche nach Arschbomben mit Migrationshintergrund macht.
Mittlerweile hat sich das Bad mit den „Spätschwimmern“ gefüllt. Hier, wo „junge Frauen keinen Schritt tun können, ohne dumm angequatscht zu werden“ (Tagesspiegel), bevölkern nun vor allem Oben-ohne-Sonnenanbeterinnen die Terrasse am Kaltbecken. Die Jugendlichen nehmen davon wenig Notiz. Nur hin und wieder springt der Bademeister für die Journalistin auf, um etwa einen Jungen zu schelten, der mit seiner klatschnassen Badehose über die anderen Gäste hüpft.
Ich versuche mich krampfhaft zu erinnern, ob ich hier jemals eine „Vollverschleierte“ habe baden sehen, was hier angeblich an der Tagesordnung ist, kann mich aber nicht erinnern. Neben uns versammeln sich einige arabeske Zwölfjährige und tropfen auf meine Tasche.
Ich erinnere mich, dass im Sommer 2004 die Kopftuchträgerinnen und das Grillen im Park, ganz besonders aber bekopftuchtes Grillen im Park das Sommerloch in Berlin füllten. Als ich im Jahr darauf nach Istanbul kam, bestimmten das Kopftuchverbot und das Grillen im Park auch dort die Schlagzeilen. Das alte Bürgertum und die neue Mittelschicht der Stadt sahen sich einer Flut von Zuzüglern bäuerlicher Herkunft gegenüber, die immer selbstbewusster die öffentlichen Räume besetzten. Als im Sommer 2005 nach einer Unterbrechung von mehreren Jahrzehnten (aus Umweltgründen) die Strände Istanbuls wieder eröffnet wurden, brachte dies ein Stadtverwalter folgendermaßen auf den Punkt: „Das Volk erstürmte die Strände, die Bürger konnten nicht baden.“ Auf der einen Seite die Bürger, auf der anderen das lästige Volk.
Wann immer in der deutschen Presse von Straftaten oder Ordnungswidrigkeiten berichtet wird, darf der Hinweis auf die Herkunft nicht fehlen. Politisch korrekt wird dann von Migrationshintergrund gesprochen. Laut dem Stadtforscher Tom Hayden hat sich in den USA bereits der Bergriff „Kriminelle“ als Codewort für Rasse durchgesetzt. „Das Rassenproblem, das einst viele Sympathien der Mittelschicht erhielt, ist nun rhetorisch in ein Kriminalitätsproblem verwandelt worden.“
Kreuzberg ist ein Migrationsbezirk. Das ist er seit seiner Gründung in den 20er-Jahren des 19. Jahrhunderts, als die Stadt aufgrund des Zuzugs dringend benötigter Arbeitskräfte schnell anwuchs. Armut, häusliche Enge und ein geringes Bildungsniveau haben hier Tradition. Wenn die Politiker auf die ausländische Herkunft sozialer Probleme hinweisen, ist dies ein Spaltungsversuch. Da ist das Volk ohne (Frühschwimmer-)Kultur, und hier sind wir Bürger und können nicht baden. Die Presse, die sich als Sprachrohr der Mittelschicht versteht, schreibt diesen Äußerungen hinterher. Unwahrheiten werden kritiklos zitiert. Die sozialen Probleme interessieren nur wenig.
Gleichzeitig ziehen immer mehr „Besserverdienende“ in den Bezirk und tragen zu einer Umstrukturierung des öffentlichen Raumes bei, wie etwa am Kreuzberger Oranienplatz. Auf der Webseite des überengagierten Bürgervereins Luisenstadt e. V. ist zu lesen, dass man sich wünscht, wieder deutsche Rentner auf dem Platz anzutreffen. Die finden die sanierte Variante übrigens wirklich prima. Deutsche Rentner mit meist türkischem Migrationshintergrund bevölkern zahlreich die Bänke entlang der Hauptachse. Etwas schattiger mögen es die deutschstämmigen Biertrinker unter den Bäumen.
Das großzügig gestaltete Prinzenbad ist aus heutiger stadtplanerischer Sicht purer Luxus. Zudem zahlt ein Großteil der Gäste nur das Sozialticket. Die Kosten für den Betrieb kommen nicht ausreichend wieder rein. Als die Anlage in den 50er-Jahren geplant wurde, sollte sie ganz praktische Probleme lösen: 80 Prozent der Kreuzberger Bevölkerung lebte in beengten Verhältnissen ohne eigenes Bad. Bis 1975 unterstanden die Bäderbetriebe deshalb als Einrichtungen der Volkshygiene dem Gesundheitsamt, danach der Sportverwaltung.
Heute dominieren ökonomische Probleme. Viele Familien sind von Armut bedroht. „Bei den Kindern arabischer Herkunft ist es am schlimmsten“, erklärt mir Hadi (Migrationshintergrund: iranisch), ein Stammschwimmer des Prinzenbades. „Zu Hause hören sie ständig die Eltern von Abschiebung reden, dann kommen sie hierher und können sich nicht einmal ein Eis leisten. Das ist frustrierend. In den Männerduschen gibt es oft Ärger. Viele haben keine Ausbildung, keine Perspektive. Nun will man sie auch hier abschieben. Aber das Problem ist damit nicht gelöst.“
Hadi hat noch eine Vermutung, worum sich der Streit über das Prinzenbad auch dreht. „Manchmal glaube ich, die wollen die große Wiese abteilen und dort vielleicht einen Mini-Golf-Platz einrichten. Deshalb wird jetzt so ein Wind gemacht.“
Tatsächlich wird derzeit mit den Berliner Bäderbetrieben ein Pilotprojekt realisiert, das 2008 offiziell starten soll: Schlafboxen für Eventtouristen. Fünf wurden bereits produziert. „Wenn alles klappt, sollen die Boxen noch in diesem Jahr aufgestellt werden. So der Bäderchef Klaus Lipinsky. Die ersten „Public Pool Lounges“ will man im Prinzenbad aufstellen. „Das ist ideal, denn es ist das einzige Freibad mit U-Bahn-Anschluss und hat Kultstatus“, freut sich Michael Lehner, einer der Konstrukteure der Boxen. Er versucht nun eine Genehmigung dafür zu bekommen, was aufgrund des Flächennutzungsplans nicht ganz einfach ist. Die nächste Konkurrenz um Raum ist damit vorprogrammiert. (Gastkolumne von Antonia Herrscher)
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46.
Im linken Flügel des Künstlerhauses Bethanien ging gerade die 19. Juryfreie Kunst- und Verkaufsausstellung „Querschnitt“ zu Ende – mit 550 Werken, darunter besonders viele Tierbilder. Verkauft wurden davon genau 25. Zur gleichen Zeit fand im rechten Flügel – im „Kunstraum“ – erneut die senatsgeförderte Ausstellung „Goldrausch“ statt mit Werken von 15 Künstlerinnen. Der Unterschied zwischen beiden war offensichtlich: Moderne Künstler(innen) nehmen heutzutage „Projekte“ in Angriff (Installationen, Videofilme, etc.). Sie sind oder werden also professionelle „Projektemacher“. Die Laien und Hobbymaler fertigen hingegen nach wie vor gerne Bilder an – mit Tusche, in Öl oder Aquarellfarben, die sie anschließend sauber rahmen. Viele Besucher, die erst nach rechts in den Kunstraum zu „Goldrausch“ gingen und dort beispielsweise auf Projektionen stießen, auf zerfetzte Styroporplatten und zerdeppertes Geschirr, meinten denn auch mehr oder weniger entsetzt: „Das soll Kunst sein?!“ Auf der anderen Seite, also der „Querschnitts“-Ausstellung, wo die ordentlichen Bilder hingen, beruhigten sie sich dann langsam wieder.
Seltsamerweise hängt der alte Junge Wilde vom Moritzplatz, Markus Lüpertz, inzwischen einem ganz ähnlichen Kunstbegriff wie die Laien an: Er war 1970 Stipendiat in der Florentiner „Villa Romana“ und hat diese Stätte später noch einmal besucht. 2005 berichtete er darüber in einer Rede, die Die Zeit nachdruckte. Früher, so Lüpertz, war das ein Ort, wo noch echte Maler „Bilder“ schufen, in denen sich das „Licht“ der Toskana spiegelte, „die Freude und das Glück, hier zu sein“. Aber „heute ruinieren Projektemacher dieses Künstlerhaus“ und die „Kunstwelt wird, auch in Italien, mit Projektveranstaltungen überflutet“. Ja, „Florenz selbst wurde Projekt und somit Spielball internationaler Vergleiche und Besserwisserei, der Zeitgeist vertrieb die Faune und Nymphen …“ Konkret: Statt „Farben und Staffelei“ stellten die Stipendiaten nun zum Beispiel eine gefundene „rostige Schaufel“ da hin, die sie sodann in einen Zusammenhang mit „Kindesmisshandlung“ brachten, um so eine „Weltschuld zu konstruieren“ – also übelste Projektemacherei.
Interessant an dieser Rede ist, dass Lüpertz 1995 noch ganz anders dachte: Da hatte er großkotzig in einem SFB-Berlinalefilm mit dem Titel „Wüste Westberlin“ getönt: „Erst wir“ – die Jungen Wilden in der „Paris-Bar“ – haben „Berlin an den Weltkunstmarkt angeschlossen“. Inzwischen hat die „Paris Bar“ Konkurs angemeldet. Schon einige Jahre zuvor war ein Gutachten des Senats über die „Berliner Kunstscene“ zu dem Ergebnis gekommen: Die vor der Wende berühmt gewordenen Künstler (in Ost- und Westberlin) seien nicht mehr angesagt – aber das mache nichts, es werde schon etwas Neues entstehen über kurz oder lang. Eine besondere Förderung brauche es dazu nicht. Die CDU ließ sich damals jedoch nicht davon abhalten, zum Beispiel den frisch in der Hauptstadt eingetroffenen Jungkurator Klaus Biesenbach und seine „Kunst-Werke“ in Mitte besonders zu fördern. Kurz darauf verkündete Ober-CDUler Klaus Landowsky: „Die interessante Scene“ habe sich nach Mitte verlagert, während in Kreuzberg nur „Junkies, Gewalt und Ausländer zurückblieben“. Unter dieser Wichtig-wichtig-Verschiebung leiden seitdem die dort zurückgebliebenen Kunstinstitutionen – die NGBK in der Oranienstraße, der Kunstraum und das Künstlerhaus Bethanien. Für sie werden das Geld und die mediale Aufmerksamkeit knapper. Sie haben sich zusammengetan, um gemeinsam stark zu sein, das heißt, um nicht den Anschluss an den „Weltkunst“-Projektbetrieb zu verlieren. Dem stehen jedoch einige Bezirkspolitiker entgegen, indem sie sich für das Verbleiben einiger Hausbesetzer im linken Bethanienflügel engagieren – demnächst mit einem „Runden Tisch“, der aus dem Bethanien ein soziokulturelles „Kiezprojekt“ machen soll, das bestenfalls den lokalen „Kunstmarkt“ bedient, so wie die „Querschnitte“.
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47.
Ich war nur einmal im Goldenen Hahn am Heinrichplatz – mit einer kleinen Abspaltung einer großen bayerischen Reisegruppe, die die Grüne Woche besuchte. Die Abspaltung hatte in den Medien viel von Kreuzberg gehört: Randale, Punks, Türken und „Kreuzberger Nächte sind lang“. Das alles und noch viel mehr wollten sie endlich selber sehen und erleben. Und weil sie mich am Bayernstand so großzügig eingeladen hatten, lotste ich sie im Gegenzug in den Goldenen Hahn – nicht wissend, dass Ausländer, und dazu gehörte auch ich, dort eigentlich nicht gerne gesehen waren. „Werbung machen?“, rief die Wirtin Inge einst auf die Frage des Autors und Stammgastes Thomas Kapielski entsetzt. „Bist du bescheuert? Dann kommen ja Fremde!“
Auch wusste ich nicht, dass die „Kreuzberger Nächte“ im Goldenen Hahn gerade nicht lang sind: Um 17 Uhr ist dort Feierabend. Es ist eine nachtsteuerbefreite „Tagesbar“ mit meistens runtergelassenen Rollläden und einer Klingel an der Tür. Die Bayern verdrießte das alles nicht: Sie genossen das billige Bier und erzählten sich Dorfwitze. Einen habe ich behalten: Der Knecht kommt atemlos zum Bauern gerannt: „Deine Frau treibt es mit dem Nachbarn auf der Wiese!“ Der Bauer schaut zum Fenster raus und meint: „Reg dich ab, ist nicht meine Wiese!“ Zu den Stammgästen des Goldenen Hahn gehörte neben Kapielski und anderen Künstlern auch der Verleger Bernd Kramer, der sogar einen „von schweren Ketten gesicherten Schnapsglasdeckel hat, der an der Wand neben seinem Stammplatz an eigens dafür eingelassenen Ringen befestigt ist“. Kramer hat kürzlich ein ganzes Buch mit Geschichten über die Kneipe veröffentlicht. Nachdem ich das jetzt gelesen habe, bedauere ich es, den Goldenen Hahn nicht öfter angesteuert zu haben. Aber nun ist es zu spät: Inge ist in Rente gegangen!
Die meisten ihrer Gäste sind im selben Alter, lassen sich das jedoch nicht anmerken – und waren deswegen entsetzt, als sie von Inges Schließungsbeschluss hörten. Kapielski und Kramer wandten sich in ihrer Not an die Unesco, um die Kneipe als „Weltkulturerbe“ anerkennen zu lassen: Sie sei „ein einzigartiges sozial- und milieuästhetisches Ensemble“. Wenn ihr Vorstoß durchgekommen wäre, hätte im „Hahn“ bis in alle Ewigkeit nichts mehr verändert werden dürfen – nicht mal die Bierpreise. Die Behörde reagierte jedoch bis heute nicht. Dafür machte das Boulevardblatt B.Z. aus dem Antrag eine ganze Doppelseite, wenig später folgten andere Lokalzeitungen. Dann meldeten sich die Fernsehsender: jedes Mal in Form einer jungen Tussi, die das „echt super“ fand und Kapielski sofort ihr „Team“ zum „Anrecherchieren“ auf den Hals schicken wollte. Der reagierte jedoch spröde und verlangte erst mal 1.000 Euro, woraufhin eine „Filmproduktion“ nach der anderen absprang, bis auf die „Jürgen von der Lippe Live GmbH“, die anscheinend in Geld schwamm. Ihnen schickte Kramer dann zur Anrecherche seinen „anarchistischen Verlagskatalog sowie seinen verferkelten ,Schwarzen Kalender'“ – und damit war auch dieses Problem erledigt: die „dicke Donnerlippe“ meldete sich nie wieder. Dafür konnte Kramer gegenüber Inge an ihrem schankfreien Sonntag, an dem sie sich für gewöhnlich ihren Tieren widmet, einen „Tag des offenen Denkmals“ durchsetzen, zu dem laut Stammzecher Bertram Beer „zwei reizende rheinische Pärchen“ anrauschten. Sie trugen wesentlich dazu bei, dass es „ein wunderbarer Nachmittag“ wurde. Aber um 17 Uhr war dennoch „Feierabend“ – die Musikbox wurde ausgestellt. An dem Tag fiel es den Gästen besonders schwer, „auf den schrecklich hellen Heinrichplatz“ hinauszutreten. Nur wenn an einem Samstag Lesungen im „Hahn“ stattfanden, blieb „das Ende offen“. Manchmal kam allerdings der Vorleser nicht, dann warteten die Gäste höflich – ebenfalls endlos. Umgekehrt war es bei Schach-Micha, der zwar immer da war, jedoch zum Leidwesen vieler nie was über seine „Zwiebelforschung“ daheim und auf dem Feld zum Besten geben wollte. Er sowie auch all die anderen, vor und hinter der Theke, wurden nun in Kramers Buch mit Fotos und Zeichnungen noch einmal versammelt.
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48.
„Wir sind 16 Fäuste, / gegen dein ganzen Clan! / Das Ghetto kriegt fame, / wenn die Sekte, / Stress macht!“ (Die Sekte, Ansage Nr. 3) Das „Ghetto“ – einst selbstverwaltetes Stadtviertel der Afroamerikaner, als industrielle Reservearmee – hat sich gewandelt. Es ist nun eine Abschiebezone für Überflüssige geworden, die ihr Erforscher Lois Wacquant „Hyperghetto“ nennt. Damit einher ging seine Islamisierung und der Aufstieg des Hiphop. Im Gegensatz dazu bezeichnet Wacquant die nach wie vor von Weißen, Arabern und Afrikanern gemeinsam bewohnten „Banlieues“ als bloße „Armenviertel“. So könnte man auch die Bezirke Kreuzberg, Neukölln, Wedding und Märkisches Viertel in Berlin nennen.
Von den als besonders hart und pornografisch verschrienen Berliner Hiphop-Gruppen werden sie dessenungeachtet stets als „Ghettos“ besungen, aus denen diese vorwiegend türkisch-arabischen Rapper selber stammen – weswegen ihre Songs auch als ganz besonders echt und „authentisch“ gelten. Ihnen voraus ging eine Medienkampagne, die gegen die drohende „Ghettoisierung“ in den oben erwähnten Bezirken der neudeutschen Hauptstadt berichterstattete und dabei vor dumpfesten Übertreibungen nicht zurückscheute. Die rappenden Berliner „Ghetto-Kids“, die die „Realität“ mit all ihren Gemeinheiten vorgeben zu kennen, setzen da nun noch einen drauf. Wobei es unter ihnen jedoch immer wieder zu Auseinandersetzungen darüber kommt, wer denn „authentischer“ sei. Denn zwischen Lied und Leben tun sich zunehmend Widersprüche auf: So singt etwa der Tempelhofer „Hardcore-Rapper“ Bushido einerseits davon, dass er derjenige sei, „der dich fickt, wenn die Sonne nicht mehr scheint, der pervers ist und Nutten vögelt … Und der euch alle tötet.“ Andererseits tritt er jedoch beim Bravo-Open-Air „Schau nicht weg – Gegen Gewalt in der Schule“ auf. Der MdB Omid Nouripour, Sprecher der Grünen Bundesarbeitsgemeinschaft MigrantInnen und Flüchtlinge, begrüßte es ausdrücklich, „dass die Zeitschrift Bravo auf ihrem Antigewaltkonzert Bushido auftreten lässt, der in seinen Texten Gewalt verherrlicht“. Weil er nur so „seine Reime vom Anspruch der ,Realness‘ entfremdet.“
Das ist sehr hegelianisch gedacht. Der schwäbische Philosoph war wie Goethe der Auffassung, das permanente Jagen nach Authentizität sei ein Missverständnis der geistigen Natur des Menschen. Sichanderswerden und Selbstentfremdung müssten vielmehr als notwendige Phasen im Zu-sich-Kommen des Geistes verstanden werden, der schließlich die Souveränität erreiche, im scheinbar Geistfremden zu Hause zu sein. Für dieses Fading-Away der „Realness“ im Erfolg bietet sich der Übergangs-Begriff „authentische Inauthentizität“ an. Demnach stünde der Berliner „Oriental-Macho-Hiphop“ auf der Kippe: Schmiert sich da ein folgsames Räderwerk ein oder bereitet sich eine Höllenmaschine vor? Künden die Rapsongs vom kommenden Aufstand oder ist der Hiphop im Gegenteil gerade für „Kids“, die in Armut leben, das richtige Beruhigungsmittel?
Der Spiegel ging dieser Frage bereits nach: auf dem „Ghaza-Streifen“ – einem Teil der Neuköllner Sonnenallee, der vor allem von Palästinensern bewirtschaftet und belebt wird: Dort wird nun „das Geschäft der Straße mit den Mittel der Straße geführt“. Der Spiegel-Reporter will herausgefunden haben, dass der Gangsta-Rapper Bushido da seine Schutztruppe aus den Kreisen einer „Araber-Familie“ rekrutiert, die mit einem anderen „Clan“ dort verfeindet ist, der wiederum dem Gangsta-Rapper Massiv die Body-Guards stellt. Seine Plattenfirma Sony BMG ließ verlauten, Massivs Texte seien „authentischer als die von Bushido“. „Bei der letzten ,Echo‘-Verleihung trafen sie aufeinander. Beide eskortiert von ihren Clans“, so der Spiegel. „Die Echo-Verleihung ging ausgesprochen friedlich ab, und doch ist die Veranstaltung in den Akten des LKA verzeichnet, als ein besonderes Vorkommnis.“ Sidos Label „Aggro Berlin“ legt jedenfalls Wert auf die Feststellung, dass seine „Musik die Realität hier schildert“.
Unter Realität wird im Allgemeinen die Gesamtheit des Realen gefasst, wobei real das ist, was auch außerhalb des Denkens existiert. Sehen wir einmal von radikalen Konstruktivisten wie Heinz von Foerster ab, der sich auf einem Dahlemer Symposium zu der Behauptung verstieg: „Es gibt keine Realität!“ Wenn man jedoch mitbekommt, wie die Bürgerpresse ihre Berliner Ghettoreportagen zusammenhaut und gleichzeitig den Rapsongs der Berliner Hiphopper über Drogen, Gewalt, schnelle Ficks und noch schneller Autos – beinharte „Realness“ attestiert, möchte man dem Konstruktivisten glatt zustimmen. So oder so kann man damit aber eine Existenz begründen, die aus der Klammheit herausführt, deswegen sollte man die Berliner „Realität“ und wie sie besungen wird, vielleicht als „wishfull thinking“ begreifen, was auch die ewigen fordernden „Berlin-Berlin“-Rufe des Publikums auf den Rapveranstaltungen erklären würde.
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49.
Mit freundlicher Unterstützung der Senatsverwaltung für Stadtentwicklung, des Quartiersmanagements Berlin und des Quartiersmanagements Wrangelkiez war in der Nacht von Samstag auf Sonntag zur „1. Langen Nacht der Oranienstraße“ geladen worden. „Alle Anwohner“ sollten sich „in ihrer eigenen Art und Weise an dem Straßenfest beteiligen“. Dabei seien „Verkaufsstände“ ebenso willkommen wie „Tisch und Stühle auf der Straße“. Auf dem Fest war dann jedoch nicht viel los, böse Zungen behaupten gar, es fand nicht statt. Einem gleichzeitigen Aufruf, seinen Sperrmüll zum Samstag rauszustellen, kamen jedoch viele Kreuzberger „rund um die Oranienstraße“ gerne nach.
Noch Freitagnacht bauten einige Künstler aus dem derart bereitgestellten Material Installationen auf verschiedenen Verkehrsinseln. Dabei überzeugte insbesondere die Matratzen-Arbeit „StattBett“ einer Künstlerinnengruppe aus dem Umfeld des „Möbel Olfe“ – einer Szenekneipe. Und was dann am Morgen für die Kinder als Trampolin und Ritterburg herhielt, fand am Abend zu Barrikaden geschichtet Verwendung – etwa in der Naunyn- und Muskauer Straße. Pünktlich zu Beginn des Oranienstraßenfestes um 21 Uhr rückte die Polizei mit schwerem Räumgerät an – darunter Lkw-Pritschen mit Greifbagger. Polizisten in Kampfuniformen schleppten Couchen, Elektronikschrott und Kacheltische über die Straße. Die Einsatzleitung ordnete Mülltrennung an: „Weil die BSR vielleicht noch mit Spezialfahrzeugen kommt.“ Die Anwohner diskutierten derweil am Straßenrand in Grüppchen den Sinn und Zweck dieses ungewöhnlich bürgerfreundlichen Polizeieinsatzes im „Problembezirk“.
Kenner der Szene glaubten an einen Zusammenhang zwischen den zwei Oranienstraßen-Aufrufen und der Räumung des vorigen Dienstag besetzten Ver.di-Gebäudes am Michaelkirchplatz zum Auftakt der bundesweiten „Aktionstage für Freiräume“; nach dessen Räumung waren 14 Autos in der Stadt „abgefackelt“ worden. Einige Beobachter sahen zudem eine Verbindung zum Farbattentat auf das KaDeWe. Dabei wurde die gesamte Schaufensterfront mit grüner Farbe aus Feuerlöschern besprüht. Passanten dachten, es handele sich um eine Werbeaktion. Erst als die Sprüher überstürzt aufbrachen, wurde ein Rentner misstrauisch und alarmierte die Polizei. Inzwischen ist bekannt, dass der Streetart-Künstler Brad Downey, der von Lacoste eingeladen war, sich etwas zur Jubiläumsfeier der Modemarke zu überlegen, die Schaufensterfassade grün besprüht hat – als seine Form der Kommerzkritik (taz berichtete).
Jedenfalls: Höhepunkt der Aktionstage sollte am Samstagabend das gemeinsame Fest der acht Freiräume Köpi, Bethanien, Rauchhaus, New York 59, Wagenplatz Schwarzer Kanal, Wagenburg, X-Dorf und A28 werden. Auf dem Köpigelände feierten etwa 1.200 Leute. Dabei kam es erneut zur Barrikadenbildung – auf der Köpenicker Straße. Wieder rückte die Polizei an. Um 0 Uhr 11 setzte die Köpi via Indymedia eine Hilfsmail ab: „aktuell sind vor der köpi mehrere hundertschaften mit schwerem gerät (wasserwerfer/räumpanzer) aufgefahren, es gab schon einen ersten angriffsversuch auf das tor, der abgewehrt werden konnte. es wird dringend unterstützung gebraucht.“ In den Köpihof wurden Tränengasgranaten geworfen, woraufhin der Schwarze Block mit Steinen konterte. Eine Barrikade ging in Flammen auf…Hin und Her…
Schließlich standen und staunten in der Köpenicker Straße mehr neugierige Berlintouristen als Militante. Es gab Festnahmen und Verletzte. Am Ende wurde der ganze Straßenabschnitt vor der Köpi polizeilich geräumt. Inmitten des tumultösen Geschehens, das in Wellen die Köpenicker Straße auf und ab wogte, standen wie ein Fels die drei Jungs von der Springerpresse in ihren weißen Hemden. Um drei Uhr rückte die BSR an; flankiert von zwei Reihen müder Einsatzkräfte säuberten sie die Straße von Scherben und Steinen. Um vier Uhr zwanzig standen noch immer etwa fünfzig Angetrunkene ebenso vielen Polizisten Aug in Aug gegenüber. Das morgendliche Vogelgezwitscher legte einen lieblichen Klangteppich über ihre letzten Beschimpfungen und Schubsereien.
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50.
Das Nosing Around oder Herumschnüffeln hat viel mit dem Flanieren beziehungsweise Spazierengehen zu tun: „Vielleicht sollten wir noch den kürzesten Spaziergang im Geist eines unendlichen Abenteuers angehen, als wollten wir nie zurückkehren …“, schreibt Henry Thoreau. „Wer bereit ist, Mutter und Vater, Bruder und Schwester, Weib, Kind und Freunde zu verlassen und nie wiederzusehen; wer alle Schulden bezahlt, ein Testament aufgesetzt sowie alle Angelegenheiten geregelt hat; wer also ein freier Mensch ist, der ist gerüstet für einen Spaziergang.“ Bei mir ist es genau andersherum: Ich bin für einen Spaziergang immer dann gerüstet, wenn die Schulden zu sehr drücken und ich meine Angelegenheiten gerade mal nicht mehr regeln will. Auch das ist vielleicht ein abenteuerlicher Ausgangspunkt. Er wird aber sogleich dadurch zurückgenommen, dass ich das frisch Ergangene in einen Text fasse, also das Abenteuerliche mit dem Nützlichen verbinde. Das tun viele. Aber die Unterschiede sind groß:
1986/87 strolchte zum Beispiel die Spiegel-Autorin Marie-Luise Scherer wieder und wieder durch den „Waldemar-Kiez“ in Kreuzberg. Anschließend veröffentlichte sie darüber eine ebenso lange wie interessante Geschichte. In einer Rede, ihr und ihren Erzählungen zu Ehren, kam zuletzt Arno Widmann darauf zu sprechen: „Es gibt darunter solche, die von so grausiger Schönheit sind, dass wir sie niemals vergessen. Vor 14 Tagen ging ich mit einer Frau, die ich sehr liebe, die aber stets auf sicheren Abstand zwischen uns beiden bedacht ist, durch die Waldemarstraße in Kreuzberg. Ich erzählte ihr die Geschichte von Ingrid Rogge, einer jungen Frau aus dem schwäbischen Saulgau, die aus ihrer WG in der Waldemarstraße 33 verschwand und deren Skelett dann unter dem so genannten Kriechdach gefunden wurde. Noch in der verstümmelnden Kürzung, die meine sich verheddernde Rekapitulation der Scherer’schen Erzählung ,Der unheimliche Ort Berlin‘ antat, war sie so wirkungsvoll, dass die zarte Hand meiner ansonsten so zurückhaltenden Begleiterin sich Schutz suchend in die meine verkroch. Niemand, der diese Geschichte gelesen hat, kann durch die Waldemarstraße gehen, ohne an sie zu denken und ohne wieder jenen Schauder zu spüren, den Marie-Luise Scherer uns bei der ersten Lektüre verschaffte.“
Das ist zwar widmannesk übertrieben – die Aleviten-Straße wird gerade hübsch gentrifiziert -, aber nicht ganz falsch, vergleicht man Scherers Geschichte über die „Walde“ nur mit den vielen anderen „Kiez-Reportagen“, die täglich über uns ausgekübelt werden. Zum Beispiel kürzlich in der Illustrierten Prinz: „City-Check Bergmann-Kiez“. Prinz ist sicher das dümmste unter den Stadtmagazinen, aber Zitty und Tip sind auch nicht viel besser: Alle drei lassen ihre Autoren regelmäßig durch irgendein In-Viertel strolchen, von wo aus sie dann immer wieder dasselbe berichten: Was die Leute da so treiben – Latte macchiato trinken, ihr Laptop auf- und zuklappen, Handygespräche führen …
Diese komischen Journalisten nehmen alles nur noch aus der Konsumentensicht wahr, es werden Waren beschrieben oder sogar ungeniert angepriesen: Klamottenmoden, Flirtmuster, Filme, Musik- und Theaterstücke, Literaturen, manchmal noch Architekturen. Sie sind inzwischen meilenweit von jedweder Warenkritik entfernt. Und was vor oder hinter den Waren passiert beziehungsweise verhindert wird, interessiert sie schon gar nicht mehr. Das wäre alles noch zu akzeptieren, wenn sie dafür wenigstens die Oberflächen ordentlich wahrnähmen, das heißt empirieversessen wie einst der „New Journalism“ (etwa eines Tom Wolfe) den „Glamour“ so genau wie möglich schildern würden – im sicheren Wissen, dass der Ort des Durchgangs zu dem, was geschieht, exakt die Ungenauigkeit ist. Marie-Luise Scherer thematisierte dies in ihrer Waldemar-Geschichte – noch zu Punkzeiten: „Eine Frau darf hier scharf aussehen, den Pelz einer geschützten Tierart tragen und Gold auf den Lidern, wenn ihr darüber nicht das irisierende Moment von Sperrmüll abhanden kommt“ – um nur einen Satz da raus zu zitieren.
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51.
Der ursprünglich in Mitte gegründete Bürgerverein Luisenstadt hatte wie die Bürgerbeteiligung bei der Rekonstruktion des Grünstrangs zwischen Urbanhafen und Engelbecken an sich gerissen (siehe taz vom 12. 2. 08). Er veranlasste, dass daraus ein original grün überdachter Korso wurde, ließ Bäume fällen und das Engelbecken mit Sandsteinquadern einfassen. Außerdem wurden noch zwei mal acht Fontänen im See installiert. Bevor dazu das Wasser abgepumpt wurde, hatte sich eine vielfältige Flora und Fauna dort angesiedelt. Erwähnt sei insbesondere eine Rohrdommel: Obwohl der Schilfbewuchs am Ufer so dürftig war, dass mancherorts nur drei Halme dastanden, verstand sie es, sich zwischen ihnen nahezu unsichtbar zu machen. Der Biologe Cord Riechelmann war einer der wenigen, der sie dennoch entdeckte; er verriet ihr Nest jedoch niemandem (siehe dazu auch das spex-gespräch 2009 von wolfgang müller und jörg schröder). Die Verschönerungsarbeiter machten das Schilf dann jedoch ringsum nieder. Nur vor der Seeveranda des Cafés am Engelbecken sind in diesem Jahr wieder einige Pflanzen nachgewachsen. Dort befindet sich nun auch die einzige Stelle, an der die Tiere im Wasser, so sie möchten, an Land gehen können – sieht man einmal von einem Entenhäuschen ab, das vor zwei Monaten im See verankert wurde. Von wem, weiß man nicht, denn die Bürgerinitiative hat man bei der Umgestaltung der zwei Grünzüge und des Engelbeckens ausgebremst.
Der oben erwähnte taz-Artikel rief sowohl die Baumschützer vom Landwehrkanal als auch etliche Anwohner auf den Plan, der Bezirksbürgermeister stoppte alle weiteren „Investitionen“. Die 16 Fontänen wurden jedoch nicht abgestellt; ihr Lärm geht nach wie vor den Spaziergängern auf die Nerven. Zumal niemand einsieht, warum aus Kostengründen so viele Brunnenfontänen abgestellt wurden, dann jedoch ausgerechnet in Kreuzberg 16 neue installiert wurden. Andere, wie die Russin Tamara Ernst, lassen sich durch die Fontänen nicht davon abhalten, weiterhin die Enten zu füttern – um diese Jahreszeit fast ausschließlich weibliche Tiere. Tamara Ernst hatte 2003 im Lotto gespielt und dabei sechs Richtige gehabt. So glaubte sie jedenfalls, aber auf ihrem Quittungsschein standen ganz andere Zahlen. Sie meint, dies wäre durch den unsauberen Scanner im Lottoladen geschehen, der die Zahlen auf ihrem Schein falsch abgelesen hätte. Viele ähnliche Scanfehler in anderen Lottoannahmestellen schienen ihr Recht zu geben. Die „West-Lotto“ wechselte deswegen sogar alle Computer-Terminals aus. Die Berliner Lottogesellschaft war sich jedoch keiner Schuld bewusst und zeigte Tamara Ernst wegen Betrugs an (siehe taz vom 17. 8. 05). Ein Gericht bestätigte diesen Verdacht, indem sie ihn von Experten erhärten ließ. Tamara Ernst ging in Berufung. Diese Verhandlung ist noch anhängig. Bis dahin geht Tamara Ernst täglich zum Entenfüttern an das Engelbecken, nebenbei arbeitet sie als Dolmetscherin – auf 1-Euro-Basis – in einem Migrantenbetreuungsprojekt.
Wieder andere haben es auf die mindestens zwei Wasserschildkröten abgesehen, die seit Jahren im Engelbecken leben. Sie haben sowohl das Ablassen des Wassers als auch die vielen Enten überstanden, die sie immer wieder gerne mit dem Schnabel nach unten drücken, wenn sie an die Wasseroberfläche kommen. Die Schildkröten sind wahrscheinlich froh, dass die Verschönerungsmaßnahmen wenigstens die Reiher und die Schwäne vertrieben haben. Bisher hat es auch noch kein Mensch geschafft, sie zu fangen und in seinem Terrarium zuhause zu reprivatisieren. Die Wasserschildkröten fressen dasselbe wie die Enten. In einem diesbezüglichen Netzforum heißt es: „Es könnte so einfach sein: Man geht in den Zoohandel und kauft eine Dose Schildkrötenfutter. Die meisten Produkte sind laut Hersteller für so ziemlich alle Arten geeignet. Doch so ist es leider nicht. Schildkröten sind durchaus anspruchsvoll, was die Fütterung angeht. Abwechslungsreiche Fütterung ist oberstes Gebot!“ Dafür sorgen die Wasserschildkröten im Engelbecken selbst.
Anders ist es mit den Spatzen, die dort besonders viel hermachen. Es sind jetzt meistens die jungen mit noch etwas Flaum auf Rücken und Bauch. Sie lernen gerade, den Besuchern der Café-Terrasse und den Sonnenblumenkernekauern am Ufer derart charmant auf die Pelle zu rücken, dass genügend Krümel für sie abfallen. Über die Spatzen am Engelbecken gibt es inzwischen ganze Abhandlungen.
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51.
Am 17. März endete die Berufungsverhandlung gegen Tamara Ernst aus der Oranienstraße, der die Staatsanwaltschaft vorgeworfen hatte, in betrügerischer Absicht ihren Lottoschein gefälscht zu haben, um schnell reich zu werden. Die ehemalige Philosophiedozentin der Moskauer Militärflugzeugakademie kam mit einer Geldstrafe davon, wird aber in Revision gehen. Sie hatte sich ab 2002 ein Jahr lang alle Gewinnzahlen aufgeschrieben, und dann daraus mit Hilfe einiger Formeln 24 Glückszahlen ermittelt. 2003 gab sie ihren Lottoschein bei einer Annahmestelle in Kreuzberg ab, aber der Terminal funktionierte nicht richtig: Er scannte ihren Schein erst beim vierten Versuch ein. Und wie fast jeder Spieler verglich sie anschließend nicht die Zahlen auf der Quittung mit ihren auf dem Schein.
Das tat sie erst, als sie im Fernsehen sah, dass sie sechs Richtige hatte: Auf der allein gültigen Spielquittung standen ganz andere Zahlen, obwohl die Losnummer mit der auf dem Lottoschein identisch war. Damit nahm das Unglück seinen Lauf! Sie ging zur Annahmestelle. Dort sagte man ihr, dass die Lotteriegesellschaft den Terminal abgeholt habe. Sie rief bei der Lotteriegesellschaft an. Dort meinte man: „Bei zwei oder drei Zahlen kann das passieren, aber nicht bei sechs.“ Sie rief bei der BZ an: Die Redakteurin schickte einen Fotografen und der fuhr mit ihr zur Lottogesellschaft. Dort fragte er den technischen Leiter Trabalski: „Wie oft haben Sie derartige technische Fehler?“ Der antwortete ihm: „Wir kennen solche Leute, mit denen werden wir fertig!“ Trabalski erklärte Frau Ernst: Wir haben den Terminal abgeholt, weil der Annahmestellenbesitzer ein eigenes Programm in den Computer installiert hat, deswegen sei ihm fristlos gekündigt und das Terminal zur Werkstatt geschickt worden. Später gab es eine andere Begründung. Noch bevor Tamara Ernst eine Zivilklage einreichen konnte, verklagte ein Rechtsanwalt der Lottogesellschaft sie schon wegen versuchten Betrugs.
Nun gibt es überall in Deutschland solche Fälle, wo Lottoscheine falsch eingescannt wurden – und manchmal klagen die dadurch um ihre Gewinne betrogenen Spieler auch (siehe taz vom 17. 8. 05). Aber all das berücksichtigten die Moabiter Richter in der ersten und zweiten Instanz nicht: Sie folgten der fadenscheinigen Begründung der Lottogesellschaft, den Hypothesen eines verstockten Kriminalhauptkommissars und der Springerstiefelpresse. Diese waren davon überzeugt, dass es sich bei der russischen Witwe um eine abgefeimte Verbrecherin handelt, die mittels Copyshop, Kleber und Stift die Lottogesellschaft um einen „hohen Gewinn“, so der Richter des Landgerichts, betrügen wollte. Er konnte deswegen, gestützt auf die Empathiefähigkeit der jungen gelangweilten Staatsanwältin in Bezug auf ausländische Kriminelle, ein auf dem gesunden deutschen Menschenverstand basierendes reines Psychourteil fällen. Zur Angeklagten gewandt, endete es mit dem höhnischen Satz: „Sie denken wahrscheinlich: Ich bleibe dabei und ziehe das durch, irgendeine Kammer wird mir vielleicht glauben … Aber wir tun es nicht!“ Zwar zitierte der Psycho-Richter die BZ-Journalistin, der „die Sache“ schon 2003 „nicht ganz koscher“ gewesen war (so war dann später auch ihr Bericht), aber weder ging er auf die vielen dokumentierten Scannfehler in anderen Bundesländern ein, die im Prozess vorgelesen wurden, noch auf die „persönliche Erklärung“ des BKA-Experten, die dieser im Anschluss an den Vortrag seines Gutachtens geäußert hatte: Die Lottogesellschaft hatte ihm bei der Untersuchung des Terminals nicht gestattet, das Gerät zu öffnen, weswegen er nur dessen Funktionen kurz getestet hatte. Dem mageren Prüfungsergebnis hatte er jedoch vor Gericht hinzugefügt, dass es durchaus vorstellbar sei, dass ein oder mehrere „Staubkörner“ an der richtigen Stelle im Terminal diese Reihe falscher Zahlen produzieren könnte.
Aber von der Lottogesellschaft lebt die halbe Kulturhauptstadt, da muss man schon mal zur Not ein Russenopfer bringen. Und der Richter kann sich sogar noch großzügig wähnen, indem er das alte Weiblein nicht zu den von der Staatsanwältin geforderten 100 Tagessätzen à 40 Euro verdonnerte, sondern nur zu 90 à 44 Euro (damit ist sie nicht vorbestraft). Wir erwarten von deutschen Gerichten schon lange keine Wahrheitsfindung mehr – aber das war ein absolut schändliches Moabiter Doppelurteil. Bleibt die winzige Hoffnung, dass das Kammergericht es „kassiert“.
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52.
„Die Hummel die Trummel, Der Heuschreck die Geigen; Das gab fürwahr einen lustigen Reigen.“ (W. Busch)
Als ich zwölf Jahre alt war, bekam ich einen Glasschrank geschenkt, den ich mir mit Topfblumen als Insektarium einrichtete. Einige Tage lang fing ich dafür draußen in den Vorgärten Heuschrecken, Bienen, Hummeln und Wespen – mit der Hand. Einmal kam mir meine Mutter im Treppenhaus entgegen und fragte, was ich da hochtrage. Eine Hummel, sagte ich. Aber die stechen doch! entsetzte sie sich. Ich erschrak – und in dem Moment stach mich die Hummel tatsächlich. Wütend gab ich meiner Mutter die Schuld, wahrscheinlich zurecht.
Jetzt gibt es erneut ein Insektarium mit Hummeln (Bombus), sogar ein begehbares: in der Kreuzberger NGBK-Ausstellung „Der blinde Fleck“. Es ist mit blühenden Engelstrompeten (Brugmansia) bepflanzt – nach Art einer Allee, an deren Ende zwei Bienenkästen stehen, die Zuchthummeln beherbergen. Etliche Hummeln hängen jedoch halbtot in irgendwelchen Ecken. Weil es in Kreuzberg inzwischen mindestens ein Dutzend Frauen gibt, die sich auf ihren Hausdächern Bienen halten, war das NGBK-Hummelarium natürlich für diese Honigkunstsammlerinnen und ihre Freundeskreise hochinteressant. In den Cafés am Heinrichplatz wurde einige Tage lang darüber diskutiert. Ich habe zweimal eine Hummelreise nach Island unternommen, wo es keine Bienen und Wespen gibt, so dass die kälteunempfindlicheren Hummeln dort die Blumen fast allein bestäuben. Einige Biologen behaupten, gemäß ihres Gewichts und ihrer Flügelgröße dürfte die Hummel eigentlich nicht so gut fliegen können, wie sie es kann. Und einige US-Ökonomen behaupten, die nordischen Staaten dürften mit ihrer sausozialen Wirtschaftspolitik gar nicht so erfolgreich sein, wie sie es sind. Das hat diese Staaten, zu denen Island gehört, nun bewogen, die Hummel als ihr Wappentier zu wählen.
Auch England könnte sich dem anschließen: Man sagt, es verdanke seinen Reichtum allein den Hummeln. Denn diese bestäuben am liebsten Kleeblüten, Klee ist Nahrungsgrundlage für Schafe – und Schafe sind Ausgangspunkt für die Textilindustrie. Bei der Beziehung zwischen Klee und Hummeln kann man von einer Symbiose sprechen. Die französischen Marxisten Gilles Deleuze und Felix Guattari haben daraus ein ganzes Lebensmodell gemacht: „Werdet wie der Klee und die Hummel!“ In Kreuzberg habe ich einmal eine Imkerin interviewt, die als Neueinsteigerin von der Feuerwehr kostenlos mit einem Schwarm versorgt und vom Neuköllner Imkerverein angelernt worden war. Sie, Hannah, bat mich nun zu recherchieren, ob das in der NGBK-Ausstellung auch keine Hummelquälerei sei – die Künstler würden immer unmenschlicher werden, nur um in die Presse zu kommen.
Die NGBK-Chefin Leonie konnte sie dann aber schnell beruhigen: Die Hummeln, die meist für den Einsatz in Gewächshäusern gezüchtet werden, haben an ihren Kästen noch einen Hinterausgang – nach draußen an die frische Luft, so dass sie gar nicht auf die paar Blüten des Nachtschattengewächses Engelstrompete angewiesen sind. Leonie schickte mir dazu noch einen NGBK-Text zum Hummelarium, das sich der Künstler Klaus Weber ausgedacht hatte, um damit angeblich die „Nachtseite der Moderne“ zu thematisieren: „Sein idyllisches Setting ermöglicht es, sich in rauschhafter Überschreitung zeitweilig den Regularien der Wirklichkeit mit ihren Kontrollmechanismen und Sicherheitskonzepten und auch der funktionalen Selbstbegrenzung des eignen Ichs zu entziehen.“ „Wer – die Hummeln oder die Kunstbetrachter?“, fragte mich Hannah. „Die Hummeln natürlich“, behauptete ich einfach. „Wie hat der Künstler seine Hummel-Installation eigentlich genannt?“ – „Allee der Schaflosigkeit.“ – „Das macht Sinn, aber dann hätte er doch besser Klee und nicht diese verquasten Engelstrompeten pflanzen sollen“, meinte Hannah ungnädig.
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53.
Die Herbstoffensive der LaRouche-Truppe hat begonnen: Sie haben ihre Werbestände am Bundesplatz und an anderen stark frequentierten Orten aufgestellt. In Kreuzberg treten sie den Arbeitslosen auf dem Weg zum Jobcenter entgegen – zwischen dem Springerkonzern und der taz, zu Füßen des Öko-Hochhauses der GSW.
Früher warb die LaRouche-Truppe als „Europäische Arbeiterpartei“ (EAP) für die Weltverbesserungsideen seiner Gründer, des amerikanischen „Staatsmannes“ Lyndon LaRouche und seiner Frau, der OSI-Politologin Helga Zepp-LaRouche. Sie gründeten eine „Anti-Drogen-Koalition“ gegen Rauschgift, für Atomkraftwerke den „Club of Life“, das „Fusions-Energie-Forum“ und die „Akademie für Humanistische Studien“. Sie wollen „Rockefellers Nazipläne in Europa“ stoppen und fordern den Bau eines eurasischen „Transrapid“. Der Verfassungsschutz bezeichnet ihre Organisation, die sich immer mal wieder umbenennt – etwa in „Schiller-Institut“ und „Bürgerrechtsbewegung Solidarität“ – als eine „Politsekte“. Seltsamerweise besetzte Arno Hellenbroich, der Bruder des Exverfassungsschutzpräsidenten, lange Zeit „Schlüsselstellungen in den Vereinen des LaRouche-Kultes“, wie Helmut Lorscheid und Leo A. Müller in ihrem Buch „Deckname Schiller“ schreiben.
Der Sektenforscher Friedrich Wilhelm Haack meint: „LaRouche sieht zwei Kräfte am Werk: eine böse satanische Seite der ,Oligarchen‘, die von Zinswucher leben, und die ,Humanisten‘, die Städtebauer, an die Macht der Vernunft glaubende Edelmenschen. Dazwischen gibt es die ,99,44 Prozent umfassende tierische Masse unwissender Schafe‘.“ In seiner Organisation „Patrioten für Deutschland“ versammelte LaRouche Edelmenschen wie den WK-zwo-Zerstörerkommandanten Zenker, den Ritterkreuzträger von der Heydte und den geschassten MAD-Geheimdienstchef Scherer. Ferner kooperierte er mit der rechten französischen „Parti ouvrier européen“ (POE) und mit dem Kroatischen Nationalrat. Der Ex-CIA-Direktor William Colby behauptet, dass das „LaRouche-Komitee“ zu 80 Prozent aus ehemaligen CIA- und FBI-Leuten besteht. Lyndon LaRouche und seine Frau Helga mischen sich ein, drängen sich in die Clubs und Mailboxes der Mächtigen und Reichen, jetten um den Globus, konspirieren mit ehemaligen Militärs und Geheimdienstlern, geben jede Menge Zeitschriften heraus, wittern überall jüdische und andere Verschwörungen, müllen das Internet mit ihren Analysen zu.
Als am 11. September das World-Trade-Center zusammenbrach, kam LaRouche in einem Radiointerview sofort zu dem Schluss, dass ein versuchter Staatsstreich gegen die USA im Gange sei. Jetzt – während des Zusammenbruchs mehrerer US-Banken – fordert der „Ökonom“ LaRouche „ein neues Bretton Wood zur Lösung der Finanzkrise“. An der Ecke Rudi-Dutschke-/Charlottenstraße könnte seine Truppe neben den Arbeitslosen auch gleich noch die Angestellten im GSW-Hochhaus agitieren: Die GSW, mit 65.000 Wohnungen Berlins größtes Wohnungsbauunternehmen, gehört seit 2004 der US-Investmentgesellschaft Cerberus. Dieser „Geierfonds“ gehört Stephen Feinberg, der bisher 80 Milliarden Dollar zusammensammelte, um damit Firmen zu kaufen, die vor dem Bankrott stehen. Danach übernimmt er entweder als größter Gläubiger die Kontrolle, saniert die Unternehmen und verkauft sie weiter – oder zerschlägt sie und schlachtet sie aus. Zu seinen Beratern zählt der ehemalige VW- und DaimlerChrysler-Vorständler Wolfgang Bernhard. Daneben gehören der ehemalige US-Finanzminister John Snow als Verwaltungsratschef und der ehemalige Vizepräsident Dan Quayle als Vorstandsmitglied zu Cerberus.
„In Deutschland soll außerdem der einstige Verteidigungsminister Rudolf Scharping das Unternehmen beraten,“ schreibt der Spiegel. Wir resümieren: Oben im GSW-Hochhaus sitzen nun die reichen Irren von Cerberus und unten vor der Tür agitieren die armen Irren von LaRouche. Beides gibt sich nicht viel. Erwähnen sollte man aber vielleicht noch, dass das „Öko-Hochhaus“ der GSW einst mit staatlichen Fördergeldern gebaut wurde. Bis heute weigert sich die GSW jedoch, eine „Öko-Bilanz“ vorzulegen, nicht einmal den über „Öko-Bilanzen“ von Häusern forschenden Architekturprofessoren an der UdK gewährt man Einblick, obwohl die GSW eigentlich dazu verpflichtet ist. Die Professoren vermuten, dass die „Öko-Bilanz“ des GSW-Hochhauses schlechter ausfällt als die von „normalen“ Bürohochhäusern. Aber um zum Schluss zu kommen: Auf der Rudi-Dutschke-Straße geht es heute fast zu wie im richtigen Leben!
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53.
„Der Verbrecher unterbricht die Monotonie und Alltagssicherheit des bürgerlichen Lebens. Er bewahrt es damit vor Stagnation und ruft jene unruhige Spannung und Beweglichkeit hervor, ohne die selbst der Stachel der Konkurrenz abstumpfen würde.“ (Karl Marx) Anfang der Achtzigerjahre zerbrach die Solidarität zwischen amerikanischen Juden und Schwarzen, als Drogen und Verbrechen den wohlhabenden Vierteln der linksliberalen New Yorker Juden immer näher rückten, so dass auch sie dann die neoliberale „Zero Tolerance“-Politik unterstützten. Es gab schon einmal eine solche Politik: zu Beginn des alten Liberalismus, als in England das Gemeindeeigentum privatisiert und eingehegt wurde und die vom Land Vertriebenen zu Millionen gehängt oder in die Kolonien deportiert wurden. Vielleicht ist es bald wieder so weit. Schon jetzt wird es immer ungemütlicher: Zwei Spekulanten kaufen das Haus, in dem ich wohne – und schicken mir als Erstes eine fette Mieterhöhung, wobei sie sich auf den Mietspiegel berufen. Als ich ablehne, verklagen sie mich. Nachdem ich mühsam ausgerechnet habe, dass sie bloß Anspruch auf 2,74 Euro mehr haben, ziehen sie die Klage zurück. Als Nächstes bekomme ich beim Einkauf einen falschen Fuffziger als Wechselgeld. Ich stecke ihn unkontrolliert ein. Als ich damit einen Leihwagen zahlen will, wird er entdeckt. Ich muss warten, bis das BKA kommt, und werde verhört. Irgendwann teilt man mir mit, dass das Verfahren eingestellt wurde.
An einem Sonntag stecke ich zwei Überweisungen in den dafür vorgesehenen Briefkasten der Sparkasse. Der war neu, weil irgendwelche Gangster aus dem alten wiederholt die Überweisungen rausgefischt hatten. Sie veränderten die Kontonummer das Empfängers und leiteten das Geld auf ihr Konto um. Nun hängt da schon wieder ein anderer Briefkasten. Er ist schlechter als der letzte, weil die Überweisungen nicht nach unten fallen: Ich kann sie durch den Schlitz sehen. Beunruhigt gehe ich am nächsten Tag zum Filialleiter. Der weiß nichts von einem neuen Briefkasten. Dann entdecken wir Klebestreifen auf dem alten: Da haben diese Gauner also einfach ihren Briefkasten angebracht – und alle Überweisungen vom Wochenende eingesackt. Ich muss mein Konto sperren lassen. Die Polizei kommt und nimmt Fingerabdrücke.
An einem Dienstag gehe ich morgens aus dem Haus, um bei Ali im Advena einen Kaffee zu trinken. Anschließend kehre ich noch einmal in meine Wohung zurück, um meine Tasche zu holen, steige in den 29er (Metrobus neuerdings idiotischerweise genannt) und fahre zur taz. An der Ampel in der Rudi-Dutschke-Straße tippt mir ein Halbstarker auf die Schulter. Ich drehe mich um und bin plötzlich von vier Halbstarken umringt. Sie wollen meinen Ausweis sehen und was ich in der Tasche habe. Nachdem sie sich als Polizisten ausgewiesen haben und ich mich als der, der ich bin, außerdem ihnen versichert habe, in der Tasche befinden sich nur Bücher, machen sie ein enttäuschtes Gesicht. Der Grund: Sie observieren seit Tagen unseren Hinterhof, weil dort angeblich so viele geklaute Fahrräder rumstehen. Als sie nun sahen, wie ich – von Ali kommend – ins Haus ging und dann mit Tasche wieder herauskam, dachten sie: Wer Fahrräder klaut, klaut vielleicht auch anderes Zeug – und ich wäre vielleicht ein Hehler, der das Zeug abholen sollte. Ich kann ihnen da nicht weiterhelfen und verabschiede mich. Die vier Polizisten fahren mit dem 29er zurück und nehmen wieder ihre Observation auf. Da sie sich nun aber mal mir gegenüber verplaudert haben, hänge ich abends einen Zettel in den Flur „Das Haus wird zur Zeit polizeilich überwacht. Bis zum Wochenende keine Hehlerware hier deponieren. Ist sicherer!“
Ich bekomme eine mail: „Heirate mich!“ Sie stammt von einer Vogelsbergerin mit semimigrantischem Hintergrund, mit der ich mich daraufhin im taz-café treffe. Die Jungproletarische Mutter erzählt mir, warum sie unbedingt heiraten muß. Ich erbitte mir Bedenkzeit. Dann schicke ich ihr eine mail und bitte sie noch einmal ins taz-café. Sie meldet sich aber nicht mehr. Dafür bekomme ich eine mail von einem klientenlosen Anwalt, den ich um eine kleine Recherche gebeten hatte: „Vorsicht,“ schreibt er. Du hast wiederholt über ‚deine‘ gescheiterten Scheinheiratsversuche in Zeitungen und Büchern geschrieben – und außerdem versucht, bei deinem Standesamt, wo neuerdings auch noch äußerst mißtrauische ältere Ostlerinnen arbeiten, denen einzig die Ehe noch heilig ist, nachdem ihnen der Kommunismus abhanden gekommen ist, dort also hast du versucht, mit einer Ukrainerin den Bund fürs Leben einzugehen, du wolltest sogar ihren Namen annehmen und deiner zukünftigen 500 Euro Taschengeld im Monat bewilligen – aber dann hast du dich nie wieder gemeldet beim Standesamt. Es scheint so, dass nun die Behörde ihrerseits aktiv geworden ist – und dir eine vogelsberger Semimigrantin geschickt hat – damit du ihr auf den Leim gehst! Es kann jedoch auch sein, dass diese hessische Torte tatsächlich heiraten wollte, dann aber dich alten Sack gesehen und gesprochen hat, angeblich sollst du sie über Spatzen und Schwäne vollgequatscht haben, und dann schnell wieder Abstand von ihrem „Heirate mich“-Projekt nahm…Du mußt entscheiden, welche Version die richtigere ist. Aber sei nicht eitel dabei….“
Spätabends gehe ich am Mariannenplatz in Berlin-Kreuzberg vorbei. Drei Männer lösen sich aus dem Schatten der Kirche, sie unterhalten sich lachend – wie ich meine: auf Albanisch. Ein Geräusch lässt mich umdrehen. Einer der drei holt gerade mit einem Totschläger aus, um mir den Schädel einzuschlagen. Ich springe zur Seite und laufe weg, aber einer der Verbrecher ist schneller. Ich werde meine Brieftasche los. Für fünf Euro hätten diese Herzchen mich glatt umgebracht. Die Polizei kurvt fünf Minuten um den Mariannenplatz und gibt dann auf. Später erfahre ich, dass schon einige Leuten dort sowie am Görlitzer Park von (den?) drei Männern überfallen wurden. Ich muss wieder mein Konto sperren und neue Ausweise beantragen. Das kostet mich 200 Euro.
Auf der Damentoilette des Ku’damm-Karrés entdecke ich später an der linken Wand in Rot den Spruch: „Albaner sind süß!“, rechts steht – in schwarzer Schrift: „Vorsicht Schwestern, Albaner können tödlich sein!“ Das BKA bestellt mich zu sich, damit ich einen Blick in seine Verbrecherkartei werfe. Diese wird von einer stattlichen Blondine geführt. Ihr Büro sieht mit neun behördengrauen Bildschirmabteilen aus wie ein Internetcafé oder Pornoshop. Aber die bis in die Fingerspitzen äußerst gepflegt aussehende BKA-Angestellte hat diesem Eindruck selbstbewußt entgegengearbeitet, indem sie überall blauweiße Griechenland-Urlaubsplakate hingehängt hat. An einem der Monitore soll ich 426 Porträtfotos von Verbrechern durchgucken, um die Täter zu identifizieren. Bei Nummer 112 angekommen, registriere ich, dass die BKA-Angestellte hinter mir eines ihrer Griechenlandposter, das sich von der Wand gelöst hat, mit einem Stück Tesafilm wieder anklebt. Ich drehe mich um und schaue ihr verstohlen dabei zu. Mein Blick fällt auf ein himmelblaues Meer, ein Fischerboot und eine weiße berankte Hauswand, die von der Sonne beschienen wird … Nachdem ich alle Fotos zügig durchgesehen habe, stellt sich Erleichterung ein. Ich ziehe meinen Mantel an und verabschiede mich von der freundlichen Angestellten mit einem schlechten Gewissen: so als sei ich für nichts und wieder nichts in ihre griechische Privatsphäre eingedrungen – selber fast ein Verbrecher.
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54.
„Sie werden an diesen Tag noch lange zurückdenken!“ (J. Elsässer) Drei Tage nach Vorstellung seiner „Volksfront-Initiative“ in der altehrwürdigen Kreuzberger Politkneipe „Max & Moritz“, benannt nach zwei uralten Karpfen im nahen Engelbecken, kündigte die Linkspartei-Tageszeitung Neues Deutschland, benannt nach der einst von August Kotzebue in Moskau gegründeten Exilzeitung, den Autorenvertrag mit Jürgen Elsässer. Nicht, weil ihr die Moskauer Komintern-Politik der Bildung von Volksfronten inzwischen suspekt ist. Sondern weil sie Elsässers „rechte Terminologie“ nicht im Blatt haben und nicht Plattform für seine „Politikpläne“ sein will.
Für mich klangen die Reden im „Max & Moritz“ (halbwegs kluge ökonomische Analysen verbunden mit an Antisemitismus grenzende Verschwörungstheorien), die in eine kurze, aber heftige Saalschlacht gipfelten (meiner ersten im neuen Jahr), wie reiner „Nationalbolschewismus“ – die russische Natbol-Partei von Eduard Limonow wurde im Übrigen kürzlich verboten. Einer der hiesigen Initiatoren, der Exbundeswehroffizier Jochen Schulz, sagte, er sei Mitglied der Linkspartei. Und sein Kollege, der Ex-NVA-Offizier Peter Feist, verwendete gern Formeln der LaRouche-Sekte. Dann saßen noch der Naziaktivist Sascha Kari mit Bodyguard und der Nationalanarchist Peter Töpfer im Publikum sowie der Geschäftsführer des ehemaligen DKP-Verlags Pahl-Rugenstein, der sich konstruktiv zu Wort meldete. Und in der Tat waren das dann auch ganz neue Töne, wenigstens in Kreuzberg – im Osten sind solche ausländerfeindlichen „Volks“-Begriffe wie „Heuschrecken“ gang und gäbe, auch in der einstigen PDS, so dass ich nach Elsässers Elogen auf Oskar Lafontaine schon dachte, seine Volksfront-Ini wäre ein U-Boot der Partei, um die Spießermassen im Osten nicht abzustoßen, aber dennoch Die Linke davon zu erleichtern.
In einem Leserbrief zu meinem taz-Artikel vom 12. Januar schrieb Elsässer: Er werbe nicht für eine nationalbolschewistische Politik, sondern „für die Wiederaufnahme einer Volksfrontpolitik, die Kommunisten, Sozialdemokraten und Bürgerliche in den 30er-Jahren in verschiedenen Ländern ,gegen Faschismus und Krieg‘ betrieben haben.“ Ich füge hinzu: Bereits 1848 hatten Marx und Engels sich dafür ausgesprochen, dass das Proletariat seine Ausbeuter dabei unterstütze, die bürgerlichen Rechte und Freiheiten durchzusetzen. 1944 gründete sich im KZ-Buchenwald ein „Volksfrontkomitee“, vorher war in Chile bereits die „Frente Popular“ entstanden. Und nun sprach Elsässer davon, dass die Arbeiter ihre Betriebe zusammen mit den Unternehmern besetzen sollten – um mögliche US-Heuschrecken abzuwehren. Inzwischen sei die gesamte USA eine einzige „Heuschrecke“ (mit höchstens noch Kriegsproduktion).
Auf dem Rosa-Luxemburg-Kongress am selben Tag äußerte eine US-Rednerin: „Der Gazastreifen ist das Warschauer Ghetto von heute!“ Und im „Max & Moritz“ meinte einer der drei Redner: „Was die Israelis da jetzt machen, ist ein Völkermord“. Das klingt nicht nur für Antideutsche antisemitisch. Dazu passt, dass Elsässer seine Aufsätze in der Verschwörer-Zeitschrift Hintergrund veröffentlicht und seine Bücher im Verschwörungsverlag „Kai Homilius“, der in der Rechtspostille Jungen Freiheit warb und einen ihrer Mitarbeiter zu seinen Autoren zählt. Hier also wieder eine Verbindung zwischen Nationalismus und Bolschewismus. Man kann dieses Lavieren zwischen postfaschistischer und poststalinistischer Partei aber auch „Volksfront“ nennen. Ich kenne Elsässer nur über gemeinsames Rauchen auf der Junge-Welt-Terrasse. Neu war für mich, zu hören, dass er es zuletzt mit seiner Pro-Milosevic-Ini zu einem wahren Helden unter den Großserben gebracht hat und dass er früher mal Maoist war. Dieser Werdegang ähnelt dem von Milosevic selbst. Einige Zuhörer meinten, er würde dem von Bernd Rabehl und Horst Mahler ähneln. Dafür spricht, dass Elsässer die linke Scene zum Teil für sektiererisch hält und meint: „Aus diesem Laden muss man aussteigen, wenn man was werden will!“ Er will also noch was werden: ein Held auch in Deutschland wahrscheinlich. Aber warum sollen ausgerechnet „die normalen Leute“ (seine „Zielgruppe“) dafür ihre „Nöte“ ins Feld führen?
P.S.: Der Duisburger Hiphop-Rapper Marcel Wojnarowicz tritt mit seiner Band „Die Bandbreite“ neuerdings gerne zusammen mit dem Nationalbolschewisten Jürgen Elsässer auf. Weil ich in einer Kolumne geschrieben hatte, die Band sei für ihre antisemitischen Texte bekannt, wurde ich von Wojna verklagt. Vor dem Berliner Landgericht machte er jetzt geltend, wegen dieser Unterstellung würden ihn einige Gewerkschafts- und SPD-Jugendorganisationen nicht mehr „buchen“. Nach dreistündiger Debatte über Antisemitismus im Allgemeinen und die Songtexte von Wojna stellte das Gericht das Verfahren ein. Ich entschuldigte mich anschließend bei Wojna dafür, dass sich das von mir verwendete Adjektiv derart geschäftsschädigend für ihn auswirkte. Schon am nächsten Tag hieß es in einer „Presseerklärung“ von ihm, die Jürgen Elsässer in seinem blog veröffentlichte: „Erfolg vor Gericht gegen taz“, u.a. weil ich zugegeben hätte, „schlecht recherchiert zu haben“. Was gibt es bei Songtexten zu recherchieren? Und überhaupt war der „Erfolg vor Gericht“ wenn überhaupt, dann ganz auf meiner Seite, denn man hätte mich ja auch wegen Überinterpretation seiner Lieder verurteilen können, so aber kam ich kostenfrei davon. Ich mußte jedoch dem taz-Anwalt recht geben, dass ich mich nicht hätte entschuldigen sollen, zumal der Duisburger Rapper mich schon im Frühjahr der taz gegenüber verschwörungsmäßig angeschwärzt hatte: „Helmut Höge war nach eigenen Angaben Dolmetscher auf einer US-Airbase. Hier stellt sich die Frage, ob die TAZ mit ihrer politischen Gesinnung sich nicht ein Kuckucksei ins Nest gelegt hat.“ Was für ein Rap-Schlingel, dieser Wojna.
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55.
Nun nimmt auch in Westberlin die Ortsverwirrung durch Straßenumbenennungen zu. Kürzlich bekam erneut eine Straße in Kreuzberg einen neuen Namen: das Gröbenufer. Eine kurze Promenade zwischen der Oberbaumbrücke und dem ehemals alternativen Fabrikkomplex in der Pfuelstraße. Mit dem Gröbenufer sollte einst der deutsche Kolonialpionier Otto Friedrich von der Groeben geehrt werden. Dies geschah im Zusammenhang der zur selben Zeit 1896 eröffneten Gewerbeausstellung in Treptow. Dort fand die 1. deutsche Kolonialausstellung statt, auf der „aechte Afrikaner“ das Leben in den Kolonien darstellten.
Laut dem Berliner Geschichtsforum „gründete Gröben 1683 an der westafrikanischen Küste im heutigen Ghana eine Niederlassung zum einzigen oder hauptsächlichen Zweck des Sklavenhandels“. Einige Historiker im Café Jenseits am Heinrichplatz finden das überzogen: Gröben schloss sich mit 17 polnischen Adligen an, die 8 Jahre lang den Nahen Osten bereisten. 1680 kehrte er nach Brandenburg zurück. Damals gab es noch kein Preußen, erst recht kein Deutschland. Aber der Kurfürst wollte schon mal seine Interessen in Afrika ausloten. Er beförderte Gröben zum Major und schickte ihn mit drei Kriegsschiffen an die Küste des heutigen Ghanas, wo Gröben von drei Ahanta-Häuptlingen einen Fels am Meer erwarb, auf dem seine Männer ein „Fort“ errichteten. Die Hälfte erkrankte dabei, etliche starben. Das Fort wurde 1683 „Groß Friedrichsburg“ genannt. Gröben war da schon wieder auf der Heimreise. Der Kurfürst belohnte ihn mit einer Anwartschaft auf Marienwerder. 1686 trat Gröben in die Dienste der Venezianer – und zog mit diesen gegen die Türken, 1719 diente er dem König von Polen. Er starb 1728 auf seinem Marienwerder Anwesen. Die Café-Jenseits-Historiker sehen in ihm eher einen „Forschungsreisenden“ als einen Vorbereiter des deutschen Sklavenhandels. In der Berliner Handpresse erschien 1981 Gröbens „Guineische Reise-Beschreibung“ aus dem Jahr 1683. Die Kreuzberger Straßenumbenenner wollten es sich nun nicht so einfach machen wie seinerzeit die Weddinger Bezirkspolitiker. Dort sollte Ende des 19. Jahrhunderts ebenfalls eine üppige „Kolonialschau“ mit aechten Menschen und Tieren entstehen. Der Investor – Hagenbeck – kam jedoch noch vor Baubeginn zu der Einschätzung, dass eine solche zudem permanente Schau sich nicht mehr lohne. Die Konkurrenz war zu groß geworden, das Publikumsinteresse ließ nach. Stattdessen wurde das Gebiet Afrikanisches Viertel genannt und von Mies van der Rohe und Bruno Taut mit Mietshäusern bebaut. Straßen wurden nach deutschen Kolonien und Kolonialoffizieren benannt. 1939 benannte man außerdem noch eine Allee nach Carl Peters – dem bis dahin brutalsten deutschen Kolonialpolitiker. Die Allee wurde jedoch 1986 aufgrund von Bürgerprotesten umbenannt – nach dem CDU-Politiker Hans Peters, was der in Berlin lebende „Afrikanische Diaspora“-Forscher Joshua Kwesi Aikins als eine bloße Umwidmung bezeichnete, denn sie heißt nach wie vor Petersallee. So billig wollte man es sich in Kreuzberg im Falle des Gröbenufers nicht machen – da wäre dann eine Ehre für die immer noch weitverzweigte, aber politisch unbedeutende Adelsfamilie „vom Gröbenufer“ bei rausgekommen. Das Ufer heißt nun Mai Ayim. Eine deutsche Dichterin, Pädagogin und Aktivistin der afrodeutschen Bewegung, die eigentlich Gertrud Opitz heißt. Ihr Vater stammte aus Ghana. In den 80er-Jahren mitbegründete sie in Berlin die „Initiative Schwarze Deutsche und Schwarze in Deutschland“ sowie die „Critical Whiteness Studies“ hierzulande, 1986 veröffentlichte sie das Buch „Farbe bekennen“. Zuletzt arbeitete sie als Lehrbeauftragte an der Alice-Salomon-Fachhochschule für Sozialarbeit. „Nachdem sie die Diagnose Multiple Sklerose mitgeteilt bekommen hatte, verzweifelte sie,“ heißt es bei Wikipedia. „Am 9. August 1996 stürzte sie sich von einem Hochhaus in den Tod.“ Seit 2004 gibt es einen nach ihr benannten Literaturpreis – und nun also auch noch eine Spreeuferpromenade.
Sie wurde 1987, zur 750-Jahr-Feier der Stadt, aufgehübscht. Für die Senioren des nahen Altenheims stellte man Bänke auf, damit sie auf die Spree kucken konnten. Dort war damals allerdings noch nicht viel zu sehen – außer ein paar Schwänen und einem Schnellboot der DDR-Grenzwache. Denn dieser Flussabschnitt war zur der Zeit quasi Todesstreifen. Auch von drüben sah man nicht viel, denn dort stand die Mauer. Sie wurde 1989 in einer Art Backpaker-Friedensrausch über und über bemalt. Seitdem heißt sie „East Side Gallery“ und es ankert dort ein Hostel-Schiff. Damals war an diesem Flussabschnitt jedoch noch gar nichts los – deswegen kuckten die Rentner auf den Bänken gegenüber am Gröbenufer auch statt über die Spree lieber hinter sich – auf eine kleine Grünfläche mit sogenannten Drop-Sculptures, wo regelmäßig einige türkische Familien grillten. Deren großfamiliale Gemütlichkeit fanden sie als eher Vereinsamte interessanter. Die US-Planungskritikerin Toni Sachs-Pffeiffer kritisierten denn auch 1990 an der Gröbenuferplanung, dass man die Bänke andersrum hätte aufstellen müssen. Kurz nach dem Mauerbau war es an diesem Spreeabschnitt zu zwei Fluchtversuchen von Schwimmern gekommen, die tödlich endeten, woraufhin 1961 am Gröbenufer eine Protestkundgebung stattfand. Die DDR ließ drüben Häuser abreißen, um eine bessere Sicht zu haben, und unter Wasser wurde später gegen schwimmende und tauchende Flüchtlinge eine Gittersperre errichtet. Ein Republikflüchtling schaffte es aber doch noch: Er hatte sich einen hohlen Schwan übergestülpt, der so echt aussah, dass er unangefochten ans Gröbenufer gelangte. Zuletzt erwähnte die Schriftstellerin Emine Sevgi Özdamar diesen Vorfall in einer ihrer Ost-West-Geschichten: „Die echten Schwäne kamen zu ihm, pickten an seinem künstlichen Schwanenkopf und schwammen mit ihm in den Westen. So hat man es mir erzählt.“
P.S.: Nachdem ich diese Kolumne veröffentlicht hatte, verwurstete auch die FAZ die Straßenumbenennung ausführlich, wobei sie Gröben als tapferen Abenteurer und Mai Ayim als furchtbar schlechte Dichterin hinstellten. So geht es ja nun nicht – ihr FAZköppe!
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56.
In der Kreuzberger Oranienstraße haben zwei Cafés wegen Pachterhöhung geschlossen und eine Kneipe, weil die Wirtin keine Lust mehr hatte, auf die „O-Straße“ zu kucken – „und immer mehr von diesen T-Shirt und Kaffeeläden zu sehen, es wird immer schicker und gleichförmiger“. Tatsächlich zieht dort jetzt ein T-Shirtgeschäft ein. In der benachbarten Waldemarstraße kaufen ausländische Investoren ein Haus nach dem anderen und vertreiben die alten Mieter (die fast alle aus einem kurdischen Dorf stammen), um ihre Mieten erhöhen zu können. In der Reichenbergerstraße entstand als Gipfel der Schischi-Schweinerei ein „Carloft“-Haus, in dem man sein Auto mit in die Wohnung nehmen kann. U.a. hat sich Herbert Grönemeyer dort ein „Carpartement“ gekauft. Weil immer mal wieder die Scheiben der Carlofts von „gewaltbereiten Jugendlichen“ eingeschmissen werden, steht nun ein Container für Wachleute vor der Tür.
„Diese linken Chaoten sind wie RAF-Terroristen,“ meinte der Vorsitzende der Polizeigewerkschaft, der dabei jedoch vor allem an seine beitragszahlenden Polizisten dachte: Viel Feind viel Ehr! Aber auch an seinen fast neuen VW-Bus, der am 20.Juli von diesen „Chaoten“ abgefackelt wurde. „Shortnews“ meldet unterdessen: „Ein Wandel vollzieht sich derzeit in der extremistischen Szene in Deutschland. Die rechtsextreme Gewalt war in 2009 allgemein rückläufig, die Gewalt der Linksextremen hat jedoch gewaltig zugenommen. Der Verfassungsschutz wird die linksextreme Szene im kommenden Jahr deutlich stärker überwachen. Dafür wird aus Personalmangel die radikale islamistische Szene weniger überwacht. ‚Linksextreme Gewalt hat eine andere Qualität angenommen. Das ist besonders beunruhigend, denn das hatten wir in der Form noch nicht‘, so der Chef des Hamburger Verfassungsschutzes.“ Während die „Shortnews“-Leser etwas voreilig meinen: „Dabei nähern wir uns bloß längst französischen oder griechischen Verhältnissen an, wo die Jugend sich gegen die Perspektivlosigkeit und soziale Ungerechtigkeit wehrt“, kann man in bezug auf die „Kreuzberger Verhältnisse“ immerhin sagen: Es gibt noch einen gewissen Widerstand gegen die Gentrifizierung in diesem „Problembezirk“.
Aber wer oder was wird da weggentrifiziert? In den Sechziger- und Siebzigerjahren, als dort die linken Studenten und türkischen Gastarbeiter einsickerten, waren dort nur noch „Fußkranke“ übrig geblieben, die nicht ihren Betrieben in die BRD gefolgt waren: Eierdiebe, Alkoholiker, Rocker und vereinsamte Rentner – alle mehr oder weniger ausländerfeindlich und antikommunistisch. Sie starben jedoch zügig weg und aus ihren „Bierschwemmen“ wurden palästinensische Pizzerien und „Spontikneipen“. Nun sind diese „Kiezlokale“ erneut voll mit ausländerfeindlichen Ex-Linken, die sich ob ihrer verpaßten Karrierechancen ressentimentgeladen die letzte Kante geben. So viel Zustimmung wie Sarrazins rassistische Äußerungen bei ihnen fand, hat er wahrscheinlich selbst in den Wohlhabenden-Vierteln Wilmersdorf und Prenzlauer Berg nicht bekommen. Daneben entstehen immer mehr „Touri-Kneipen“ – mit und ohne asiatisch benamtem „Fusion-Food“ im Angebot. Sie haben bereits alle kleinen türkischen Gemüseläden von der „O“ verdrängt – 2008 gab es noch vier.
Man kann sagen: Vom Moritzplatz und von der Köpenickerstraße drängt der EU-Amüsierpöbel aus seinen „Hostels“ und dem „Kreativ-Tower“ von Modulor in den „Problembezirk“, von Nordneukölln drängen die Studenten mit ihren Clubs über den Landwehrkanal rein und von der Oberbaumbrücke und dem „Universal“-Speicher aus machen sich die Lohas über den „Wrangel-Kiez“, wo bereits die höchsten Mieten Berlins verlangt werden, im ganzen Viertel breit. Andersherum werden die verbitterten „Loser“ der Studenten-, Punk- und Hausbesetzerbewegung langsam aber sicher rausgedrängt. Von den Türken ziehen viele freiwillig weg, sobald sie es sich leisten können. Einer, der aufgab und sich nach Treptow zurückzog – der Wirt des Reucher-Cafés „Jenseits“ am Heinrichplatz, Clement de Wroblewsky, ehedem Clown in der DDR, hinterließ eine Kampfschrift: „…dit Volk is doof, aba jerissen…Korrespondenzen zum Rauchverbot“ – gegen das er auch weiterhin juristisch angehen will. Sein Buch erschien soeben im Neuköllner Anarcho-Verlag des Ehepaars Kramer.
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