Das Riesengebirge heißt jetzt Karkonosze. Die Schneekoppe heißt śnieźka. Karpacz, der Ausflugsort am Fuß des Riesengebirges hieß früher Krummhübel. Man kann von Karpacz eine große Rundwanderung auf die śniezka machen. Ganz oben die die Neue Schlesische Baude / Schronisko Na Hali Szrenickiej. Auf dem ersten geraden Stück kommen uns zu Tal rasende Snowboardfahrer entgegen. Bergauf werden wir von wandernden Menschen überholt.
Die Wege sind markiert, die Schilder können wir nach unserem halben Polnischkurs zwar nicht verstehen aber lesen. „Szczęściarz“ zum Beispiel würde uns keine Angst mehr machen. Das heißt „Glückspilz“, aber das steht hier nirgends. An der ersten großen Wegbiegung, wo der Berghang auf der anderen Seite in eine tiefe Kehle abfällt, steht ein dreisprachiges Hinweisschild. 1968 sind 20 Touristen in einer 12 Meter hohen Lawine umgekommen. Ein paar Jahre später wurde auch die Gedenktafel von einer Lawine weggefegt. Zwei Männer lesen die Inschrifttafel und machen sich dann auf den Weg in die Kehle.
Die letzte Hütte auf dem Sattel vorm Gipfelanstieg hieß „Schlesische Baude“, An dieser Grenzstation zwischen Polen und Tschechien, früher zwischen Schlesien und Böhmen, treffen die Ausflügler aus dem nördlichen und dem südlichen Wintersportgebiet aufeinander. Die Lifte enden etwas weiter unterhalb.
Normalerweise fegt hier ein mörderischer Wind zu Tal, heute alles eitel Sonnenschein. Deshalb der Andrang. Die Touristen bewegen sich wie eine Ameisenprozession den steilen Weg zur Gipfelstation hinauf und herunter, rutschen, fallen, halten sich aneinander fest, fotografieren mit ihrem Handy das Panorama, lassen sich selbst vor verschneiten, sturmzersausten Tannen fotografieren. Die Polinnen machen sich – Berg hin oder her – sonntags gerne fein, sie stöckeln am Arm ihrer Männer über die Eisflächen. Die Sonne scheint strahlend aus tief blauem Himmel. Alles, was hier steht – einzelne Bäume, Pfosten, Hinweisschilder – ist mit einer dicken Schicht aus Eiskristallen überzogen. Eine fantastische Welt von weißen Fabelwesen. Die runden Gebäude der Gipfelstation sind zu einem grandiosen Eispalast zugewachsen. Vor dem Eingang treffen wir J und D aus Reichenow. Sie sind von der tschechischen Seite her aufgestiegen. Wir trinken zusammen unseren letzten Wodka und lachen.
Der Weg zurück führt auf der Grenze nach Osten, genau auf dem Kamm. Die vereisten Tannen werden von der untergehenden Sonne vergoldet. Um uns das Panorama. Die Gipfel des Riesengebirges ragen wie eine Inselkette aus dem Dunst, der in allen Tälern liegt. Karpacz, Jelenia Góra sind nicht zu sehen, sie liegen unterm Rauch. Denn es ist kalt, überall wird kräftig eingeheizt, und zwar mit rußiger Kohle, das suppt bei der Wetterlage die Ebenen zu.
Am nächsten Tag fahren wir durch den grauen Dunst zurück, zickzack durch die Ausläufer des Riesengebirges/ Karkonosze. Sobald der Weg etwas Höhe gewinnt, tauchen wir wie die Delfine aus dem diesigen in das strahlend blau-weiße Winterwetter auf, um uns dann wie im Spiel ins nächste Tal fallen zu lassen. Als gute Deutsche sind wir überzeugt, dass Schlesien zu recht polnisch ist, bleiben wird und bleiben soll. Da staunen wir, als wir mehrmals an Hinweisschildern in deutscher Sprache vorbeifahren: „Grundstück zu verkaufen“.
Wir verirren uns, geraten trotz Kompass und Karte auf eine verschneite Straße, die uns zurück ins Riesengebirge und geradwegs auf die tschechische Grenze zuführt. Schengener Abkommen heißt, man kann einfach über die Grenzen fahren, wo eine Straße ist. Aber wir kommen nicht weiter, zu glatt und zu steil ist die schmale Straße. Wir blockieren ein einzelnes Auto, das hinter uns ist. Zwei junge Polen steigen aus, sie wollen uns helfen, den Wagen anzuschieben, Richtung tschechischer Grenze, aber was sollen wir da? Wir wollen zurück. Dann muss der polnische Wagen auch zurück, sonst geht es nicht. Beide Fahrzeuge lassen sich rückwärts den Berg herunterrollen. Nach uns wenden auch die Polen und fahren in umgekehrter Richtung davon.
Zurück im grauen Tiefland und nun weiter in Richtung Grünberg/ Zielena Góra. Der rußige Rauch steigt aus den Schornsteinen, gleitet an einer unsichtbaren Kuppel entlang und lässt sich auf die Dächer und in die Straßen zurückfallen. Es ist jetzt dunkel, das gelbliche Licht einzelner Weihnachtssterne dringt durch den Dunst. Das blau-gelbe ist kein Weihnachtsstern sondern die Beleuchtung vom polnischen Lidl. Wir kaufen schlimme Würste und eine Flasche Wodka und fahren weiter. Die Landstraße windet sich durch dunkle Dörfer. Ab und zu kommt ein Auto entgegen. Sonst leer und dunkel. Den Dunst sieht man jetzt nicht mehr so. Aber man riecht ihn.
Wir fahren auf eine Linksbiegung zu, dahinter steigt eine Böschung an. An der Böschung liegt etwas. Erst als wir schon ganz nah sind, sehen wir, dass es die Räder eines umgestürzten Autos sind. Das Auto liegt im Straßengraben. Etwas anderes dunkles daneben huscht über meine Netzhaut. Da sind wir schon vorbei. „Was war das?“ frage ich. „Da saß ne Frau und weint“, sagt Thomas. Meine Eingeweide ziehen sich ruckartig zusammen. Ich trete auf die Bremse, aber da ist nur die Fußmatte. Thomas fährt, ich fahre bei. Thomas bremst nicht, hinter uns kommen weitere Autos. „Was sollen wir denn da machen?“ rechtfertigt er sich in die polnische Landschaft vor uns. Seine Worte prallen von der Windschutzscheibe ab und fallen als grauer Dunst auf uns zurück. „Wir können ja noch nicht mal polnisch. Wie sollen wir ihr denn da helfen? Das müssen schon ihre Landsleute machen.“
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