Die Spannungen nach der ersten Wahlrunde um die Präsidentschaft in Guatemala zeigen einmal mehr, wie ernst die demokratischen Institutionen des Landes in Gefahr sind – und mit welchen Mitteln die rechtskonservativen Kreise des Landes einen Machtwechsel verhindern wollen. Spätestens seit der Ausweisung der Kommission gegen die Straflosigkeit (CICIG) durchläuft Guatemala eine politische Krise. Exilierte Justizbeamt*innen, Menschenrechtler*innen und Medienschaffende bezeichnen das enge Netz aus Regierungs- und Justizkreisen, wirtschaftlichen Eliten, Militärs und dem organisierten Verbrechen inzwischen als Justizdiktatur und „Pakt der Korrupten“. Hoffnung machte zwar der überraschende Einzug des Kandidaten Bernardo Arévalo von der neu gegründeten Mitte-Links-Partei Semilla in die Stichwahl um die Präsidentschaft. Doch die Reaktion der Rechten folgte prompt.
Es war eine riesige Überraschung: Mit knapp zwölf Prozent der Stimmen zog Bernardo Arévalo Ende Juni als Kandidat der Partei Semilla in die Stichwahl um die Präsidentschaft ein. Medienberichte und Meinungsumfragen waren stets davon ausgegangen, dass es die Kandidat*innen der Parteien UNE und Valor in die zweite Runde schaffen würden. Für letztere war mit Zury Ríos die Tochter des Putschistengenerals Efraín Ríos Montt, der 2013 wegen Völkermordes verurteilt wurde, angetreten. Für die zweite Wahlrunde reichten die Stimmen für Ríos jedoch nicht. Semilla-Kandidat Arévalo tritt daher bei der Stichwahl im August gegen Sandra Torres von der sozialdemokratischen UNE-Partei an, die mit 15 Prozent der Stimmen das beste Wahlergebnis erreichte und für die alten Strukturen steht, die das Land derzeit regieren. In Guatemala ziehen unabhängig von der Prozentzahl der Stimmen nur die beiden stärksten Kandidat*innen in die Stichwahl um das Präsident*innenamt ein.
Drei Kandidat*innen der Opposition waren im Vorfeld willkürlich von der Wahl ausgeschlossen worden. Auch wegen mangelnder Transparenz zu diesem Vorgang war die Wahl von Beginn an in Frage gestellt worden. Neben dem Präsident*innenamt wurden am 25. Juni auch Abgeordneten- und Bürgermeister*innenämter zur Wahl gestellt.
Korrupte Elite erwirkt Neuauszählung der Stimmen
Die Bewegung Semilla ist eine sozialdemokratische Mitte-Links-Partei und entstand 2015 in einer Zeit der Massenmobilisierungen gegen Korruption und Straflosigkeit. Dass die Partei im Wahlkampf weitgehend unsichtbar gemacht und nicht zu den Favoriten gezählt wurde, zieht auch die mangelnde Glaubwürdigkeit offizieller Umfragen in Zweifel. Der Erfolg von Semilla bei den Wahlen zeigt in diesem Kontext einen kulturellen und generationsbedingten Wandel, den Guatemala derzeit durchlebt – vor allem aber einen Überdruss gegenüber dem herrschenden politischen System.
Nach Auszählung von über 8o Prozent der Stimmen machte Semilla das Wahlergebnis auf einer Pressekonferenz offiziell. Am nächsten Tag gab das Oberste Wahlgericht (TSE), die nach guatemaltekischem Recht zuständige juristische Instanz, die vorläufigen Wahlergebnisse bekannt. Nur die offizielle Bestätigung des endgültigen Resultats stand zu diesem Zeitpunkt noch aus.
Die rechtsgerichtete politische Elite (von vielen in der Bevölkerung auch als „Pakt der Korrupten“ bezeichnet) fand jedoch schon bald Vorwände dafür, diese zu verzögern. So sei es unter anderem zu Unregelmäßigkeiten bei der Auszählung der Stimmen für die Bürgermeister*innenwahl in Guatemala-Stadt gekommen. Sie zog mit diesem Anliegen vor das Verfassungsgericht des Landes, obwohl dafür in erster Instanz das TSE zuständig gewesen wäre. Die unterlegene Partei Valor war die erste, die eine Klage gegen das Wahlergebnis einreichte. Verschiedene andere Parteien folgten. Ihr Ziel war es, die endgültige Bekanntgabe der Wahlergebnisse zu verlangsamen und eine Neuauszählung der Ergebnisse zu erreichen.
Am Rande eines technischen Staatsstreichs
Diese – zweifellos willkürliche, da dem guatemaltekischen Recht wider-sprechende – Maßnahme sorgte in der Bevölkerung für Überraschung und Empörung und löste Proteste und Aktionen in verschiedenen Teilen des Landes aus. Verfassungsrechtler*innen zufolge steht Guatemala damit am Rande eines technischen Staatsstreichs. Denn die Forderung nach Neuauszählung signalisiere, dass die „Justizdiktatur“ die Entscheidung der Guatemaltek*innen am 25. Juni an der Wahlurne, nicht respektiere.
Der Antrag auf Neuauszählung der Wahlergebnisse wurde letztlich zwar am 7. Juli vom Verfassungsgericht abgewiesen. Doch damit war es der Rechten nicht genug: Nur eine Woche später, am 13. Juli, wurde bekannt, dass ein Strafgericht auf Antrag von Rafael Curruchiche, Sonderstaatsanwalt für Korruptionsbekämpfung, die Auflösung des Rechtsstatus der Partei Semilla angeordnet hatte. Angeblich habe es während der Gründungsphase der Partei Unregelmäßigkeiten gegeben, so die fadenscheinige Begründung. Die Generalstaatsanwaltschaft ließ außerdem das Parteienregister des TSE durchsuchen. Curruchiches eigene Reputation in dem Fall ist zweifelhaft: Seit 2022 führt ihn beispielsweise die US-Regierung auf einer offiziellen Liste korrupter zentralamerikanischer Funktionär*innen.
Semilla ging gegen das Verbot der eigenen Partei postwendend vor dem Obersten Wahlgericht in Berufung. Dieses kassierte die vorherige Entscheidung am 14. Juli dann auch in letzter Instanz und legte fest, dass Semilla für die Präsidentschaftswahlen weiterhin zugelassen bleibt. Eine mehr als folgerichtige Entscheidung, denn zwischen zwei Wahlrunden erlaubt das guatemaltekische Wahlrecht Parteienverbote generell nicht. Die juristischen Angriffe auf Semilla zeigen jedoch, mit welchen Mitteln diejenigen, die aktuell an der Macht sind, versuchen, diese auch zu erhalten.
Unter dem Motto „Gerechtigkeit jetzt!“ wird gegen den „Pakt der Korrupten“ mobilisiert
Die Stichwahl um die Präsidentschaft ist für den 20. August angesetzt. Es bleibt zu hoffen, dass diese auch tatsächlich wie geplant stattfinden kann und es dem „Pakt der Korrupten“ nicht gelingt, den demokratischen Prozess weiter zu sabotieren und die öffentliche Meinung für seine Zwecke zu instrumentalisieren. Um Letzterem etwas entgegenzuhalten, formierten sich in mehreren guatemaltekischen Städten auch nach Bekanntgabe des offiziellen Wahlergebnisses unter dem Motto „Gerechtigkeit jetzt!“ Straßenproteste.
Diese Antwort der Bevölkerung kam vor allem von jungen Menschen: Sie machen auf der Straße und in den sozialen Netzwerken auf die juristischen Angriffe auf die Wahlergebnisse aufmerksam und verschaffen der Bewegung Semilla damit weitere Unterstützung. 26 Jahre nachdem der Bürgerkrieg in Guatemala mit einem Friedensabkommen beendet wurde, lautet ihre Kernforderung: Die Wahlen sollen „an der Wahlurne und nicht vor Gericht“ abgehalten werden. Auch indigene Bewegungen schlossen sich dieser Forderung an. In einer Pressekonferenz erklärten sie, damit nicht für eine bestimmte Partei kämpfen zu wollen, sondern für Rechtsstaatlichkeit und Demokratie.
// Lucía Ixchiu, Übersetzung: Daniel Stosiek & Susanne Brust