vonLN Redakteur*in 24.05.2023

Lateinamerika Nachrichten

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Seit November letzten Jahres protestiert eine Gruppe von Frauen aus den benachbarten Wichí-Dörfern Misión Chaqueña und Carboncito gegen die Abholzung ihres Waldes. In der brennenden Sommerhitze des Chaco sitzen die Frauen täglich im Protestcamp in dem Waldstück, das die beiden Ortschaften im Norden der argentinischen Provinz Salta voneinander trennt. Damit versuchen sie, das Eindringen von Holzfällern und Holztransporte aufzuhalten.

Das Waldstück, in dem sich das Protestcamp befindet, wurde im vergangenen Jahr ohne Konsultation mit den indigenen Gemeinden verkauft. Der „sogenannte Eigentümer“ (supuesto dueño), wie ihn die Wichí-Frauen nennen, versucht seither, mit dem Holzverkauf Geld zu verdienen. Mithilfe eines Anwalts soll aufgeklärt werden, woher dieser neue Landnutzer mit einem Besitztitel wie aus dem Nichts erscheinen konnte.

„Wir wollen vor allem verhindern, dass er den Wald einzäunt“, so Lucy Gutierrez, eine der Initiator*innen des Protestcamps. Denn das Einzäunen ist der erste sichtbare Schritt hin zur Privatisierung gemeinschaftlich genutzter Ressourcen. Die Frauen des Protestcamps erklären, warum die verschiedenen Bäume und Pflanzen des Waldes und der freie Zugang zu ihnen so existenziell wichtig sind: Das Hartholz wird für den Möbelbau benötigt, das Brennholz zum Kochen.

„Der Wald ist unsere Apotheke“

Aus der Chaguar-Pflanze fertigen die Weber*innen der Wichí kunstvolle Textilprodukte. Bäume wie der Mistól und der Algarrobo sind eine wichtige Nahrungsquelle für die indigene Bevölkerung dieses Gebiets, die bis vor wenigen Generationen nomadisch im und vom Wald lebte. Diese Praktiken sind bis heute wichtiger Teil der kulturellen und materiellen Existenz der Wichí.

„Der Wald ist unsere Apotheke“, erklärt Lucío Palavesino und zeigt auf verschiedene Büsche und Bäume, deren Blätter gegen Verdauungskrankheiten oder Fieber helfen. Doch diese Ressourcen des Waldes verschwinden nach und nach. Das Wissen über die Pflanzen und Tiere und die nachhaltige Nutzung des Waldes gehe immer weiter verloren, da die jüngere Generation kein Interesse mehr daran habe.

Trotzdem würden sie alles tun, um die Zerstörung des Waldes aufzuhalten – wenn nötig mit direkter Aktion und Körpereinsatz.„Wir wollen hier keine Finca, die alles abholzt und uns mit Agrargiften besprüht“, erklärt Lucy. „Wir sehen das in der Umgebung in den anderen Dörfern, wo es Menschen mit Hautproblemen oder Missbildungen gibt.“

Der Einsatz von Pestiziden führt bei Kindern zu Durchfall und Erbrechen

Allein seit dem Jahr 2000 wurde ein Viertel der Waldflächen des Gran Chaco abgeholzt. Ab 2007 trat in Argentinien zwar ein nationales Waldschutzgesetz in Kraft, doch die Abholzung schreitet weiter voran, wenn auch etwas verlangsamt. Was auf den Verlust des gemeinschaftlich genutzten Waldes folgt, lässt sich in der Comunidad La Esperanza, einige Kilometer weiter westlich beobachten. Bis hier ist die Abholzungswelle entlang der Nationalstraße 53 vorgedrungen.

Das war vor etwa 15 Jahren, berichtet Mario Molina, cacique (indigener Anführer) der kleinen Wichí-Gemeinde. Auf mehreren Seiten seien sie heute von Soja-, Mais- und Erbsenfeldern umgeben. Während der Saatperiode werden hier, nur wenige Meter von der Siedlung entfernt, Pestizide versprüht, die vor allem bei den Kindern zu Reaktionen wie Durchfall und Erbrechen führen. Die Bewohner*innen von La Esperanza leiden unter Haut- und Atemwegsproblemen. In dieser kleinen Siedlung von nur 30 Familien gibt es sieben Fälle von Missbildungen bei Kindern. Immer wieder hätten sie die Pestizidvergiftungen angezeigt, doch bisher habe die Justiz nicht reagiert.

In der kleinen Gemeinde gibt es so gut wie keine medizinische Versorgung und die Familien fühlen sich mit den teils schweren Gesundheitsproblemen völlig allein gelassen. Ihnen sei mit dem Wald auch die Bewegungsfreiheit und ein Teil ihrer Grundversorgung genommen worden, so Molina. Heute seien sie weitaus mehr auf Geld für Lebensmittel und Medikamente angewiesen, doch es gibt keine Arbeit in der industriellen Landwirtschaft. Viele an Ortschaften angrenzende Fincas sind dazu übergegangen, die Pestizide im Schutz der Dunkelheit auf den Feldern auszubringen. Das berichten auch die Bewohner*innen der comunidades O KaPukie und Quebracho am Rand der weiter nördlich gelegenen Stadt Tartagal.

Durchgangszone für eine Vielzahl legaler und illegaler Güter

Vor Kurzem stellten sich die Menschen hier einem Sprühfahrzeug in den Weg, nachdem der Chemikalien-Gestank vom benachbarten Sojafeld sie aus dem Schlaf gerissen hatte. Viele der Beteiligten litten danach unter Erbrechen und Schwindel. Auch aus den comunidades in der Umgebung wird immer häufiger über Hautprobleme, Krebskrankheiten sowie Fehl- und Frühgeburten berichtet.

An der Ruta 34: Ein von der Abholzung verschonter Palo Borracho (Foto: Naomi Henning)

Die tropische Stadt Tartagal liegt am Rand der Chaco-Ökoregion, das zweitgrößte Waldgebiet Südamerikas und ein sogenannter Entwaldungs-Hotspot. Knapp 60 Kilometer von der Grenze zu Bolivien entfernt, ist Tartagal eine Durchgangszone für eine Vielzahl legaler und illegaler Güter und zugleich ein Ort von immenser kultureller Vielfalt.

Hier leben Nachfahren unterschiedlicher Gruppen von Einwander*innen zusammen mit Menschen aus sieben verschiedenen indigenen Völkern. Die nordsüdlich verlaufende Ruta 34 und die nach Osten aus der Stadt führende Ruta 86 sind zugleich die Achsen, entlang derer sich die Abholzung und das System des Monokulturanbaus in den vergangenen Jahrzehnten vorangeschoben hat.

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Hier lassen sich der argentinische Agrarextraktivismus,die export- und profitgetriebene Produktion für den Weltmarkt wie unter einem Brennglas beobachten. Entlang der Ausfallstraßen siedeln sich die an, die aus dem Zentrum der Stadt und den traditionell genutzten Territorien im Hinterland verdrängt wurden. So wachsen die informellen Siedlungen um Tartagal, viele ohne Anschluss an die städtische Infrastruktur und Zugriff auf sauberes Trinkwasser, im Zustand einer fortgesetzten Ernährungs -und Gesundheitskrise. Hier folgt eine Krise auf die nächste, berichtet Araceli Gorgal, eine junge Ärztin aus der Provinz Buenos Aires, die in Tartagal ihren sozial-medizinischen Praxisaufenthalt absolviert. Vor allem das Thema Ernährung müsse als erstes angegangen werden.

// Naomi Henning, Salta

Die ungekürzte Version dieses Textes ist in der Mai-Ausgabe 2023 Nummer 587 der Lateinamerika Nachrichten erschienen und kann hier nachgelesen werden.

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kommentare

  • Argentinien ist das Land in Lateinamerika in welchem das Verhaeltnis mit den Nachkommen der Indigenen noch Verbesserung bedarf. „Wir sind Europa in Amerika“ und die im „Westen in den Anden “ sind unsere „Landbevoelkerung“. Kapiert ? Natuerlich wie ueberall in den beiden Amerikas, haben viele Argentinier etwas Abkunft von indigenen Ahnmuettern. Schon am Anfang waren Haeuptlinge vielfach interessiert dass ihre Toechter die „Neuen“ heiraten. Noch mehr als in Mexiko sind in Argentinien die Nachkommen der afrikanischen Sklaven Argentiniens in der nationalen Bevoelkerung verschmolzen. Wie ueberall in Lateinamerika waren nach Argentinien wenige Frauen von Europa eingewandert. Deshalb ist die „Latina“ ueberall anders als die Europaerinen. Die „Latina“ noergelt weniger, zuckt die Schultern, laechelt mit einem Zwinkern der Augen und meint: „Der ist eben so !“

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