Die hart erkämpfte Legalisierung der Abtreibung in Argentinien 2020 war ein Meilenstein für die feministischen Kämpfe in Lateinamerika. Kolumbien folgte 2022 mit einem der liberalsten Abtreibungsgesetze der Welt und auch in Mexiko haben mittlerweile immer mehr Bundesstaaten Schwangerschaftsabbrüche legalisiert.
Auch in anderen Bereichen gibt es Fortschritte: Seit 2018 ist beispielsweise die Anzahl der Gründungen feministischer Medien in Lateinamerika signifikant angestiegen. Zudem haben sich zahlreiche Vernetzungsstrukturen für feministische Journalist*innen gebildet, so auch das seit 2019 jährlich stattfindende Festival Zarelia. Bei diesem tauschen sich über 100 Teilnehmer*innen aus der ganzen Region darüber aus, wie feministischer Journalismus gestärkt werden kann.
Die Fotojournalistin María Ruiz vom mexikanischen Onlinemedium Pie de Página beschreibt feministischen Journalismus in einem Interview mit der DW als Notwendigkeit, um der Reviktimisierung, der mangelnden Präsenz feministischer Themen sowie der Objektivierung und Sexualisierung weiblicher Körper etwas entgegenzusetzen.
Feministische Kämpfe müssen antikapitalistisch und antikolonial gedacht werden
So wichtig die Erfolge der marea verde („grüne Welle“) und der feministischen Bewegung insgesamt auch sind, sind sie doch nur einige der vielen Erfolge, die es für den Fall des Patriarchats braucht. Wie Ni Una Menos-Gründerin Marta Dillon 2018 schon analysierte, wurde die Forderung der feministischen Bewegung in Lateinamerika nach einer grundlegenden Veränderung des Systems in den vergangenen Jahren noch stärker formuliert: Feministische Kämpfe müssen antikapitalistisch und antikolonial gedacht werden und sich auf alle Lebensbereiche ausweiten.
Im Hinblick darauf kann auch die feministische Bewegung in Deutschland noch das ein oder andere lernen. In der Vergangenheit haben Bewegungen aus Lateinamerika in Deutschland wichtige Debatten anstoßen können – nicht nur, aber auch in der symbolischen Verbindung von Feminist*innen aus aller Welt durch Performances wie Un violador en tu camino („Ein Vergewaltiger auf deinem Weg“) vom chilenischen Kollektiv LASTESIS. Nicht zuletzt ist der 8. März als Demonstrations- und Streiktag auch dank vieler Impulse aus Lateinamerika nun wieder eine feste Institution.
Viele der heutigen Kämpfe sind transnational, sie werden an verschiedensten Orten der Welt und oft in Bezug aufeinander geführt. Auch feministische Demonstrationen in Deutschland stellen nun die Themen sexualisierte Gewalt und körperliche Selbstbestimmung in den Mittelpunkt. Wichtige Fragen nach der Organisierung von Care-Arbeit haben weder in Lateinamerika noch hierzulande an Aktualität verloren. Doch insbesondere hier werden auch die Fallstricke deutlich, wenn Feminismus nicht in globalen Zusammenhängen gedacht wird: Zurecht kritisieren Kampagnen wie „Legalisierung jetzt!“ in Berlin die vermeintliche Emanzipation einiger privilegierter Frauen in Deutschland durch die Abgabe von Sorgearbeit an prekarisierte Migrant*innen, unter anderem aus Lateinamerika. Denn Sorgearbeit muss grundsätzlich anders organisiert werden.
Blick auf die interne Heterogenität der Bewegung darf nicht fehlen
Auch deshalb werden wir also den feministischen Stimmen aus Lateinamerika und der lateinamerikanischen Diaspora aufmerksam zuhören. Der Blick auf die interne Heterogenität der Bewegung darf dabei nicht fehlen.
Denn bei aller Euphorie, die manches Foto von riesigen feministischen Demonstrationen auslösen kann, wurden in den vergangenen Jahren auch interne Konflikte offenkundig. Sei es die berechtigte Kritik aus Schwarzer oder indigener Perspektive, die einen dekolonialen Feminismus fordern und sich am städtischen Mittelklasse-Fokus der Bewegung stören, oder Probleme wie Transfeindlichkeit in den eigenen Reihen – diverse Stimmen lassen uns erkennen, dass auch diese neue Welle des Feminismus nicht romantisiert werden sollte.
Und apropos nicht romantisieren: „Frauenthemen“ wurden über Jahrzehnte der LN-Geschichte komplett ausgeblendet. Heute sind Artikel, die sich mit feministischen, queeren und intersektionalen Fragen auseinandersetzen, glücklicherweise regelmäßig in den Lateinamerika Nachrichten zu finden. Was mit ein paar Frauen in der Redaktion der 1990er begann, die sich über diese Leerstelle beschwerten, ist heute Schwerpunktthema vieler Mitglieder der Redaktion.
Auch die Leser*innen scheint das Thema zu beschäftigen, so ist zum Beispiel das feministische Dossier Nr. 18 „Vivas nos queremos” nicht nur eines der meistgelesenen, sondern in gedruckter Fassung inzwischen sogar vergriffen. Mit Sicherheit werden wir also auch in Zukunft über Bewegung und Entwicklung feministischer Anliegen in Lateinamerika berichten. Schon in den vergangenen zehn Jahren gab es mehr LN-Ausgaben und Artikel zu feministischen Themen als in der gesamten Zeit zuvor – und das ist auch gut so!
// Johanna Saggau & Johanna Fuchs