vonLN Redakteur*in 26.09.2022

Lateinamerika Nachrichten

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Zu Recht wird die kommende Wahl als „Schicksalswahl“ bezeichnet, denn der amtierende Präsident Jair Bolsonaro hat das Land in den letzten vier Jahren nahezu ruiniert und international diskreditiert. Die Umfragen sind relativ stabil und zeigen einen deutlichen Vorsprung des ehemaligen Präsidenten Lula da Silva von der Arbeiterpartei PT.

Doch die große Frage lautet: Wird Bolsonaro eine Wahlniederlage überhaupt akzeptieren? Während der Präsident weiter die Legitimität des brasilianischen Wahlsystems infrage stellt, ist in seinem Umfeld auch ein Putsch noch immer im Gespräch.

Nahezu verzweifelt versuchte William Bonner, TV-Moderator des größten brasilianischen Senders Rede Globo, Jair Bolsonaro im August während der traditionellen Interview-Runde mit den Kandidat*innen der Präsidentschaftswahl das Bekenntnis abzuringen, dass er eine Wahlniederlage akzeptieren werde.

Bolsonaro gereizt

Doch der amtierende Präsident insistierte: Er werde die Ergebnisse nur dann akzeptieren, wenn die Wahlen „sauber“ seien. Auf das Gegenargument Bonners, dass das brasilianische Wahlsystem anerkanntermaßen „sauber, transparent und mit überprüfbaren Ergebnissen an den Urnen“ funktioniere, reagierte Bolsonaro gereizt und verlangte, das Thema zu wechseln. Der Wahlkampf läuft bisher nicht zufriedenstellend für den rechtsradikalen Präsidenten Brasiliens.

Anfang September veröffentlichte das führende Meinungsforschungsinstitut Datafolha als Umfrageergebnis erneut einen soliden Vorsprung seines Gegenkandidaten Lula da Silva von der Arbeiterpartei PT: 45 Prozent für Lula gegenüber 32 Prozent für Bolsonaro. Am 5. September kam das Institut ipec im Auftrag von Rede Globo zu sehr ähnlichen Ergebnissen: 44 Prozent zu 31 Prozent. Selbst bei einer Fehlerquote von zwei Prozent wären dies rund zehn Prozentpunkte Vorsprung für Lula im ersten Wahlgang am 2. Oktober.

Obwohl die Umfrageergebnisse für Lula schon einmal besser waren – zwischen Mai und Juni erhielt er im Durchschnitt 47 Prozent und Bolsonaro nur 28 Prozent– scheint alles auf eine Stichwahl zwischen ihm und Bolsonaro hinzudeuten. Und im zweiten Wahlgang am 30. Oktober würde Lula nach allen bisherigen Umfragen rund 52 Prozent der Stimmen erhalten, Bolsonaro jedoch höchstens 36 Prozent.

Zweiter Wahlgang wahrscheinlich

Alle anderen Kandidat*innen liegen deutlich unter zehn Prozent, am meisten Zustimmung kann Ciro Gomes von der sozialdemokratischen PDT mit acht Prozent verzeichnen. Da bei den Kandidat*innen mit geringer Zustimmung (ein bis fünf Prozent) aktuell ein bisschen Bewegung nach oben besteht, wird ein zweiter Wahlgang wahrscheinlicher. Gleichzeitig ist die Anzahl der Unentschlossenen in den letzten Wochen von neun auf drei Prozent gesunken.

Nicht überraschend also, dass sich die Wahlkampfmanager*innen des rechtsradikalen Präsidenten für die verbleibenden dreieinhalb Wochen vor der Wahl Gedanken über einen Strategiewechsel machen. Selbst die Wiedereinführung einer Art von Sozialhilfe, des Auxílio Brasil von 600 Reais (rund 120 Euro), und die Reduzierung des Benzinpreises haben seiner Kandidatur nicht den erwarteten Aufwind verschafft. Da sich der Rechtsradikale bisher im Wahlkampf relativ moderat präsentiert hat, um die Wählerschaft der Mitte nicht abzuschrecken, wird nun erwogen, den „echten Bolsonaro“ wieder aus dem Schafspelz zu ziehen – vor allem um Nichtwähler*innen zu mobilisieren.

Den Nationalfeiertag am 7. September nutzte Bolsonaro daher als willkommene Gelegenheit für den Wahlkampf. Er schlüpfte dabei ganz nach seinem Belieben abwechselnd in die Rolle des Präsidenten und die des Kandidaten: mal präsidial mit Schärpe bei der Abnahme der Militärparade in Brasília, mal kämpferisch mit Bomberjacke auf einem „privaten“ Fahrzeug in Rio de Janeiro vor zehntausenden von Anhänger*innen.

Richter kündigt „Untersuchung des Verhaltens des Kandidaten Bolsonaro“ an

Dabei stellte er eindrucksvoll unter Beweis, dass er nach wie vor Massen mobilisieren und begeistern kann. „Bolsonaro sucht am 7. September die Kraft, die ihm in den Umfragen fehlt,“ titelte dazu die Zeitschrift Veja. In den bürgerlichen Medien wurde Bolsonaros Missbrauch des Nationalfeiertages für seinen Wahlkampf kritisiert. Verbietet doch das brasilianische Wahlgesetz die Nutzung offizieller Ämter für Kampagnen.

Das oberste Wahlgericht kann Kandidat*innen, die dies missachten, von der Wahl ausschließen, anschließend dürfen sie acht Jahre lang nicht kandidieren. Doch obwohl der zuständige oberste Richter „eine Untersuchung des Verhaltens des Kandidaten Bolsonaro“ ankündigte, scheint eine Ahndung angesichts der von Bolsonaro getroffenen Vorsichtsmaßnahmen wenig wahrscheinlich, trotz oder gerade wegen dessen andauernder Angriffe auf das Justizsystem.

Auch dies hoben viele Kommentator*innen ausdrücklich hervor: Bolsonaro habe den obersten Gerichtshofes STF während seiner Ansprachen nicht direkt angegriffen. Es war allerdings auch nicht mehr notwendig: Der Präsident gab die Stichworte und die Menge grölte die Slogans; auch viele Transparente und Schilder seiner Anhänger*innen richteten sich gegen den STF. Die Erosion der Glaubwürdigkeit der Justiz ist dem Rechtsradikalen im Vorfeld der Wahlen jedenfalls geglückt.

Anzeige der Koalition für die Verteidigung des Wahlsystems

Auch die Gefahr eines Putsches im Fall einer Wahlniederlage scheint nicht gebannt: „Ich ziehe einen Putsch der Rückkehr der PT vor. Das ist eine Million Mal besser. Und mit Sicherheit wird niemand aufhören, mit Brasilien Geschäfte zu machen, so wie sie es mit verschiedenen Diktaturen überall auf der Welt machen“, schrieb José Koury, Besitzer der Einkaufsmeile Barra World Shopping, in einem privaten Chat am 31.7.2022. Veröffentlicht wurden diese und ähnliche Nachrichten von namhaften Unternehmern im August von Guilherme Amado, Journalist der Website Metrópoles.

Mit dabei war auch Luciano Hang, Gründer der Kette Havan, der laut Forbes 2021 über ein Vermögen von rund drei Milliarden Euro verfügte. Er hatte, neben vielen anderen Unternehmer*innen, die massiven Whatsapp-Kampagnen finanziert, die Bolsonaro 2018 zu seinem Sieg verhalfen – was ebenfalls gegen die Wahlgesetze verstieß, aber juristisch nicht weiter verfolgt wurde.

Doch im aktuellen Fall scheint die Justiz tätig zu werden, obwohl José Koury leugnete, den zitierten Text verfasst zu haben. Dieser sei sinnentstellt wiedergegeben worden und die Planung einer Konspiration in einem Kreis von 200 Mitgliedern einer Chatgruppe sei ohnehin lächerlich. Alexandre de Moraes, Richter am STF, hob am 6. September das Recht auf Geheimhaltung persönlicher Nachrichten der Unternehmer auf und blockierte ihre Accounts. Grundlage für die Entscheidung war eine Anzeige der Koalition für die Verteidigung des Wahlsystems, zu der sich mehr als 200 Organisationen und soziale Bewegungen zusammengeschlossen haben.

Landesweite Demonstrationen in mehr als 50 Städten

Die Koalition hat im Vorfeld der Wahlen mehr als eine Million Unterschriften für einen „Brief an die Brasilianerinnen und Brasilianer“ organisiert. Angelehnt war er an das gleichnamige Dokument aus dem Jahr 1977 von Goffredo da Silva Telles Jr., in dem die damalige Militärregierung kritisiert wurde und das einen Meilenstein im Kampf gegen die Diktatur darstellte. Die Veröffentlichung des aktuellen Briefes wurde Mitte August von landesweiten Demonstrationen in mehr als 50 Städten begleitet, in denen zur Verteidigung der Demokratie und des brasilianischen Wahlsystems mit seinen elektronischen Urnen aufgerufen wurde. Ein Höhepunkt war die Verlesung des Briefes an der juristischen Fakultät in São Paulo, an der auch Vertreter*innen bürgerlicher Parteien und der Unternehmerschaft teilnahmen.

Auch Lula da Silva und Ciro Gomes unterzeichneten den „Brief an die Brasilianerinnen und Brasilianer“ – die Gemeinsamkeiten der beiden Mitte-links-Kandidaten im Wahlkampf enden an diesem Punkt aber bereits. Seit 2018 im Streit, hatte Ciro Gomes bereits zu einem sehr frühen Zeitpunkt eine Beteiligung an einem Wahlbündnis für Lula abgelehnt. In den vergangenen Wochen hat er den Ton verschärft und in den sozialen Medien den Gesundheitszustand von Lula infrage gestellt.

Dieser ätzte zurück, dass er Online-Kampagnen gar nicht nötig habe, da er fortwährend auf Großveranstaltungen „direkt mit dem Volk“ kommuniziere. Tatsächlich hat Lulas Fähigkeit, Massen zu mobilisieren, nicht nachgelassen und er absolviert ein beeindruckendes Wahlkampfprogramm, bei dem er täglich auch mit Vertreter*innen der sozialen Bewegungen spricht. In Interviews und Debatten hat er dagegen die Haltung eines Staatsmanns eingenommen, dem kleinere Streitereien egal sind.

Ernste Bedrohung der brasilianischen Demokratie

Aktuell sind Lula und die PT vor allem daran interessiert, die Wahl bereits im ersten Wahlgang zu entscheiden und möglichst viele Wählerstimmen für die zeitgleich stattfindenden Wahlen für das nationale Parlament und die Regierungen der Bundesstaaten zu gewinnen. Die neun Prozent Wählerstimmen, die Ciro Gomes voraussichtlich erhalten wird, machen einen zweiten Wahlgang mit all seinen Unwägbarkeiten deutlich wahrscheinlicher. Und dies ist nicht nur für die PT gefährlich: Denn was sich der Kandidat Bolsonaro in den vier Wochen zwischen dem ersten und dem zweiten Wahlgang einfallen lässt, um die Wahlen zu delegitimieren, könnte eine weitere, ernste Bedrohung der brasilianischen Demokratie bedeuten.

// Claudia Fix

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