Morgends ging ich wie immer in das Raucherabteil des Café Telegraph. Oft war ich hier der einzige Gast. Manchmal kamen auch Leute von unten, um hier schnell noch eine zu rauchen. Ich dachte an die „Vodka Factory“, den in Schweden produzierten Wettbewerbsfilm des polnischen Regisseurs Jerzy Sladkowski, den ich am Abend zuvor gesehen hatte. Es geht um Frauen, die in einer russischen Provinzstadt, fast 1000 km von Moskau entfernt in einer Wodkafabrik arbeiten. Alleinstehende Mütter vor allem. Man sieht sie bei der Arbeit, und wenn sie so bei der Arbeit miteinander reden, denkt man, dass sie es doch auch nicht so ganz schlecht getroffen haben. Manchmal treffen sie sich auch zum Zigarettenrauchen und Trinken in kleinen Wohnungen. Sie reden über ihr Liebesleben. Valya, die blonde Heldin, Ende zwanzig mit einem kleinen Sohn aber ohne Mann, will aus der provinziellen Welt ausbrechen. Sie nimmt Schauspielunterricht und träumt davon, Schauspielerin zu werden. Sie ist nicht wirklich talentiert wohl, aber quite a character. Ihre Mutter, die in einem Bus Fahrkarten verkauft, passt oft auf den Enkel auf. Beide streiten sich oft. Irgendwann kommt auch eine Liebe von vor dreissig Jahren vorbei, die Mutter läßt sich schönmachen. Das ist sehr anrührend. Am Ende verläßt Valya die Kleinstadt ohne ihren Sohn, auf den von nun an die Mutter acht gibt. Alles ist sehr russisch; oft hat man das Gefühl, in einem Spielfilm zu sein. Weil die Geschichte so folgerichtig abläuft.
„Things just started to happen“, sagte Jerzy Sladkowsk nach der Vorführung. Erst hätte man lange diesen Ort gesucht. Dann hatte man ihn gefunden; der Ort, die Wodka-Fabrik, war fantastisch. Und weil der Ort so fantastisch war, musste da doch auch irgendwo eine zum Ort passende Heldin sein. Die man schließlich auch fand. Und dann ging die Handlung ihrer Wege.
Aber haben Sie ihre Heldin, die am Ende ja als böse Mutter ihren kleinen Sohn verläßt, nicht irgendwie doch benutzt? – „Film ist kein Kindergarten.“ Die Schauspieler ihres eigenen Lebens wurden natürlich auch bezahlt und hatten den Film gesehen, ohne Einspruch zu erheben. Dass der Dokumentarfilm oft wirkte wie ein Spielfilm, liege auch daran, dass man in Russland so viele Reality-Shows gucken würde. Deshalb können die Menschen mittlerweile alle so gut vor der Kamera agieren. Und wollen das auch. Das beobachte er seit zehn Jahren
„Vodka Factory“ gewann am Ende die Goldene Taube für den besten langen Dokumentarfilm.
Der Film war nicht ganz unumstritten.
Pepe Dankwart von der Festivaljury war naturgemäß begeistert; die ganze Nacht vor der Preisverleihung hätte man rauchend und wodkatrinkend in der Jury darüber gesprochen; die Regisseurin Maja Classen („Feiern“) dagegen hatte „Vodka Factory“ furchtbar gefunden, eine teurer, schicker Film, je teurer, desto schlechter, die Spielfilmdramaturgie fand sie glaube ich auch blöd (wir hatten ganz am Ende, um fünf Uhr morgends noch nach der Abschlußparty darüber gesprochen)
Der Film gibt seinen Protagonistinnen eine Geschichte, die wir sehen, die sie sehen, eine Geschichte, die gut anzuschauen ist, auch wenn sie traurig ist, die die Helden dieser Geschichte auch gerne anschauen, auch wenn es eher nicht so schön ist, in ihr zu leben. (Und in der Geschichte nach dem Film ging alles komplett daneben, wie der Regisseur noch erzählte)
„The Last Tightrope Dancer in Armenia“, der großartige Dokumenartfilm der armenischen Regisseure Inna Sahakyan und Arman Yeritsyan, der in einer Sonderreihe mit Filmen aus dem Kauskasus gezeigt wurde, erzählt von der aussterbenden Kunst des Seiltanzens. Die Hauptfiguren sind ein alter Meister, dessen Familie seit 300 Jahren diese Kunst betreibt und sein hochtalentierter Schüler, den der alte Mann in einem Waisenhaus adoptiert hatte. Früher sind die Seiltanzkünstler durch die Gegend gezogen und wurden gefeiert. es gibt viel, schönes, altes Archivmaterial zu sehen. Heutzutage kommen nur noch wenige, um ihre Kunst zu sehen. Das Fernsehen ist vielleicht schuld, in dem noch größere Kunstücke zu sehen sind. Das ist so ähnlich vielleicht wie mit Fussballzuschauern, die nur noch Barcelona sehen wollen im Fernsehen und den Fussball in ihrer eigenen Umgebung langweilig finden. Ich gucke nicht so viel Fernsehen. Die Kunststücke, die der junge Seiltänzer aufführt, sind erstaunlich und großartig. Der Film erzählt vom Meister und seinem Schüler, der das Seiltanzen aufgeben möchte; weil er dabei so wenig Anerkennug findet. Die Regisseure begleiten die Seiltänzer über vier Jahre. Am Ende des Films stirbt der Seiltanzmeister und sein Schüler muss zur Armee. Der Regisseur war leider nicht auf der Bühne, sein Mitarbeiter, auch ein Filmemacher (bevor ich einen falschen Namen hinschreib, lass ich’s lieber) berichtete in einem sehr guten Filmgespräch sehr anschaulich nicht nur von dem, was danach passierte und wie der Film entstanden war, sondern auch von den Problemen des Filmemachens. Ein amerikanischer Sender hatte den Film super gefunden und kaufte ihn ein. Für die Ausstrahlung musste der Film jedoch radikal gekürzt werden. Ob sich dei Macher die amerikanische Version dann angeguckt hätten – „Nein, das wäre Folter gewesen.“ In Japan hätte man gesagt, der Film sei ja toll, noch besser wäre es aber gewesen, wenn er doppelt so lang gewesen wäre. Auch in Finland liebe man eher lange Filme. „Vielleicht, weil die Nächte dort so lang sind.“
Um kurz vor fünf in der Cinémateque Leipzig, also der naTo in der Südvorstadt, ein paar Trampstellen vor Connewitz. Um halb sechs sollte dieser Film über eine islamische Punkband beginnen. War ja noch Zeit; ich trank ein Bier. Und stellte mich dann in die Schlange. Und kam dann nicht mehr rein. O weh! (Viele Vorstellungen waren in diesem Jahr ausverkauft)
Jeden Abend wurde dieser Papierkorb im Zugigen, vor dem Eingang zu den Kinos im Petersbogen, von illegalisierten Zigarettenrauchern zu einem Mahnmal gegen die herrschende Raucherdiskriminierung umfunktioniert.
Hier sprechen Beate und Jan Peters über den neuen Film von Jan Peters – „Nichts ist besser als gar nichts„. Der Film, der nächste Woche anläuft, ist schön und auch lustig geworden. Vor zehn Jahren oder so war Jan Peters zum ersten Mal mit seinem Badewannentagebuch S-8-Film hier gewesen. Daher kannte ich ihn. Oder eigentlich wohl noch länger; weil er mit einem S-8-Film auch auf dieser legendären Videocassette war, die glaube ich „Sex, Gewalt und gute Laune“ hieß. Die berühmte Männchenfilmerin Dagie Brundert hatte immer von Jan Peters geschwärmt und fand es auch so toll, dass er Legastheniker ist; im letzten Jahr war er auch mit einem Film im „Breathless“-Projekt vertreten gewesen; deshalb war ich jedenfalls natürlich auch in seinen neuen Film gegangen.