DAS war vielleicht eine Freude und Überraschung, als ich Wolfgang Herrndorf, den großen alten Mann der Berliner Jugendliteraturszene, den geistigen Kopf von Mitte überhaupt, plötzlich im Kaffee Passig traf! Später erzählten mir Anwesende, es sei wie das Wiedersehen von Helmut Schmidt und Henry Kissinger gewesen. Minutenlang schüttelten wir uns beide Hände, die schweren Köpfe dabei langsam auf und ab bewegend und liebevoll aufeinander einsprechend. Mit am Tisch saßen Philipp Rühmann (sein Großvater drehte mit den schönsten Frauen Deutschlands, küßte Liselotte Pulver in ‚Doktor med. Hiob Prätorius‘), der brave Marek, diverse Jungintellektuelle und die aufregende XXXXX (Name der Red. bekannt).
Die Leipziger Buchmesse (*0001_04_00_09032008_79_0) war gerade zuende gegangen. Leider hatte ich dort nicht viel gesehen. Beim Ball der jungen Talente, der Party der independent Verlage, der Literatur der Jugend und dem open mike for new novelists gab es zwar Anregungen ohne Ende, aber nicht im literarischen Sinn. Ich fuhr nur für einen Tag hin und verließ mich aufs Fernsehen, sah dann in der Regel aber nur abstoßende Dinge, zum Beispiel die Großschriftsteller Ortheil, Rinke, von Düffel und Julia Franck beim Reden über das Verfertigen von Romanen. Scheußlich diese Selbsteuphorie, dieses Wichtignehmen ihres Geschreibsels, das doch, seien wir ehrlich, keinerlei eigene Gedanken in sich trägt, nichts erhellt, nichts schön macht oder wertvoll. Und dann diese no-name-Leipziger-Buchpreis-Preisträgerin aus Südslowenienm oder der Bukowina (Rumänien? Böhmerwald?), die mit Grass, Walser und ‚den älteren Männern‘ abrechnete. Ja, ja, ja. Biologismus statt Bewußtsein, das mögen die Medien. Die Alten haben, im Gegensatz zur ‚jungen‘ Preisträgerin, noch etwas zu sagen. Wie Herrndorf. Ich schüttelte ihm immer noch die zitternden Hände.
Und dann gings’s rund! Es wurde diskutiert wie in alten Zeiten. Wie auf Kommando! Wie beim Trinken eines zünftigen Feuersalamanders. Soviel Eifer und Begeisterung war lange nicht mehr. Jeder wollte reden und zuhören zugleich. Es ging um alles, um Opel, den neuen Wirtschaftsminister, den Amokläufer aus der Schule, Selbstmordattentäter, politische Morde mit und ohne eigenen Tod. Wie früher wurden Listen gemacht, wen man am liebsten bei einem Attentat auf der Opferseite sehen würde. Der brave Marek fragte mich höflich, wen ich denn, rein theoretisch, wenn es möglich wäre und keine strafrechtlichen Konsequenzen hätte, mit ins Jenseits nehmen würde. Ich sagte ihm, daß derlei Überlegungen für mich moralisch nicht vertretbar seien.
Ja, sagte Herrndorf, da hätte ich gewiß recht, aber trotzdem. Es handele sich doch bloß um eine Spekulation. Man werde doch noch laut denken dürfen, unter Freunden. Es erfahre ja keiner.
„Das ist richtig, Wolfgang“, entgegnete ich ernst, „aber ich denke auch wirklich so, ob leise oder laut. Meine schlimmste Vorstellung, schon als Kind, war es, große Schuld auf mich zu laden. Mit dem Tod eines Menschen könnte mein Gewissen niemals fertig werden, selbst wenn ich selbst dabei stürbe sowie eine Diktatur damit beendete.“
„Du würdest Gewissensbisse haben, Stalin oder Kim Il Sung zu töten?“
„Natürlich! Jeder Mensch hat doch irgendwo auch etwas Nettes.“
Jetzt fingen alle an, schweigend nachzudenken. Etwas Nettes, bei allen Menschen? Wirklich bei ALLEN? Das war eine kühne These. Philipp Rühmann wagte sich als erster vor:
„Und Dieter Bohlen? Hat der etwas Nettes?“
„Gewiß.“
„Was denn?“
„Weiß ich nicht. Aber wenn ich nachdenken würde, fiele es mir ein. Er hat zum Beispiel gesagt, daß er lieber im Gummiboot fährt als in einer Yacht.“
„Heidi Klum?“
„Sieht doch gut aus.“
„Und ihre Sendung, mit der sie Millionen junge Leute ins geistige Elend stürzt?“
„Ja, schon, aber Du mußt zugeben, daß sie gut aussieht.“
„Nee Du, die könntest du mir auf den Bauch binden, und es würde nichts passieren!“
„Stattdessen würdest Du Dir lieber eine Bombe auf den Bauch binden, und DANN würde etwas passieren? Pfui Teufel, mein Lieber. Da würde ich mir lieber Heidi Klum…“
„Was?“
„Ach, vergiß es.“
Wir schwiegen wieder. Ich hing noch dem Bild nach, wie Heidi Klum auf meinem Bauch klebte, festgezurrt als Bombe. Weitere Namen wurden genannt, verpufften aber wieder. Die Sache schien entschieden, zumal ich nun mit dunkler Stimme darauf hinwies, daß das ganze Gespräch abgeschmackt sei… als plötzlich die Wende eintrat. Es fiel der Name, der alles änderte:
„Stefan Raab!“
(Aus rechtlichen und Datenschutzgründen muß der Eintrag hier vorzeitig abbrechen. M. Broekers, Blogwart. Lesen Sie ersatzweise die Kolumne des Autors in der morgigen taz Printausgabe.)