Willkommen im Refektorium der Erwachsenenbildung! Wer in diesen Wochen nächtens die Wiener Leopoldstadt durchstreift, wird an der Ecke Glockengasse/ Rotensterngasse auf eine verblüffende Installation stoßen:
Da brüllen einem in fetten Lettern die Worte »SURREALISTISCHES MANIFEST« entgegen, da schreien Sätze wie »Ich bin hier« und »Ich suche nach etwas Drittem, das in uns allem steckt« aus neonweiß erleuchteten Schaufenstern.
Fett gedruckte Zeilen verkünden »das Eigenrecht gelebten Lebens« in der Stadt; und total hammermäßig: »Wir rücken zusammen!« Zwischen den Botschaften unerhörte Namen: Karl Marx, Pierre Ramus, Hermes Trismegistos. – Na, hallo! Was soll das bedeuten?
Das performative Duo Steinbrener/Dempf hat sich – nach dem Erfolg im Schönbrunner Zoo (»Trouble in Paradies«) 2009 – zu einem weiteren Projekt mit dem Bildungsfunktionär Bernhard Kellner zusammen getan. So ist ein dicht befülltes Aquarium der Manifeste entstanden, in dem handgreifliche Sätze und knatternde Parolen gewagt hin u. herschaukeln.
»Das Manifest existiert nur als eine Funktion innerhalb eines soziopolitischen Umfelds«, behauptet der Pressetext. Mag sein. Doch Manifeste sind zunächst einmal unerhörte Wutlaute, aggressives Wortgeschrei, Starksprech aus der frühen Gutenberggalaxis. Manifeste sind das mordlüsterne Gebrüll der religiösen Kriege – eine von avantgardistischen Lynchschulen endlos nachgeahmte Attitüde. Manifeste sind Schocktherapien. Statt Duldsamkeit zu erzeugen, artikulieren sie verärgerte Ungeduld.
Von einer »prägnanten Auswahl« an solchen Willensbekundungen kann in der Glockengasse nicht die Rede sein. Dass Homer in der Ilias und dass der Herrgott in den Zehn Geboten jeweils ihren Willen bekundet haben, lässt sich bezweifeln. Auf diese Weise bietet dieses Aquarium vor allem Antiquarismus, versammelt allerlei Hochtrabendes um seiner selbst willen, ohne Rücksicht auf ein zugrunde liegendes Muster oder eine mögliche Struktur.
Transdisziplinäre Ausstellungsprojekte sind notwendig, klar. Doch diese, an den Grenzen von Interventionskunst und Literaturwissenschaft angesiedelte Textschau unterliegt der potenziellen Gefahr einer jeden Geschichtsbefragung: Sie zeigt halb vergessene Archivbestände, ohne ihnen etwas substanziell Neues abzutrotzen.
Bildungselitismus heißt, mittags die Zähne wieder einfahren, die man am Morgen ausgefahren hat, ein bisschen dahin schielen, ein wenig dorthin. Die Frage, ob Manifeste heute noch möglich sind, stellen die Macher nur rhetorisch. Für Kellner sind die 2010er-Jahre unbedingt »eine Zeit der Manifeste«, siehe die jüngsten Versuche von Alain Badiou, Gilles Clement, Hilal Sezgin, Bruno Latour, Stéphane Hessel. Nach einer langen Zeit des »lauen halbherzigen Dürfens« mache sich heute wieder ein messerscharfes Wollen sichtbar.
»Verhöhnung des Staates? Triefende Emanzipationsmoral?« – »Ach, das fördert doch die Kontroverse!« – »Ist es nicht peinlich, wenn sich da Fünfzigjährige für die Jugendprosa eines Unsichtbaren Komitées von Spätautonomisten begeistern?« – »Nein«, antworten die Projektmacher und halten die Militanzpredigt des Essays Der kommende Aufstand für eine »bestechende Darstellung gegenwärtiger Unerträglichkeiten«.
Ich bleibe skeptisch, sage: Intellektuellenmode. Es sind ja immer nur zwei Lesende, die in jeder Schulklasse sitzen, ein minoritäres Publikum, dem wir angehören und für das wir schreibenden Professionisten auch wirken. Zwei Kundige pro Klasse, nicht mehr, bilden das intellektuelle Milieu. Sie tragen das kulturelle Feuer weiter, sie stützen die Säulen der Zivilisation.
Jeder kräftige Satz, jede Formulierung, die nicht schmähverdächtig ist, geht den Wienern am Arsch vorbei. Bestenfalls die Hälfte der Passanten im 2. Bezirk ist des Deutschen auch wirklich mächtig; von diesen 50 Prozent darf man wieder höchstens die Hälfte als lesekundig einstufen.
Ein Drittel davon hat gerade keine Zeit, die dargebotenen Manifeste zu studieren; das zweite Drittel wird von keinem der entzifferten Worte an den täglich konsumierten Quatsch der Gratisblätter erinnert, ist also ebenfalls für die Zukunft verloren. Womit wir wieder ganz unter uns wären: den zwei Lesenden pro Klasse.
© Wolfgang Koch 2011