von 03.01.2011

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Schwarzfahren aus Überzeugung: Nicht jeder sieht die Kostenpflichtigkeit öffentlicher Verkehrsmittel als selbstverständlich an (Foto: Laura Bernschein/Lizenz: by)

Mensch, diese Franzosen! Bei jeder Kleinigkeit gehen sie auf die Straße, organisieren Generalstreiks, weil sie nicht arbeiten wollen, bis sie 62 sind, und zünden Autos an, weil in ihren Ghettos Zustände herrschen, von denen Berliner Gangster-Rapper nur träumen (oder alternativ: rappen) können. Das hat natürlich Tradition, denn in Frankreich rollten schon die Köpfe, da folgte man im Heiligen Römischen Reich Deutscher Nation noch einem Kaiser.

Da ist es nicht verwunderlich, dass es einmal mehr die Franzosen sind, die für Sachen auf die Barrikaden gehen, die uns hierzulande höchstens einen Blogeintrag (sic!) wert sind. Da wäre etwa das Recht auf Mobilität, das Recht also, sich ohne größeren Aufwand von A nach B bewegen zu können. Wir leiten daraus ab, dass öffentliche Verkehrsmittel in jeder Stadt unverzichtbar sind. In Frankreich setzt man noch einen drauf: dass das gefälligst kostenfrei zu gewährleisten sei.

Ein politischer Protest, der sich in direktem Aktionismus äußert: So bildete sich in Paris eine sogenannte Schwarzfahrerversicherung, eine Art solidarisches Auffangnetz für jeden, der sich weigert, für Bus- oder Bahnfahrt zu zahlen. „Le Réseau pour l’Abolition des Transports Payants“ (dt.: „Das Netzwerk für die Abschaffung kostenpflichtiger Verkehrsmittel“) nennt sich diese und ihr Prinzip ist schnell erklärt: Man zahlt einen Monatsbetrag – der liegt bei 7€ – in eine Art Fonds ein und lässt sich munter durch die Gegend kutschieren, ohne auch nur einen Cent dafür zu zahlen. Wer erwischt wird, darf sich das zu zahlende Bußgeld – in Paris sind das 50€ – aus dem Fonds nehmen. 80 Millionen Euro Schaden werden dem öffentlichen Verkehrsnetz so hinzugefügt. In einigen kleineren Städten ist die Utopie von kostenlosen öffentlichen Verkehrsmittel inzwischen Realität. Etwa in Colomiers (jepp, schon wieder Frankreich). In der von über 32.000 Menschen bewohnten Stadt muss man schon seit 1971 nichts mehr für die Busfahrt zahlen. Sieben Buslinien funktionieren so und eine Millionen Fahrgäste pro Jahr nehmen das Angebot dankbar an.

Ganz neu ist die Idee aber nicht. Auch in Stockholm, Göteborg oder Helsinki gibt es derartige Verbände. Wie etwa die Vereinigung „P-Kassan“. Auf ihrer Homepage erläutern die Beförderungserschleicher ihre Motive. „Wir können nicht 5 Kilometer laufen, wenn es uns nicht passt, das Fahrgeld zu bezahlen“, heißt es dort. „Die öffentlichen Verkehrsmittel sollten sein wie die Gehwege: von allen bezahlt, kostenlos benutzbar.“ Auch in Deutschland gab und gibt es Versuche, eine Schwarzfahrerversicherung zu etablieren. In den 80ern bereits versuchte es der AstA der Universität Hannover im Zuge der Roter-Punkt-Bewegung, scheiterte jedoch an verstärkten Kontrollen. Davon nicht nur namentlich inspiriert wurde die Aktion Pinker Punkt in Berlin, deren seit fünf Jahren nicht mehr aktualisierter Internetauftritt jedoch dafür spricht, dass die Rechnung hier auch nicht aufgegangen ist. In Österreich gibt es neben den „PinkfahrerInnen Wien“ auch eine ganz andere Idee: eine Homepage, auf der die Nutzer selbst Gleichgesinnte vorwarnen, wann und wo Kontrollen stattfinden. Schwarzfahren 2.0 quasi.

Im Gespräch mit Gleichaltrigen habe ich oft das Gefühl, meine Generation tue ihr bestes, um noch konservativer zu werden als die Generationen vor ihr. Noch konservativer etwa als unsere Eltern, die uns zu einer Zeit zeugten, als Helmut Kohl bereits fünf Jahre im Amt war und es noch weitere zehn bleiben sollte. Eine Protestkultur wie in Frankreich ist für die meisten undenkbar. Unter solchen Protesten, so der Tenor, leide ja auch die Wirtschaft und ob das dann zu verantworten sei, das ist ja schon fragwürdig. Im Februar 2009 beschloss nach Colomiers übrigens auch die Gemeinde Aubagne, öffentliche Verkehrsmittel kostenlos zur Verfügung zu stellen. Mensch, diese Franzosen!

Text: Jan-Niklas Jäger

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