vonHelmut Höge 23.12.2009

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Alle Institutionen mit geschlossenem Milieu werden im Übergang von der Disziplinar- zur Kontroll- und Kommunikationsgesellschaft vom Verschwinden erfaßt: Uni, Schule, Kita, Knast, Irrenanstalt, Fabrik, Firma, Krankenhaus, Altersheim usw., indem sie gezwungen sind, sich zu öffnen. Die Massen und ihre Ströme werden dabei fragmentiert, atomisiert, digitalisiert – und zu elektronischer Heimarbeit, Billigjobs, Ich-AGs, projektbezogenen Verträgen etc. verdammt. Gilles Deleuze und Felix Guattari fügten dem in ihrer  “Schizo-Analyse” noch das “schreckliche  Lifelong Learning” hinzu: „In einem Kontroll-Regime hat man nie mit irgend etwas abgeschlossen“– und prophezeiten, dass wir uns angesichts des dabei heraufdämmernden neuen “Faschismus” noch nach der guten alten Disziplinargesellschaft zurücksehnen werden. Zumal die neue Kontrollgesellschaft dabei u.U. auf die (Folter)-Techniken der Souveränitätsgesellschaft zurückgreife.  Ähnlich spricht Alexander Kluge davon, dass der Kapitalismus in der Not zur Rückfälligkeit neigt: „Dann kommt der Faschismus, darauf die Refeudalisierung – das ist ja das Schlimme…“Dagegen hilft nur Aufklärung, Bildung – Lifelong Learning? Im vorangegangenen blog ging es um die „StreetUniversity“ in der Wrangelstraße, hier um eine weitere Straßenuniversität:

Wenn man davon absieht, dass in Deutschland ab 1967 praktisch jeder, der wollte, Universitätsseminare besuchen konnte und es darüberhinaus bald von Linken organisierte „Sommeruniversitäten“ und „Kritische Universitäten“ gab, die sich explizit an außeruniversitäres Publikum richteten, dann war die wohl üppigste „Straßenuniversität“ nach 1968 die Universität von Vincennes (Paris VIII), an der u.a. Gilles Deleuze lehrte. Jeder konnte sich dort immatrikulieren, theoretisch auch Analphabeten – und das Studium mit einem „Diplome Libre“ abschließen. Die meisten verzichteten darauf, was nicht heißt, das der Lehrbetrieb nicht interessant genug war. Ich erinnere noch ein „Seminaire sur les mots ‚good vibrations‘ et ‚too much‘ – von Schérer und Hocquenghem. In den USA entstanden zur gleichen Zeit viele kleine, aber ansonsten durchaus ähnliche Bildungsstätten – auf privater Basis, wovon etliche sich ausdrücklich „Randgruppen“ anboten. 1971 erschien dazu im März-Verlag ein Bericht über die „First Street School“ in New York, der auf große Resonanz an den Pädagogischen Hochschulen hier stieß.

1977 wurde in Westberlin, im Wedding, die Werkschule gegründet. Eine Kerngruppe von damals hat daraus 20 Jahre später eine gemeinnützige Stiftung gemacht, die ähnliche sozialpädagogische Projekte im sogenannten Randgruppenbereich ideell und vor allem finanziell fördert wie einst das ihrige.

Was in der Studentenbewegung mit Herbert Marcuse „Randgruppenstrategie“ genannt wurde, die Unterstützung von aus Gefängnissen entlassenen und aus Heimen entflohenen Jugendlichen („auf Trebe“), entwickelte sich in den Siebzigerjahren zu einer eigenständigen sozialen Bewegung im pädagogischen Bereich. Sie verband sich teilweise mit einer Bewegung unter den sozial benachteiligten Jugendlichen selbst.

Zu den Westberliner „Treberhilfen“ zählten bald neben einigen besetzten Häusern auch Beratungsbüros, die versuchten, Jugendliche zu „entkriminalisieren“ und ihnen dazu u.a. Wohnungen und finanzielle Unterstützung vermittelten. Diese sozialarbeiterische „Praxis“ wurde jedoch bald als ebenso ungenügend empfunden wie die darauf vorbereitende „Ausbildung“ in den sozialpädagogischen Fachhochschulen. Aus dieser Situation heraus entstanden im Wedding wie auch anderswo in der BRD nach dem Vorbild der dänischen Heimvolkshochschule Tvind die „Werkschulen“.

Nach der Wende gründete sich in Kreuzberg das auf eine ähnliche Klientel abzielende „Streetuniversity“-Projekt von Gio di Sera, das in den „streetwisen“ Künsten unterrichtet und kürzlich den „Freiherr-vom-Stein-Preis für gesellschaftliche Innovation“ verliehen bekam (näheres dazu im vorangegangenen blog).

Bisher unkorrigiertes Protokoll:

Einige Jahre zuvor,1983, hatte sich im Wedding bereits der Verein „Zukunft Bauen“ gegründet – ein Jugendselbsthilfeprojekt, das ein Haus für sich renovierte. Nach der Wende expandierte es mit diversen weiteren Jugend-Projekten in den Osten – als „Zukunftsbau gGmbH“. Heute arbeiten in diesem Bildungs-, Qualifizierungs- und Vermittlungs-Projekt 150 Leute – in Vollzeit und Teilzeit. Es geht immer noch um Randgruppenstrategien, insofern die Agenturen für Arbeit bzw. Jobcenter ihnen schwer vermittelbare Jugendliche und Langzeitarbeitslose zuweisen, denen im „Zukunftsbau“ dann künstlerische und  handwerkliche Angebote gemacht werden – bis hin zur Vermittlung von Praktika, Berufsabschlüssen und Weiterbildungsmöglichkeiten. Übers Jahr nehmen bei Zukunftsbau rund 500  Teilnehmer an diesen Projekten im Rahmen von  MAE-Maßnahmen (Abk. f. Mehraufwandsentschädigung) teil, die zwischen 6 und 9 Monate dauern. Hinzu kommen noch 1200 Teilnehmer – in Einmonatskursen. Alle Beschäftigungs- und Bildungs-Maßnahmen laufen  darauf hinaus, zuvörderst ihr Selbstbewußtsein zu stärken.

Die 15 Teilnehmer der „Kunsthartz“-Gruppe „Phönix“ stellten gerade ihre Arbeiten – Bilder, Plastiken und Videos – für einige Wochen im „Podiwil“ aus. Die künstlerische Leiterin, Anna Schuster, unterrichtete früher an der Humboldt-Uni, sie sagt, mit den Jugendlichen zu arbeiten, die aus ganz unterschiedlichen Kulturen kommen, mache ihr mehr Spaß als zuvor mit den Studenten. Ihre „1-Eurojobber“ wurden  alle vom JobCenter Kreuzberg vermittelt. Daneben finanziert auch noch das Jobcenter Charlottenburg solche Kunstprojekte, die erst einmal ergebnisoffen sind. Es geht darum, „anhand verschiedener Materialien Handlungsmöglichkeiten aufzumachen“, so Anna Schuster. Das Jobcenter Pankow wollte dagegen ein eher ergebnisorientiertes Kunstprojekt: Hier sollen die MAEler den Warteraum für arbeitslose Jugendliche und den für Langzeitarbeitslose künstlerisch gestalten. Die sechsmonatigen Kunst-Maßnahmen finden in Werkstätten der Weddinger „ExRotaprint“ statt – eine Fabrik, die 1989 als soziales und künstlerisches Projektzentrum umgenutzt wurde, Zukunftsbau hat dort wie auch anderswo Räume angemietet, u.a. für sein „Phönix“-Projekt.   Die Teilnehmer verlassen es am Ende mit einer Mappe – mit der sie sich z.B. an  einer Kunsthochschule bewerben können.

Über das EU-Projekt „Leonardo“ können Jugendliche, die bei Zukunftsbau sind, darüberhinaus einen drei- bis vierwöchigen Auslandsaufenthalt bekommen – d.h. Praktika in Firmen, Hotels, Stadtteil- und Kulturzentren, in Wien z.B. absolvieren. (1)

Neben „Kunsthartz“ gibt es auch noch das Projekt „Metropolis“, in dem mit digitalen Medien gearbeitet wird, sowie das Bühnenprojekt „Emma E. Theater“ (MAE), in dem die Teilnehmer ein Stück ausstatten und aufführen, zuletzt „Touchcup“: ein Trinkspiel, in dem das Komasaufen thematisiert wird.

Weil Berlin so viele Künstler hat, von denen sich immer mal wieder welche arbeitslos melden, gibt es auch noch den Zukunftsbau-Bereich „ÖBS“ (Öffentlich geförderter Beschäftigungssektor) – konkret: das Projekt „KidSch“ (KünstlerInnen in die Schulen) – mit z.Zt. 45 Teilnehmern. Sie sollen die schulische Bildung unterstützen, u.a. Kunst-AGs in Schulen und Exkursionen mit Schülern durchführen – und werden im Zukunftsbau darauf vorbereitet. Bis jetzt wurden sie an 33 Berliner Schulen eingesetzt.

Eher unkünstlerisch klingt  das Projekt „Produktionsschule für Schulverweigerer“. Diese Maßnahme führt Zukunftsbau  zusammen mit der Jugendhilfe  durch –  ebenfalls in einer der zwei „Exrotaprint“-Gebäude. Und zusammen mit den Jugendberatungshäusern in Mitte hat Zukunftsbau 2009 das Projekt „JAM“ (Jugend aktiv in Mitte) für „schwierige Jugendliche“ organisiert, es besteht aus 5-6 Gruppen mit jeweils 15 Teilnehmern und dauert ein Jahr, eventuell sogar zwei.

Das Jobcenter in Mitte hat 70.000 „Kunden“, davon sind 11.000 unter 25 Jahre alt und davon wiederum etwa 3000 „integrationsferne Jugendliche“ – das ist  die Zielgruppe von „JAM“. Bei Zukunftsbau bedauert man, dass der Anteil der Bildung in diesem Projekt, der einmal 26 Wochen umfasste, auf 8 reduziert wurde, dadurch habe sich der Arbeitsanteil für die Teilnehmer zu stark erhöht.

Auf die Schule bezieht sich auch das Zukunftsbau-Projekt „Vertiefte Berufsorientierung“. Dabei soll Schülern der Übergang von der Schule in den Beruf erleichtert werden. Ähnlich gelagert ist die „Frauen-Beratung im Knast“: Sie soll bei der beruflichen Orientierung helfen und für Freigängerinnen Praktikumsstellen finden.

In den zwei Häusern der Kreuzberger Heilig-Kreuz-Passionsgemeinde,  – eins ist  ein Wohnheim für Obdachlose, das andere ein Zentrum für Kultur – bietet Zukunftsbau  u.a. Photo- , Keramik- und PC-Kurse an, ebenfalls auf MAE- bzw. ABM-Basis.

In Kooperation mit dem Bildungsministerium entstand ferner ein  „Transnationales Modellprojekt“ zur Alphabetisierung – mit derzeit 50 Teilnehmern. Es wird begleitet vom Forschungsprojekt „AlphaZ – Sprachförderung Deutsch“ der Humboldt-Universität.

Im Rahmen eines Sonderprogramms von gleich zwei Ministerien wurde das Projekt „XENOBau“ initiiert: Unter Anleitung von Zukunftsbau-Mitarbeitern renovieren hier fünf Azubis und in bisher zwei Durchgängen jeweils 21 Langzeitarbeitslose das denkmalgeschützte Kreuzberger Baerwaldbad. 40% ihrer  ABM-Arbeitszeit dient der Weiterbildung, wobei der wichtigste Qualifizierungskurs das Thema „Diversität“ hat, worunter der Umgang mit unterschiedlichen Erfahrungen und Lebenseinstellungen, hier der  Projekt-Teilnehmer bis hin zu den Mitarbeitern des JobCenters, gemeint ist. Der bisherige Höhepunkt dieses Projekts war bisher eine gemeinsame Reise nach Istanbul. Eine Klasse der Berufsfachschule Holzbildhauer in Flensburg rekonstruierte inzwischen die allegorischen Holzfiguren an den Umkleidekabinen. Das Bad hat trotz der Renovierungsarbeiten weiter geöffnet, es wird großteils ehrenamtlich von einem Sportverein betrieben und gilt als ein gutes „Beispiel für solidarische Ökonomie“.

Die „Arbeitsmarktpolitik“ der JobCenter und Agenturen für Arbeit besteht aus Modul-Angeboten, die immer kürzere Laufzeiten haben: „In den genehmigten Zeitspannen gelingt es nur in den seltensten Fällen, jemand in eine Arbeitsstelle unterzubringen,“ meint einer der Regiekräfte bei Zukunftsbau. „Das einzige, was nachhaltig bleibt, sind die Arbeitslosen – immer die selben. Sie durchlaufen 3-4 Maßnahmen, aber auf eine zielgerichtete Entwicklung hat das kaum Auswirkung. Was wirklich den Jugendlichen helfen würde, ein Facharbeiter- oder Gesellenbrief, dafür  bekommen wir nur ganz wenige Projekte genehmigt.“

Bericht von Steven K., ehemaliger Teilnehmer einer „berufsbegleitenden Qualifizierungsmaßnahme“ bei Zukunftsbau:

Steven K. wurde 1983 in Charlottenburg geboren. Anfänglich wohnte er bei den Großeltern, seine Mutter hatte Drogenprobleme. Als er sechs wurde, nahm sie ihn zu sich nach Neukölln, wo er dann die Oberschule besuchte. Seine Mutter arbeitete inzwischen als Prostituierte, um Geld für Drogen zu haben, 1994 wurde sein Bruder geboren, was ihr noch mehr Probleme bereitete. Steven wurde oft von ihr verprügelt, auch ihre Männerbekanntschaften hielten sich nicht zurück. Er mußte auf seinen kleinen Bruder aufpassen und wurde deswegen von seiner Mutter oft aus der Schule genommen, sein Spielzeug verkaufte für weitere Drogen. Nach vier Jahren hatte er „die Schnauze voll“  und machte ihr seinerseits „Stress“. Er hatte angefangen zu kiffen und begriff langsam einiges. Vor seiner Mutter hatte er „keinen Respekt mehr“, ihm fehlte „eine Autorität“, die ihm sagte, wo es langgeht, wie er sagt. Als er 15 wurde, schmiß seine Mutter ihn raus und sorgte überdies dafür, dass er kein „betreutes Wohnen“ vom Sozialamt bekam. Drei Jahre lebte er auf der Straße, eine zeitlang in einer verlassenen Schule, wo er sich von der Außenbeleuchtung Strom abzapfte und auf dem Mädchenklo Hanf anbaute: zweieinhalb Kilo erntete er alle drei Monate, die er an einen Araber verkaufte, der sich das Geld durch den Diebstahl von Umschlägen mit Geldspenden in Moscheen beschaffte.

1999 bekam Steve seinen ersten Graffitiauftrag. „Mit Zeichnen und Malen hatte ich schon in der 6. Klasse angefangen. Der Auftrag kam vom Onkel eines guten Freundes, der einen Laden in der Budapester Straße am Zoo hatte. Dort lernte ich drei Jugendliche kennen, die andere Jugendliche abzogen, also überfielen. Mit denen bin ich mitgegangen. Da konnte man gut Geld  mit machen. Eine zeitlang bin dann alleine auf den Kudamm gegangen – zum Abziehen. Ich war mit einem Messer bewaffnet und wurde bald gesucht – dann auch geschnappt Ende 1999. Wegen etwa ein Dutzend schwerer Raubüberfalle steckte man mich erst mal 7 Monate in U-Haft. Draußen habe ich anfänglich nur tags gemacht, bis auf ein paar bombings, damit mein Name überall bekannt wird – in der ganzen Stadt und darüberhinaus. Einmal habe ich irgendwo in einer märkischen Allee an einen Baum gepißt und dabei mit dem Messer meinen Namen reingeritzt. Drei Jahre später haute mich ein Freund an: ‚Ey, ich habe deinen Namen neulich sogar an einem Alleebaum entdeckt‘ – ebenfalls beim Pissen.

2001 hatte ich in Moabit meinen Prozeß. Ich war noch Jugendlicher gewesen und bekam zwei Jahre auf Bewährung. Danach nahmen meine Großeltern micht wieder bei sich auf. Seitdem wohne ich bei denen – in Moabit. Graffitis habe ich immer weiter gemacht, ich traf dabei Leute, die mich weitergebracht haben – nicht nur immer diese Standard-Bombings. Meine wurden dann immer bunter, ich habe mir die Hochglanzbroschüren „Backspin“ und „Overkill“ geklaut. So was, wie die dort abgebildeten Bombings und Buntbilder, wollte ich auch machen. Zwischen 2001 und 2004 schaffte ich, was ich mir vorgenommen hatte, dass ich überall bekannt wurde. Der eingefleischte Kern der Graffitibewegung in Berlin bestand damals aus etwa 400 Leuten. Ich war zwar nicht der beste, aber einer der bekanntesten. Heute ist die Scene anders: die Jungen kennen mich nicht mehr und die Alten machen jetzt auch oft Kunst bzw. Auftragsgraffiti. Die Werte von damals sind darüber verloren gegangen. In meinen Kursen im Jugendzentrum versuche ich sie den Kids wieder nahe zu bringen. Dazu gehörte, dass man z.B. mit einem Bombing über ein Tag rübergehen durfte und mit einem Buntbild über ein Bombing. Einzelne haben auch das nicht geduldet und andere haben sich nicht an diese Regel gehalten. Aber heute sind sie allgemein verschüttet. Es gibt so viele Leute, die sprühen – darunter verfeindete Crews. Früher gab es diesen Haß untereinander nicht. Man traf sich am Writerscorner in der Friedrichstraße oder am Alex. Gibts nicht mehr. Heute gibt es eine Verbindung zum Hiphop, d.h. die Rapper spannen gerne Graffitikünstler ein, bei den arabischen ist das allerdings seltener der Fall. Die meisten neuen und guten Graffitikünstler kommen aus dem Osten, während die meisten Rapper aus dem Westen kommen. Auch das Material hat sich geändert: Früher waren die Dosen schweineteuer. Wir sind immer in die Baumärkte, haben uns eine Kiste vollgepackt und die dann in die Gartenabteilung zu anderen Kisten gestellt. Nachts sind wir dann da übern Zaun gestiegen und haben unsere Kisten mit Dosen abgeholt. Das ging ein Jahr gut, dann haben die das gemerkt und wir haben die Dosen wieder einzeln geklaut. Oder man hat bei Aufträgen den Materialbedarf höher als nötig veranschlagt. Heute gibt es Hersteller, die sehr gute Dosen sehr billig anbieten. Früher kostete eine 18 DM und jetzt 3 Euro 70 in besserer Qualität. Der Dosendruck ist auch höher geworden, so dass man damit schneller arbeiten kann. Für die meisten Graffitis an der S-Bahn, die bunten Linepieces, da braucht man aber immer noch eine Woche, wenn man 1 bis 2 Stunden nachts an ihnen arbeitet.

Graffitis malen ist bei mir mit der Zeit zu einer Sucht geworden: ich mußte überall meinen Namen hinschreiben – ging nicht anders. Meine ganze Stadtorientierung lief bald nicht mehr über Straßennamen oder Gebäude, sondern über die Graffiti. Das machen viele Sprüher so: sie kucken beim S-Bahnfahren nach Graffitis – und ärgern sich über die Scheibenkratzer. Das habe ich auch eine zeitlang gemacht, scheibenkratzen,  es dann aber sein lassen: ich will auch rauskucken. Es gibt einige markante Gebäude in der Stadt, da reißen sich die Sprüher drum. Es hat z.B. nur einer bisher geschafft, den Reichstag zu bemalen. Und der wurde gleich darauf geschnappt. Mich haben sie zehn Jahre lang gar nicht erwischt. Ich gehörte zu den vorsichtigen – besonders wenn es um Züge, S-Bahnen und so was ging. Aber kürzlich bin ich mit einer Gruppe auf ein altes Industriegelände in Charlottenburg. Das war da schon fast eine Wall of Fame – also sah nicht besonders gefährlich aus. Gerade da haben sie mich jedoch erwischt. Und deswegen bekomme ich nun einen Prozeß. Das war mein Ausstieg aus der Scene. Jetzt sprühe ich nur noch in meinem Keller oder im Malkurs des Moabiter Jugendzentrums „Vip-Lounge“. Das einzige, was ich sonst noch mache ist, dass ich Aufkleber habe, die ich mitnehme und klebe – wenn ich z.B. durch Bayern fahre. Dafür hängen jetzt meine Bilder im Bundestag, in der Berliner Bank im Wedding, bei ein paar Privatleuten und in Arztpraxen. Oder ich male im Auftrag Wände bzw. Türen an – in Kinder- und Jugendclubs, das sind meine Hauptauftraggeber. Die Arbeit mit den Kids macht mir Spaß, ich versuche, sie von den ganzen Fehlernabzuhalten, die ich selber gemacht habe.

„Killroy was here!“ damit fing alles an – gegen Ende des Zweiten Weltkriegs, ein Ami war das. Inzwischen ist die meiste Graffiti – zumal an S-Bahnstrecken und Autobahnen – eindeutig eine Verschönerung der Objekte. Es gibt viele Graffitikünstler, die nur auf Droge arbeiten können – Amphetamine meistens, ich habe immer nur Zigaretten und Haschisch gebraucht. Dazu kommt der Adrenalinausstoß: andere Leute sind zwei Stunden ins Kino gegangen, ich bin über die S-Bahnstrecke geschlichen. Das ist auch schlimmer geworden: Früher konnten wir uns noch vor dem ‚Wachschmutz‘ hinterm Busch verstecken. Heute fliegt der BGS mit Wärmebildkameras über die Strecken. Und sie stellen Fallen auf: z.B. ein Stadtrundfahrtsbus, der nachts auf offener Strecke – u.a. vorm Ostkreuz – hält. Da denkt doch jeder: Den muß ich machen, da fährt mein Bild um die ganze Stadt. Und zack haben sie ihn.

Nachdem ich 2004 meine Bekanntheit erreicht hatte, wurde ich ruhiger. Das war natürlich auch gut für meine Akte. 2003 bin ich aber erst mal zur Bundeswehr – ich war als Scharfschütze in Torgelow stationiert, in der Nähe von Pasewalk ist das. Ich habe mir da die silberne Schützenschnur verdient. Nach dem Bund kamen alle möglichen Maßnahmen vom Arbeitsamt. 2005 fing ich eine Ausbildung zum Maler/Lackierer an. Da habe ich ein halbes Jahr kein Geld gekriegt – und aufgehört. Dann habe ich mich von den Drogen entwöhnt – es ging nicht mehr, und ein Jahr lang den Kopf in den Sand gesteckt, bin aus Moabit nicht mehr raus. 2006 habe ich da eine Künstlerin kennengelernt, die war von der „Vip-Lounge“, ein Jugendprojekt, wo sie malte. Von ihr erfuhr ich: Sie bräuchten da noch einen Graffitimaler. Ein halbes Jahr habe ich das ehrenamtlich gemacht – und dann Malkurse gegen Bezahlung gegeben. Die Leiterin der „VIP-Lounge“, Frau Winter, hat mich darauf gebracht, Leinwände zu benutzen. Auf meine erste Leinwand – 50 mal 70 – habe ich eine Skyline gemalt, inzwischen bin ich schon fast ein Skyline-Experte. Manchmal habe ich so viele Aufträge, dass ich welche an Freunde abgebe. Die arbeiten auch meist in der „VIP-Lounge“, habe ich nach und nach da reingeholt. Eine z.B., Funda, die kann sehr gut photorealistisch malen – nicht sprühen, sondern mit Aquarellfarben. Sie malt ab, während ich mir was ausdenke, wobei ich jedoch noch meinen Stil suche.

2005 hat mir das Arbeitsamt eine berufsvorbereitende Qualifizierungsmaßnahme bei „Zukunftsbau“ in Mitte verpaßt. Erst wollte ich da meinen Schulabschluß nachmachen, aber ich habe wie gesagt ein Autoritätsproblem. Deswegen habe ich  wieder aufgehört damit. Ich kam dann in ein „Profiling“ bei „Zukunftsbau: das war auch Scheiße, habe ich aber zu Ende gemacht, ohne dass was bei rausgekommen ist. Ein Jahr später habe ich dort das selbe noch mal mitgemacht – und geriet an den Profiler Gert Groszer. Mit dem kam und komme ich gut klar. Der hat mich wie ein Mensch behandelt, nicht wie ein HartzIVler – und hatte Interesse an meinen Graffitis. Er hat jetzt auch eine Ausstellung in der Prignitz in einem Jazzkeller in Dahlhausen für mich organisiert. Da habe ich ein Bild verkauft. Bei allen meinen bisherigen drei Ausstellungen habe ich jeweils ein Bild verkauft, komischerweise immer die, die mir selbst am wenigsten gefallen. Angefangen habe ich mit 25 Euro pro Bild, mittlerweile bin ich schon bei 100-200 Euro. Es läßt sich alles so weit gut an. Aber es ist mir was dazwischen gekommen: Der Exfreund meiner Freundin Corinna hat sie so penetrant verfolgt, auch eingesperrt, geschlagen und bedroht, das ich ihn zu Hause besucht habe. Das war moralisch in Ordnung, aber nicht rechtlich: Ich habe dafür 1 Jahr und 9 Monate ohne Bewährung bekommen – wegen Körperverletzung. Dagegen bin ich in Berufung gegangen. Der Exfreund von Corinna hat wegen Freiheitsberaubung und und und nur eine Geldstrafe von 450 Euro gekriegt. Jetzt warte ich auf meine Berufungsverhandlung und bau mir in der Zwischenzeit einen Laden aus: „Dirty Handz“ soll er heißen. Mein Opa ist  kürzlich gestorben – an Krebs, und meine Oma braucht mich jetzt, früher hat sie mir immer geholfen und mir z.B. mein Material finanziert, deswegen bleibe ich nun erst mal bei ihr in der Wohnung.“

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(1) Es gibt ein ganzes EU-Bildungsprogramm für „lebenslanges Lernen“ – aufgefächert in die Programmlinien:

Comenius (Schulbildung),

Erasmus (Hochschulbildung)

Leonardo (Berufliche Bildung)

Grundtvig (Allgemeine Erwachsenenbildung)

Ergänzt werden diese Programmlinien durch ein bereichsübergreifendes Querschnittprogramm (politische Zusammenarbeit, Sprachenlernen, IKT, Verbreitung) sowie die Aktion Jean Monnet (Lehrangebote und Forschungsvorhaben im Bereich der europäischen Integration).

Vor kurzem erschien das Buch „Street Art“, herausgegeben vom „archiv der jungendkulturen e.V.“, es erhält vorwiegend Beiträge aus der bildenden (Straßen-) Kunst. Darüberhinaus veranstaltet das „archiv“ in Kreuzberg „mobile“ Projekttage namens „Culture on the Road“. Das dazugehörige „Team“ setzt sich laut Katalog aus „Fachleuten der politischen Bildung und VertreterInnen unterschiedlicher Jugendszenen zusammen“.

Weiter oben war kurz von einer sozialpädagogischen Stiftung die Rede, die aus der Weddinger Werkschule hervorging, dazu hier Näheres:

1977 wurde in Westberlin, im Wedding, die Werkschule gegründet. Eine Kerngruppe von damals hat daraus inzwischen eine gemeinnützige Stiftung gemacht, die ähnliche sozialpädagogische Projekte im sogenannten Randgruppenbereich ideell und vor allem finanziell fördert.

Was in der Studentenbewegung „Randgruppenstrategie“ genannt wurde, die Unterstützung von aus Gefängnissen entlassenen und Heimen entflohenen Jugendlichen („auf Trebe“), entwickelte sich in den Siebziger Jahren zu einer eigenständigen sozialen Bewegung im pädagogischen Bereich. Sie verband sich teilweise mit einer Bewegung unter den sozial benachteiligten Jugendlichen selbst.

Zu den Westberliner „Treberhilfen“ zählten bald neben einigen besetzten Häusern auch Beratungsbüros, die versuchten, Jugendliche zu „entkriminalisieren“ und ihnen dazu u.a. Wohnungen und finanzielle Unterstützung vermittelten. Diese sozialarbeiterische „Praxis“ wurde jedoch bald als ebenso ungenügend empfunden wie die darauf vorbereitende „Ausbildung“ in den sozialpädagogischen Fachhochschulen.

Anfang der Achtziger Jahre unternahm eine Gruppe aus diesen zwei Bereichen eine Fahrt zur dänischen Heimvolkshochschule Tvind. Auch Lehrer und Sozialpädagogen der Universitäten Bremen und Kassel ließen sich damals vom neuen „Tvind-Modell“ inspirieren – und gründeten eigene selbstverwaltete „Werkschulen“.

Die Berliner Gruppe baute dazu Fabriketagen in Moabit, Kreuzberg und Schöneberg aus, im Wedding schließlich sogar zwei komplette Mietshäuser: in der Wriezener und in der Stettiner Straße. Obwohl die einzelnen Projekte unterschiedliche Vorstellungen verfolgten, verstanden sich die daran beteiligten etwa 25 Erwachsenen als ein Kollektiv. Materielle Unterstützung, u.a. einen zinslosen 20.000 DM Kredit, bekamen sie zunächst vom Kreuzberger Apotheker Ulf Mann, der später mit einer 70 Millionen DM Erbschaft, die er nicht für sich behalten wollte, die „Stiftung Umverteilung“ begründete.

Die ersten drei „Kurse“ mit Jugendlichen fanden in den großen Fabriketagen statt – noch weitgehend provisorisch und ohne strikte Rollenaufteilung: laut Satzung hatte jeder Erwachsene und jeder Jugendliche eine Stimme auf Versammlungen. Es sollte kein Erzieher-Zöglings-Verhältnis mehr sein, in dem die einen aus den anderen anständige Menschen machen, sondern ein Projekt „politischen Zusammenlebens“. Als man mit dem 4. Kurs nach zweieinhalbjähriger Bauzeit, Anfang 1983, in das renovierte Haus Wriezener Straße zog, war zumindestens den Erwachsenen schon etwas klarer, was sie konnten, wollten und brauchten. Ihre „Großfamilie“ dort bestand aus neun Jugendlichen, hinzu kamen noch – außerkonzeptionell – zwei Pflegekinder. Alle hatten ein eigenes Zimmer, auch die fünf Erwachsenen. Sie waren Eltern, Putzfrauen, Köche, Lehrer, Psychologen und Werkmeister in einem und das rund um die Uhr. Die laufenden Unkosten wurden über die „Heimpflegesätze“ des Jugendamtes beglichen. Außerdem gab es nach dem Bauherrenmodell noch Zuschüsse aus „Landesmodernisierungsmitteln“. Im übrigen stand allen Beteiligten nur ein Taschengeld zur Verfügung, wenigstens anfänglich. Nach langen Diskussionen genehmigten sich die Erwachsenen schließlich 250 DM monatlich, wobei einige mehr beanspruchten und es auch bekamen. Den Jugendlichen zahlte die Ämter 80 DM monatlich als Taschengeld, hinzu kamen noch 70 DM Kleidergeld sowie 30 DM Fahrgeld.

In den ersten Kursen hatte es geheißen: Wir lernen an und in den praktischen Alltagsdingen. In der „Küchengruppe“ brachte man den Jugendlichen z.B. neben Biologie und Mathematik auch das Schlachten eines Schweins oder das Ausnehmen eines Huhns bei. In der „Bürogruppe“ lernten sie u.a. Schreibmaschineschreiben, um damit die Korrespondenz des Projekts mit Jugendämtern und Banken zu erledigen. Die „Fahrradgruppe“ reparierte alle fahrbaren Untersätze und organisierte Exkursionen. Das Problem hieß: Wie kann man vom Versagen geprägte „schulmüde“ Jugendliche wieder neu zum Lernen motivieren?

Der „Hauptschulkurs“ in der Wriezener Straße hatte den Schwerpunkt „Bauen und Reisen“. Er begann mit der „Einzugs- Phase“. Um die Zimmer her- und einzurichten und eine Remise zu Unterrichtszwecken auszubauen, wurden erst einmal „Gewerke- Gruppen“ (für die noch notwendigen Tischler-, Elektro- Malerarbeiten z.B.) gebildet.

Anschließend führte man mit zwei hinzugezogenen Theaterpädagogen einen „Theaterkurs“ durch: „Um einen spielerischen Umgang mit sozialen Rollen zurückzugewinnen,“ wie die Sozialpädagogin Ulla Grove erklärt, die in der Wriezener Straße damals eine „gewichtige Rolle“ spielte.

Im Gegensatz zu Tvind, aber auch anders als in den Bremer und Kasseler Werkschulen, wo man in der „Reisephase“ große Busse ausbaute, mit denen dann der Kurs in ein Land der Dritten Welt fuhr, um die Lebensbedingungen dort näher kennenzulernen, wollte die Berliner Gruppe drei Monate lang Nordamerika bereisen. Also mußte erst einmal ein „Englischkursus“ eingerichtet werden. Daraus entstanden nacheinander zwei „Arbeitsgruppen“. In der ersten wurde auf Englisch eine Broschüre über die Werkschule und seine Umgebung, den Wedding, zusammengestellt – für all die Projekte und Leute, die man in den USA kennenlernen wollte.

Die zweite „AG“ beschäftigte sich mit einigen politischen und historischen Aspekten Berlins, von denen man annahm, daß sie die Amerikaner interessieren könnten. Auch die Geographie und Geschichte der USA wurde gelernt.

Da der Senat – wenigstens damals noch, 1985 – den Heimjugendlichen keine derart weitschweifigen Exkursionen bezahlen wollte, mußte das Projekt selbst die Flug- und Reisekosten aufbringen. Zuerst einmal sorgte eine ehemalige Dozentin der Berliner Fachhochschule in Virginia für die Unterbringung. Dann wohnten alle Jugendlichen für 14 Tage bei verschiedenen Familien. Die Erwachsenen kauften in der Zwischenzeit fünf preisgünstige PKWs, mit denen man sich aufteilte: 3 Gruppen fuhren an die Westküste und zwei an die Ostküste. Ein Jugendlicher wurde vorzeitig zurückgeschickt, weil er nach Ansicht der Erwachsenen die ganze Reisegruppe „terrorisierte“. „Er war der einzige Punker und sehr intelligent, wir mochten ihn sehr,“ so Ulla Grove.

Wieder zurück in Berlin begann die letzte „Lernphase“, d.h. die Vorbereitung auf den eigentlichen Hauptschulabschluß. Alle elf Jugendliche bestanden schließlich die Prüfung. „Für einige war es das erste größere Erfolgserlebnis in ihrem Leben“. Die Betreuer benötigten danach eine längere Pause. Sie zogen in Einzelwohnungen. Im Kollektiv brachen „Flügelkämpfe“ aus – zwischen den fünf „strengen“ pädagogischen Betreuern im Haus und den drei eher „pragmatischen“ Außenkontaktern beispielsweise. Das „Wohngemeinschaftsmodell“ hatte 1986 allgemein schon an Attraktivität verloren. Hinzu kam, daß auch das pädagogische Umfeld sich inzwischen gewandelt hatte und kaum noch Resonanz für solch Werkschul-Experimente hergab. Mit der Wende verstärkte sich diese Tendenz dann noch einmal.

Peter Rambauseck, ehemals Dozent an der Fachhochschule, später ABM-Kraft in einer Wohnungsbaugesellschaft, sagt heute: „Im ganzen Kollektiv steckte ein Gefühl des Scheiterns.“ Ulla Grove, ehemals Studentin an der FHSS, sieht es etwas anders: „Wir haben sehr viel gemacht, und wollten zu viel.“

Rüdiger Stuckart, der den vorletzten Kurs, von 1986 bis 1989 mitbetreute, meint, daß ihr politischer Anspruch im täglichen Alltagskampf – gegen das Versumpfen der Jugendlichen im Hasch und Suff z.B., bei dem die Erzieher schließlich zu einer „Sauberes Klo“-Fraktion herunterkamen – immer abstrakter wurde. Bis sie schließlich auch nur noch eine sozialpädagogische Maßnahme unter anderen waren. „Die Utopie der Jugendlichen sah zuletzt durchweg so aus, daß sie sich eine Einzelwohnung im Grunewald wünschten, mit einem Glasschreibtisch, darauf einen Computer, und vor der Tür einen Sportwagen.“

Rüdiger Stuckart und Peter Rambauseck sind schon seit langem befreundet. 1969 gaben sie mit andereren zusammen die rätekommunistische Zeitschrift, „Die soziale Revolution ist keine Parteisache“, heraus. Rüdiger hatte an der FU Soziologie studiert, wo man ihn wegen politischer Radikalität für zwei Semster relegierte, er schloß jedoch sein Studium dort mit einem Diplom ab. Später kam in Frankfurt noch eine Zusatzausbildung in Sonderpädagogik hinzu, was zu einer „Behindertenarbeit“ in einem Steglitzer Integrationskinderladen führte. Wie „Ramba“ gehörte er zur militanten Fraktion des SDS, die weg von den Universitäten wollte und in Stadtteilen bzw. Betrieben sich zu „verankern“ suchte – im Bestreben, die Studentenbewegung in eine gesamtgesellschaftliche Bewegung zu transformieren.

Peter Rambauseck beendete 1972 sein Studium am Otto-Suhr-Institut der FU als Diplompolitologe. Später arbeiteten die beiden als Lehrbeauftragte an der Fachhochschule für Sozialpädagogik.

Von ihrer Herkunft könnten die beiden nicht verschiedener sein: Rüdiger Stuckarts Vater war SS- Obergruppenführer und Staatssekretär im Reichsinnenministerium, zuständig für die Judenverfolgung. Im Wilhelmstraßen-Prozeß, „gegen von Weizsäcker und andere“, wurde er dann zu nur vier Jahren Gefängnis verurteilt. Er starb 1954. Der 1944 geborene Rüdiger Stuckart, er machte 1963 in Wiesbaden das Abitur, hat seinen Vater kaum gekannt.

Peter Rambauseck kennt seinen Vater überhaupt nicht. Er hieß Hans Janocha und war im Prenzlauer Berg dasselbe wie Erich Mielke im Wedding: ein „Arbeiter der Faust“. Er ging dann als Kämpfer nach Spanien. Seitdem gilt er als verschollen. Rambas Mutter, Lotte Rambauseck, war als wichtiger Kurier im illegalen Apparat der KP tätig, ihren Sohn gebar sie im Januar 1934 in Gefängnis-Haft. 1944 ging sie als Praxishelferin ins Ruhrgebiet, wo sie fortan lebte. Peter Rambauseck wuchs als „Vollwaise“ zunächst bei einer Pflegemutter im Prenzlauer Berg auf, 1941 kam er mit der Kinderlandverschickung nach Böhmen, von wo aus er 1945 zurücktrampte. Mit einem sowjetischen Militärtransport erreichte er wieder Berlin. Die Ostberliner „Spanienkämpfer“ besorgten ihm später eine Schlosserlehrstelle im Babelsberger Karl-Marx-Werk, anschließend kam er zur Kasernierten Volkspolizei, die im ehemaligen KdF-Heim Prora auf Rügen stationiert war, von 1953 bis 56 diente er bei der Volksarmee. Danach erwarb er auf der Arbeiter-und-Bauern-Fakultät die Hochschulreife, mit der er an der Humboldt-Universität Medizin studierte. Von dort aus wechselte er 1961, gleich nach dem Mauerbau, mit einem falschen US-Paß in den Westteil der Stadt über, wo er sich an der FU immatrikulierte. Nebenbei wurde er noch als „Tunnelbauer“ tätig. Seine Abschlußarbeit am OSI schrieb er über die sowjetische „Arbeiteropposition“ in den Zwanzigerjahren. Nach dem Mauerfall begann er mit Hilfe der Prenzlauer Berg Historikerin, Regina Scheer, und dem Westberliner Widerstandsforscher H.D.Heilmann nach dem Verbleib seiner Mutter zu suchen. Leider entdeckten sie ihre Spur erst kurz nachdem sie gestorben war: 1990 in Köln.

Die Stiftung Werkschule hat Peter später als „Bildungsreferenten“ angestellt.

Trotz aller Unterschiede in der rückblickenden Einschätzung ihres Werkschul-„Projekts“ verträgt sich die Kerngruppe nach wie vor gut, wenn auch alle in verschiedenen „Jobs“ zur Zeit arbeiten. Das Haus in der Wriezener Straße wird heute von einem „Ausbildungsprojekt“ für 18 Azubis im Elektroinstallationshandwerk benutzt. Die Jugendlichen können zwischen mehreren „betreuten“ Wohnmöglichkeiten wählen: „So flexibel sind die Ämter inzwischen geworden“ (Ulla Grove).

Von „ihren“ damaligen Jugendlichen arbeiten zwei heute als Klempner, einer als Zimmermann, zwei Mädchen sind Hausfrauen und Mütter geworden, eine andere ist, mit einem Realschulabschluß, als Einzelhandelskauffrau tätig, ein Junge leistet gerade seinen Grundwehrdienst bei den Pionieren ab, ein anderer, Enrico, sitzt derzeit meistens in seiner zugemüllten Bude und macht gar nichts, der „Palästinenser“ hat geheiratet, ist Vater zweier Kinder geworden und arbeitet als Koch. Zu einigen ist der Kontakt abgerissen. Untereinander treffen sich die Jugendlichen fast regelmäßig, bei den Erwachsenen melden sie sich meist nur, wenn sie wieder mal ein Erfolgserlebnis zu vermelden haben oder gerade besonders durchhängen.

Die Werkschule hat seit ihrem Bestehen fast eine halbe Million DM angehäuft und besitzt zwei Häuser, die Miete einbringen. Damit hat die Restgruppe nun eine gemeinnützige Stiftung gegründet, mit der „Einrichtungen im Bereich von Erziehung, Bildung, Völkerverständigung, Jugend und Altenhilfe“ unterstützt werden sollen, „insbesondere wenn diese ihre Ziele in Form selbstverwalteter Projekte verfolgen oder das selbstbestimmte Leben von Menschen mit Behinderungen fördern.“

Dazu erklären die Stifter in einer ersten „Pressemitteilung“, daß ihre Werkschule zwar „eine ganze Zeit lang eine beachtliche Überzeugungskraft hatte, bei den beteiligten Jugendlichen ebenso wie bei den Erwachsenen, derzeit scheint jedoch solchen Bestrebungen kein guter Stern zu leuchten. Von seiten der angesprochenen Jugendlichen nicht, die ihre noch verschärfte Perspektivlosigkeit eher in Selbstzerstörung und blinde Aggression gegen andere Benachteiligte ummünzen, als sich im Kampf gegen die Ursachen und Profiteure ihrer Misere zusammenzuschließen. Aber auch von seiten der Erwachsenen/Pädagogen nicht, über denen die – berechtigten – Existenzängste in der sich verschärfenden Wirtschafts- und Sozialkrise derart zusammenschlagen, daß sie vollauf damit beschäftigt sind, ihre knappen Karrierechancen nicht zu verpassen.“

Am Ende teilt der Stiftungsvorstand lakonisch mit: „Das Kollektiv Werkschule hat sich aufgelöst. Es bringt die dank seiner Lebens- und Arbeitsweise ‚erwirtschafteten‘ materiellen Werte in eine Stiftung ein. Vielleicht können diese dem einen oder anderen in Zukunft entstehenden Funken verwandten Geistes eine bescheidene materielle Unterstützung bieten.

Interessenten wenden sich für nähere Auskünfte an: Stiftung Werkschule, Stettiner Straße 63, 13357 Berlin. Zustiftungen sind willkommen und steuermindernd.“

P.S.: Rüdiger Stuckart starb am 7.Juni 2004, in einem Nachruf von Stephan Reisner auf der SDS-Website heißt es: „Fünf Jahre lang ging es mit dem Krebs hin und her – und Rüdiger Stuckart wurde sanfter, weicher. Er lernte, die schönen Dinge des Lebens sehen…Nur mit einer Sache kam er nicht ins Reine. Sie verfolgte ihn bis in die Träume. Worin er die Ursache seines Krebses sehe, fragte ihn ein Alternativmediziner. Rüdiger Stuckart zögerte nicht: ‚In der Geschichte meines Vaters‘.“

Über die Redaktion der Zeitschrift „Kosmoprolet“ wollte ich vor einiger Zeit Folgendes veröffentlichen, diese bat mich jedoch, davon Abstand zu nehmen:

Man liest so viel von den 68er-Renegaten und ihren neuen Weltbildern. Es gibt aber auch noch einige „68er“, die ihre alten  bloß verfeinern. Dazu zählen u.a. die „Freunde der klassenlosen Gesellschaft“ – und ihre Zweijahresschrift „Kosmoprolet“, die 4 Euro kostet. Ich sehe sie gelegentlich in einer der  Kreuzberger Kollektivkneipen sitzen, wo sie anscheinend nach ihren Wochensitzungen noch hingehen, bevor sie sich wieder einzeln zerstreuen. Mein Eindruck beim Lesen ihres Periodikums ist, dass sie in gewisser Weise eine Fortsetzung der 1969 aus dem SDS hervorgegangenen Zeitschriftengruppe „Die soziale Revolution ist keine Parteisache“ sind. Zu diesem Eindruck trägt allerdings nicht unwesentlich  bei, dass ich von den an sich noch ziemlich jungen „Freunden der klassenlosen Gesellschaft“ (die neuerdings von „FreundInnen“ reden) zwar nur die zwei älteren kenne, diese hatten jedoch die Zeitschrift „Soziale Revolution…“ mitgegründet, die sich 1969 gegen die „K“-Gruppen und -Parteien richtete, vornehmlich gegen  die noch halb antiautoritäre „PL/PI“ (Proletarische Linke/Parteiinitiative). Der eine ist Marc. Eine Legende besagt, dass sein Vater, ein russischer Anarchist, nachdem er es geschafft hatte, 1945 lebend in Westeuropa  anzukommen, als erstes ein Flugblatt „An die Arbeiter Europas“ verfaßte. Marc  lehrte eine zeitlang Mathematik an einer lateinamerikanischen Universität. Wieder zurück in Berlin wohnte er mit einigen Freunden  zunächst in einem Haus in der östlichen Adalbertstraße, an dem sich noch immer ein rundes Mosaik befindet, das den Kopf von Rudi Dutschke darstellt. Es stammt vom Politologen Peter Rambauseck, der ebenfalls zu den „Freunden der klassenlosen Gesellschaft“ zählt, über den ich bereits an anderer Stelle einiges erzählte.  Zusammen mit Marc und anderen organisierte er  1971 einen „Kronstadt-Kongreß“ in der TU.

Vielleicht ist bis hierhin schon klar geworden, warum man bei den Herausgebern des „Kosmoprolet“ von einer rätekommunistischen Kontinuität – seit den frühen Sechzigerjahren – sprechen kann. Kürzlich wurde aus Anlaß eines 68er-Jahrestages der Film über die damalige Entstehung des deutschen Feminismus aus dem „Weiberrat“ des SDS: „Der subjektive Faktor“ von Helke Sander im Fernsehen gezeigt. Zum Einen waren wir erstaunt, dass der Film so aktuell war und dann darüber, dass dort der SDSler Peter eine Rede wieder den feminstischen Separatismus hielt, in dem er noch einmal auf die Priorität des Hauptwiderspruchs (zwischen Kapital und Arbeit) gegenüber dem Nebenwiderspruch (Mann-Frau) pochte. Dieser revolutionäre (Räte-)Konservativismus hat sich wie gesagt mit der Zeit verfeinert bis zu den „Freunden der klassenlosen Gesellschaft“.

Was ihre Zweijahresschrift nun angeht, dazu ist zu sagen, dass es in der neuesten Ausgabe um die Unruhen in Teheran, die Revolten in Griechenland , den Aufstand von Oaxaca und die gesellschaftlichen Kräfteverhältnisse  in Venezuela geht. Wobei die  Autoren davon ausgehen, dass es spätestens seit dem Ausgang der Großen Depression in den Dreißigerjahren keinen unmittelbaren Zusammenhang von „Krise und Revolution“ mehr gibt. Ein weiterer Text befaßt sich, wie auch gerade viele Marx-Arbeitskreise an den Universitäten, mit der „Krise des Werts“ sowie – im Hinblick auf die sozialen Kämpfe in den Siebzigerjahren –  mit einer Kritik am „organisierten Leninismus“. Diese richtet sich  konkret u.a. an den Berliner Betreiber des online-„infos partisan“.

Nach der Wende gingen die Umschulungsfirmen massenhaft in den Osten. Davon profitierten dann auch arbeitslose Künstler, Lehrer und Wissenschaftler, die gutdotierte Jobs als Dozenten bei den Bildungsträgern fanden. Eine dieser Firmen betreute arbeitslos gewordene LPG-Arbeiter in der Prignitz:

In Pritzwalk nennt man sie die „Viererbande“: Günter Schinske, Gabi Schult, Uschi Preuß und Sylvano Schmidt, genannt Max. Günter, Gabi und Max arbeiteten bis zur Wende als Melker in einer LPG, Uschi war zuletzt Verkäuferin in einem LPG-Blumenladen.

Recht eigentlich bildeten sie das Scharnier zwischen dem Alten im Untergrund und der neuen Oberfläche von Pritzwalk. Die vier lernten sich über ABM kennen. Genaugenommen handelte es sich dabei um eine der ABM vorgeschaltete „Integrationsmaßnahme“ (IM), über die die „immer schwieriger werdenden Langzeitarbeitslosen“ als Kollektiv erst einmal quasi ABM-reif gemacht werden sollten.

Das Arbeitsamts-Curriculum sah die Einübung von Bewerbungsschreiben, Ausfüllen von Steuererklärungen sowie die Vermittlung rudimentärer Englisch- und Schreibkenntnisse vor. Die  Westberliner (Kunst-)Dozenten Peter Funken und Thomas Kapielski  setzten jedoch primär auf „Hilfe zur Selbsthilfe“ und organisierten mit der IM- Gruppe z.B. bei einem Teilnehmer rechtzeitig vor Winterbeginn eine Brennholzhack-Aktion, bei einer anderen die Bepflanzung ihres Vorgartens… Max fuhr einen Wartburg, morgens holte er erst Uschi, dann Günter und Gabi zum Kursus ab: Die beiden wohnten außerhalb von Pritzwalk, und die Integrationsmaßnahme fand im Sozialgebäude der ehemaligen Zahnradfabrik statt, das eine DGB-nahe Qualifizierungsgesellschaft als eine Art General- Ausbildungsübernehmer für die ganze Region angemietet hatte. Es gab dort sogar zwei Kantinen – auf ABM- Basis. Und oben in den ehemals VEB-eigenen Fitnessräumen eine Kegelbahn, die von der IM- Gruppe gerne aufgesucht wurde.

Auch während ihres Betriebs-Praktikums sorgte Max mit seinem Wartburg für den Transport der Viererbande: Uschi und Max arbeiteten bei einer Forellenzuchtanlage, die ein ehemaliger Mitarbeiter von der Treuhand auf Pachtbasis privatisiert hatte. Gabi arbeitete in den Gewächshäusern eines Gärtnerehepaares, und Günter verdingte sich auf der Kiesgrube eines Fuhrunternehmers aus seinem Dorf. Er half ihm, eine in Berlin billig erworbene Schnellbauhalle auf seinem Schuttplatz wieder aufzubauen. Günter hoffte, dort eine Festanstellung zu finden, sein Chef bot ihm auch die Übernahme der Kosten für einen LKW-Führerschein an, aber das kollidierte dann mit Günters Arbeitslosenstatus und zerschlug sich so. Max suchte sich im Westen Arbeit: Erst als Reisevertreter für ein Münchner Unternehmen ( „Zum Überreden bin ich aber gar nicht geeignet“) und dann am Fließband einer Bremer Molkerei (hier stellte sich das Problem, eine zweite Wohnung anmieten zu müssen, was in der „Probezeit“ ein zu großes finanzielles Risiko war). Gabi und Uschi wurden von ihren Chefs, denen sie sich als Praktikanten angedient hatten, anschließend nicht übernommen.

Dafür versprach das Arbeitsamt dem gesamten IM-Kursus einen Übergang in reguläre AB-Maßnahmen. Nachdem man ihre Westdozenten rausgeschmissen hatte (weil diese sich nicht eng genug an die Kurs-Curricula gehalten hatten), betreute eine ortsansässige Computerfirma die IM-Gruppe weiter. Günter und Max näherten sich unter der Leitung ihrer neuen „Klassenlehrerin“ dem High-Tech-Gerät primär über das Karten-Patience-Programm, ansonsten wurden sie über das neue Rentenrecht und die Rechtschreibreform informiert. Uschi wurde Klassensprecherin. Als solche war sie u.a. für das Alkoholtestgerät verantwortlich, mit dessen Hilfe allzu betrunkene Kursusteilnehmer festgestellt und dann von der Teilnahme ausgeschlossen werden sollten. Kurz vor dem mit einem schriftlichen „Zertifikat“ endenden Kurs teilte die Klassenlehrerin ihnen mit, daß es keine „Auffang-ABM“ gäbe.

Max bereitete daraufhin nach Ablauf einer Anstandsarbeitslosigkeitsphase doch seinen Umzug nach Bremen vor, Uschi, die Alleinerziehende ist, bekam ein schweres Hüftleiden und mußte fürderhin an Krücken gehen. Gabi gab „die Hoffnung“ nicht auf, aber Günter meinte immer mal wieder: „Ick hab‘ keene Zukunft mehr.“ So fiel langsam die „Viererbande“ auseinander, aber anläßlich einer Kunstausstellung über ABM  – von einem ihrer ehemaligen  Westberlin-Dozenten, Peter Funken, organisiert – sah man sie in einem Videofilm über ihr 13monatiges Bemühen, von der „Marktwirtschaft“ angenommen zu werden.

Jedesmal wenn das Filmteam aus Berlin anrückte, und es kam über ein Jahr lang alle paar Wochen, war die „Viererbande“ zu jeder szenischen Schandtat bereit. In den Zwischenzeiten zogen sie sich jedoch immer mehr in ihre Wohnungen zurück, tranken Schnaps und verfolgten die Welt quasi nur noch über dürftige Fernseh-Features und billige US-Serien. Derweil verschlimmerte sich Uschis Hüftleiden, ihr Freund kam ins Gefängnis, dann auch ihr großer Sohn und schließlich nahm man ihr auch noch den kleinen Sohn weg. Max bekam, kurz bevor er seine Stelle in der Molkerei bei Bremen antreten konnte oder mußte, eine Herzattacke und wurde ins Krankenhaus eingeliefert. Als er wieder rauskam, war er ein anerkannter  Frührentner – mit 600 Euro im Monat. Günter und Gabi wohnten in einem Einzimmerhaus auf dem Dorf, wo – am anderen Ende – auch Gabis früherer Ehemann mit ihren vier Kindern lebte. Jedesmal wenn er einen Alkoholentzug abgebrochen hatte, ließ er seinen Frust an seinen Töchtern, aber auch an Gabi aus. Regelmäßig trafen sich die 17 Pritzwalker Neonazis bei ihm. Im Suff überredete er sie, Gabis und Günters Vorgarten zu verwüsten. Diese trauten sich manchmal im Dunkeln nicht mehr auf die Straße. Auch die reißerischen Sat.1-Reportagen von morgens bis abends stimmten sie nicht gerade optimistisch.

Aber Günter behielt trotzdem seine gute Laune und seinen Witz. Er war ein Pferdenarr, regelmäßig fuhr er nach Neustadt auf den Pferdemarkt. Und Pferderennen im Fernsehen – das war wie Parteitag für ihn. Einmal holte er sich ein Pony, kam aber nicht klar mit dem wilden Hengst. Gabi machte derweil ihren Führerschein und kaufte sich ein altes Auto. Und ein Telefon schafften sie sich auch noch an.  Ich dachte bereits, sie würden es langsam schaffen – und es sich mit zusammen 1.000 Euro  im Monat (bei 120 Euro Miete) gemütlich machen. Günter bekam sogar das vage Versprechen auf einen Halbnachtsjob: Er sollte im Winter Platzwart bzw. Nachtwächter auf der Kiesgrube werden, wo der Besitzer immer mehr Schrottautos abstellte.

Aber dann aß Günter plötzlich nichts mehr, und bald konnte er auch keine Flüssigkeit mehr bei sich behalten – zum Arzt wollte er auch nicht. 14 Tage später war er tot: auf dem Weg zur Toilette zusammengebrochen. Seine Mutter, die im selben Dorf wohnte, und Gabi nahmen während der Vorbereitung seiner Beerdigung über 10 Kilo ab. Die genaue Todesursache wußten sie nicht und wollten sie auch nicht wissen: „Er hat einfach keinen Sinn mehr im Leben gesehen – keine Hoffnung!“ Und das war wahrscheinlich die Wahrheit.

An einem schönen warmen Spätsommertag fuhren wir alle auf den Dorffriedhof, um ihm das letzte Geleit zu geben, wie man so sagt. Cirka 60 Leute hatten sich mit Blumen um die kleine Kapelle versammelt – viele weinten. Auf Gabis Wunsch spielte eine gemietete Beerdigungsrednerin „Ave Maria“ und ließ dann in ihrer Trauerrede noch einmal Günters Leben Revue passieren – ein bißchen zu kritisch für meinen Geschmack, aber besser als verlogen: Ausführlich kam sie dabei auf seine Arbeitslosigkeit, den Alkohol, das Fernsehen und seine Pferdeleidenschaft zu sprechen.

Der Friedhof lag inmitten eines blühenden Rapsfeldes. Von irgendwoher blökten Schafe. Flieder, Schneeball, Rotdorn und Kastanie blühten. Gelegentlich überflog ein Storch oder ein Bussard die Kapelle.  Später erzählte mir der Schwager von Günter, daß die LPG ihn 1987 als Fahrer beschäftigt hatte, ohne daß er einen Führerschein besaß. Es kam deswegen zu einem Gerichtsverfahren gegen Günter, das man als Schauprozeß aufzog – und deswegen live im Radio übertrug. Aufgrund Günters witziger Antworten sei das Ganze aber nach hinten losgegangen: „Günter war anschließend ein richtiger Held in der Region“. So hatte er z.B. auf die Frage das Richters, ob er ein Konto besäße, geantwortet: „Ja, ein Fallskonto!“ – „Was ist das denn?“ – „Falls was drauf ist!“ In seinen letzten Lebensmonaten schimpfte er übrigens am liebsten über den Euro.  Und seine letzten Worte zu mir am Telefon lauteten: „Der Sozialismus hat uns schon ruiniert, aber der Kapitalismus wird uns nun endgültig fertigmachen!“

Es war trotz allem eine schöne Beerdigung. Nur mit Mühe konnte ich meine Tränen zurückhalten. Schwalben schossen durch die Luft, und die Lerchen jubilierten über den Feldern. Mit der alten Goetheschen Weisheit „Es gibt nichts Schöneres auf Erden, als morgens eine Lerche zu hören und mittags eine zu essen“, gewann ich beim Leichenschmaus im Haus seiner Mutter langsam meine Fassung wieder. Es war die erste Beerdigung in meinem Leben. Leider nicht die letzte.

Der o.e. Dozent der Vorbereitungsmaßnahme für eine  ABM-Stelle, Peter Funken, leitete einige Jahre später erneut eine solche Maßnahme – diesmal jedoch für eine MAE-Stelle. Und auch nicht mehr auf dem Land, sondern in Berlin-Reinickendorf. Während die erste „Maßnahme“ in Pritzwalk auf einen Film hinausgelaufen war, der dann auf Peter Funkens NGBK-Ausstellung über „Arbeit“ gezeigt wurde, gipfelte die zweite in Reinickendorf in

eine Ausstellung von Bildhauerarbeiten – im halb leerstehenden Gewerbe- und Dienstleistungszentrum „Anthropolis“:

Da stehen sie nun, die 19 weißen Porenbeton-Objekte – auf schwarzen Kartonsockeln: Ein „Fußball mit Stiefel“ von Yannick Philipps: Der Künstler war früher ein erfolgreicher Fußballspieler. Zwei „ineinanderverschlungene Ringe“ von Christiane Raikow: Sie möchte heiraten – und weiß auch schon, wen. Ein „Labyrinth“ mit überraschendem Ausgang – eine Leiter. Dieses Werk gab der Ausstellung den Titel: „Wege aus dem Labyrinth“. Die Künstlerin Vera Rayan meint dazu, „das Leben“ laufe ihr „wie im Labyrinth“ ab. Ein kleines „Boot“ auf einem stillen See von Ria Pareyn: Sie möchte wieder in ruhigeres Fahrwasser kommen. Ein „Mobiltelefon“ in Flaschenform von Nicole Liebow: Sie wünscht sich, dass ihr Vater sie auch mal nüchtern anruft. Ein Suzuki-„Motorrad“ GSXR 1100W von Karola Weinert: Sie hatte zwei Autounfälle und traute sich nicht mehr aus dem Haus, hat jetzt aber einen Freund mit Motorrad und es geht  ihr wieder besser. Ein „Gesellenbrief“ mit Weltkugel von Michaela Hölz: Sie brauchte einen Abschluß, um einen guten Job zu finden. Den hat sie nun auch gefunden. Ein BKS-„Schlüssel“ von Doris Wyrwas: Sie wünscht sich eine eigene Wohnung. Die hat sie kürzlich auch bekommen. Einen „Pinsel mit Eimer und Farbfleck“ von Patrick Etsch: Er würde gerne Maler werden. Ein „Herz“ in dem ein Stück fehlt von Sven Radüntz: Seine Beziehung ging kaputt. Ein „Schwert“ mit einem Trinkkelch von Sven Hacker – als „Symbol für einen Befreiungsschlag“. Eine „Schatzkiste“ von Dejana Roca – als „Symbol für Geld“ – genug um sich „alles leisten“ zu können. Ein „Kleeblatt“ von Andrea Reisch: Es steht für Glück und alles, was sie sich wünscht – auf dem Sockel. Ein „Berg“ von Krzystof Pasdzierny, der aus Stettin kommt: „Berge gibt es da nicht.“ Er möchte gerne mal in einem kanadischen Hochgebirge wandern. Ein „Elefant“ von Marko Thiel: Er sammelt schon lange Elefantenskulpturen. Ein „Kleid“ von Jasmin Lübke: „Für mich ist schöne Mode wichtig, darum habe ich aus dem Ytong-Stein ein Abendkleid herausgearbeitet.“

Drei der Künstler stellten darüberhinaus noch einige weitere Ytong-Objekte aus. Sie alle wurden in einem Bildhauerkurs angefertigt, den der Designer Klaus Schröter und der Kunsthistoriker Peter Funken leiteten. Dabei handelte es sich um eine halbjährliche „Stabilisierungs-Maßnahme“ nach §16 des Sozialgesetzbuches, ausgearbeitet vom vorbestraften Wirtschaftsverbrecher Peter Hartz, mit dem die „Leistungen der Jobcenter zur Eingliederung“ geregelt werden. Die beiden Maßnahmeleiter haben bereits mehrmals Erfahrungen in und mit solchen Kursen gesammelt: „Die allermeisten Teilnehmer haben komplizierte oder problematische Biographien,“ schreiben sie, „oftmals keinen Schulabschluß und keine Berufsausbildung. Gescheiterte Beziehungen, psychische Probleme und Schulden erschweren ihre Situation zudem…Etliche Teilnehmer wohnen im Heim. Oft bestimmen Suchtprobleme oder psychische Probleme den Alltag.“

Bei ihrer künstlerischen Arbeit wurden sie dann „mit Gestaltungsfragen konfrontiert“, u.a. mit der Umsetzung einer Vorstellung bzw. Fotovorlage ins Dreidimensionale, mit Materialproblemen und der Handhabung von Werkzeugen. Bei der Ausstellung mit Sockel -, Katalog- und Plakatherstellung, Werbung und Einladungen zur Eröffnung. Insgesamt mit Gruppenarbeit. Die Maßnahmeleiter  gehen davon aus, „dass das exemplarische Lösen dieser selbstgestellten Aufgaben Mut machen kann, die Lösung von ganz praktischen Alltagsproblemen voranzutreiben.“ Denn im Kurs wird „Sehen, Hinschauen und Handeln“ gelernt, „und mit dem Schritt in die Öffentlichkeit geschieht auch noch etwas Gesellschaftliches, sogar Politisches.“

Das Format „Stabilisierungsmaßnahme“  wird jedoch laut Peter Funken demnächst abgeschafft: Es war eine Art Vorlauf zur MAE (Mehraufwands-Entschädigung) – den sogenannten 1-Eurojobs, und sollte erst einmal „das Abrutschen verhindern“. Auf der Ausstellung, die „als Projekt auch eine ‚Erfolgsgeschichte‘ ist,“ kann man darüber mehr erfahren.

P.S.: Während der Vorbereitung auf die  Reinickendorfer Ausstellung „Wege aus dem Labyrinth“ schälte sich eine Art „Kerngruppe“ heraus. Diese machte dann zusammen Musik und acquirierte auch schon einige künstlerische Folgeaufträge. Sie dachte daran, einen Kulturgenossenschaft oder einen „Betrieb der sozialen und solidarischen Ökonomie“ zu gründen. Eine zeitlang war Peter Funken mit dabei, aber dann bekam seine Firma keine Betreuungs-Maßnahmen vom JobCenter in Reinickendorf mehr zugesprochen – und im Verfolg von anderen Jobs riß verlor er langsam den Kontakt zu der „Kerngruppe“.

Über den Begriff „Soziale und solidarische Ökonomie“ interviewte ich den Wirtschafts- und Sozialwissenschaftler Karl Birkhölzer:

Mit dem Begriff ist eine wirtschaftliche Selbsthilfe in Form eines Gemeinschafts- oder Kollektivunternehmens gemeint, das sozialen oder anderen gemeinwesenbezogenen Zwecken dient und dessen Gewinne nicht privat angeeignet, sondern re-investiert werden.

Wird an dieser Ökonomie das „Soziale“ betont, dann geht es in der Regel darum, Was gemacht wird, während beim „solidarischen“ Wirtschaften nach dem Wie gefragt wird. Allein in Ostberlin gibt es inzwischen 988 soziale Unternehmen, wovon allein die gemeinnützige GmbH „Pfefferwerk“ 594 Arbeitsplätze geschaffen hat. Sie ist damit der drittgrößte Betrieb im Bezirk. Dort gibt es ferner eine Entwicklungsagentur für soziale Unternehmen und Stadtteilökonomie: BEST genannt, die bis Mitte 2007 aus dem „Europäischen Fonds für Regionale Entwicklung“ finanziert wurde. Daneben existieren über die Stadt verteilt 33 aus dem Bund-Länder-Programm „Soziale Stadt“ finanzierte „Quartiers-Managements“, zu deren Aufgaben auch die Förderung von „lokaler Ökonomie“ gehört, obwohl sie damit in der Regel überfordert sind, weshalb es häufig bei dem Versuch einer „Quartiers-Aufwertung“ ohne nachhaltige ökonomische Effekte bleibt.

Die Geschichte dieses Begriffs reicht inzwischen über 150 Jahre zurück, zum Beispiel bis zur Gründung der ersten Kooperative der Rochdale Pioneers in Großbritannien; er wurde im Zusammenhang neuer sozialer und ökonomischer Krisen immer wieder aufgegriffen , so auch 1983 in Westberlin mit der Gründung einer „Arbeitslosen-Selbsthilfe-Initiative“ an der Freien Universität . Der Wirtschafts- und Sozialwissenschaftler Karl Birkhölzer verlor damals seine (befristete) Assistenzprofessorensstelle, während gleichzeitig die Mehrzahl der von ihm betreuten Absolventen auf Grund eines Einstellungsstops für Lehrer die Perspektive akademisch ausgebildeter Arbeitsloser vor sich hatten. Obwohl deren Zahl bereits damals nicht unbeträchtlich war, war Arbeitslosigkeit – und vor allem die Frage, was dagegen getan werden könnte – kein Thema in der akademischen Forschung und Lehre.

So entstand das Projekt PAULA e.V, – das „Projekt für Arbeitslose und Lehrer der Arbeits- und Berufspädagogik“ – mit dem Ziel in selbstorganisierter Forschung „Strategien gegen Arbeitslosigkeit“ zu entwickeln, zuerst in frei gewordenen Räumen der FU in Dahlem und Lankwitz und seit 1989 in der leerstehenden Rotaprint-Fabrik im Wedding. Dort befindet sich das Projekt immer noch, obwohl die Zukunft des Gebäudes wie in all den Jahren zuvor ungewiss ist. In der Zwischenzeit sind jedoch aus der Initiative neben dem PAULA e.V. eine Reihe weiterer „sozialer Unternehmen“ hervorgegangen wie das Technologie-Netzwerk Berlin e.V., die PAULA Werke Gesellschaft für sozial und ökologisch nützliche Arbeit mbH und das Kommunale Forum Wedding, aus dem wiederum die dortige Stadtteil-Genossenschaft hervorging. Nach der Wende kamen in Ostberlin eine Projektentwicklungsagentur, die Kiezküche Hellersdorf, der Stadtteiltreff im „Labyrinth“ und andere Ausgründungen dazu. Jüngstes Projekt ist die „Berliner Entwicklungsagentur für soziale Unternehmen und Stadtteilökonomie / BEST“. All das gehörte bzw. gehört zum sog. „Paula-Verbund“: „Wir sind ein sozialer Wirtschaftsverbund,“ sagt Karl Birkhölzer.

Am Anfang der strategischen Überlegungen stand eine Frage: Wie überleben Menschen in Krisenregionen? Die Weltökonomie ist gespalten: Es gibt Wohlstandszonen, inzwischen auch in der Dritten Welt, daneben breiten sich aber – nicht zuletzt in der Ersten Welt – vor allem die Krisenregionen aus: in ländlichen peripheren Gebieten, in altindustriellen Zentren und in bestimmten „Quartieren“ in fast jeder Stadt Europas. Nach 1989 kam fast ganz Osteuropa mit Ausnahme einiger weniger Zentren hinzu..  „Wir sind von der Hypothese ausgegangen, dass es in diesen Krisenregionen so etwas geben müsste wie eine ‚ökonomische Selbsthilfebewegung‘.“ Um dies herauszufinden – zuerst mit Schwerpunkt in Westeuropa und vor allem in Grossbritannien – konnte die Gruppe ein Interdisziplinäres Forschungsprojekt an der Technischen Universität Berlin (1988 – 1992) einwerben. Vorausgegangen war ein intensiveres Studium der wirtschafts- und stadtpolitischen Strategien des „Greater London Council/ GLC“ (1981 – 1986), dort war der Begriff der „Lokalen Ökonomie“ geprägt worden. Ein zweite Untersuchung 1987, nachdem der GLC ein Jahr zuvor von der Thatcher-Regierung abgeschafft worden war, ergab: „Alle Projekte, die ausschließlich von öffentlichen Zuwendungen abhängig waren, konnten nicht überleben, aber alle, die sich inzwischen in einer Nachbarschaft oder einem Gemeinwesen (englisch: „community“) verankert hatten, konnten sich sogar weiter entwickeln. Andere Akteure wurden über das ganze Land verstreut und haben dort in den folgenden Jahren von vorne begonnen. Wir haben aus diesen Erfahrungen den Gemeinwesenansatz, d.h. die notwendige Verankerung von lokalökonomischen Initiativen im Gemeinwesen, abgeleitet.“

Ursprünglich wollte die Initiative nach englischem Vorbild eine Genossenschaft gründen, aber deren Verbände waren damals in Deutschland für solche Experimente nicht aufgeschlossen. Außerdem empfahl es sich, zwischen der Rechtsform der Genossenschaft und den genossenschaftlichen Prinzipien der Selbsthilfe, Selbstorganisation und Solidarität (den drei großen S) zu unterscheiden. Diese können auch in anderen Rechtformen verwirklicht werden, z.B. in gemeinnützigen Vereinen oder GmbHs, die wie die PAULA Werke GmbH in ihrem Gesellschaftervertrag ein Verbot privater Gewinnentnahme verankert und festgelegt haben.  „In Deutschland sind wir, was die Akzeptanz und Unterstützung der Sozialen Solidarischen Ökonomie angeht, noch Entwicklungsland“, meint Karl Birkhölzer.

Soziale Unternehmen entstehen vor allem dort, wo Markt und Staat die Versorgung der Bevölkerung mit notwendigen Gütern und Dienstleistungen nicht (oder nicht mehr) gewährleisten. „Die ’normalen‘ Menschen sind da sehr erfindungsreich. Wenn irgendwo ein solches Problem entsteht, bildet sich früher oder später eine Initiative oder soziale Bewegung, die auf Abhilfe drängt. Die Geschichte der Ökonomie in den letzten 150 Jahren, könnte so auch als Geschichte der Alternativ-Ökonomie geschrieben werden. Irgendwann nach der Protest-Phase folgt die Erkenntnis: ‚Wir müssen die Ökonomie selbst in die Hand nehmen – zumindest auf lokaler Ebene‘.“ Aus solchen Initiativen – mit ganz unterschiedlichen Ansätzen und kulturellen Rahmenbedingungen – ist inzwischen eine weltweite Bewegung geworden, die sich untereinander austauscht und zu verständigen sucht, was nicht immer leicht ist. „Wir dürfen nicht in den Fehler verfallen, alles, was in diesem Bereich geschieht, unkritisch zu akzeptieren. Es gibt da auch jede Menge Widersprüche und Fehlentwicklungen. Um aber niemand von vornherein auszuschließen, plädieren wir zunächst einmal für ein relativ breites Verständnis von ’sozialer solidarischer Ökonomie‘.“ Das Technologie-Netzwerk Berlin e.V. hat dazu inzwischen mehr als 30 (zumeist transnationale) Forschungs- und Entwicklungsprojekte sowie eine Vielzahl von Veröffentlichungen, Bildungsveranstaltungen, Vorträgen, Projekt- und Unternehmensberatungen im In- und Ausland vorzuweisen und sich einen Ruf als eine der wenigen Expertengruppen auf diesem Gebiet erarbeitet, nicht zuletzt in Osteuropa. So ging es vor kurzem auf Einladung der Karpaten-Stiftung in Ungarn (mit Polen, Rumänen, Slowaken und Ukrainern) um die Frage, wie diese verarmte Bergregion durch Gemeinwesen-Entwicklung gestärkt werden kann? Dabei stehen strategische Ansätze der Rekonstruktion lokaler Ökonomien im Vordergrund.

Noch bis 1945 bestand der Großteil der ländlichen Regionen und auch der Kleinstädte in Europa aus funktionsfähigen lokalen Ökonomien, deren Gefährdung und Auflösung zum Teil erst heute sichtbar wird.  Es gab und gibt jedoch auch Gegenbewegungen. So verfügt z.B. Großbritanien über eine langjährige Community-Tradition, die nicht zuletzt auf die Erfahrungen während der deutschen Bombenangriffe im Zweiten Weltkrieg zurückgeht: Da die Großstädte wie z.B. London noch über keinen organisierten Luftschutz verfügten, mussten die Bürger einspringen. Dazu wurde die Stadt, entlang historisch gewachsener Identitäten, in kleinräumige Communities gegliedert, welche neben dem Schutz auch die gegenseitige Hilfe in den Nachbarschaften selbst organisieren und verwalten sollten. Nach dem Krieg sollten sich diese Communities wieder auflösen, aber die Leute haben an ihren so entstandenen Gemeinweseninitiativen und -organisationen festgehalten und sich neue Ziele gesetzt. So bestehen bis heute eine Vielzahl lokaler Community-Centres, die öffentlich finanziert werden und zum Ausgangspunkt vieler neuer Initiativen geworden sind. Von dort war es nur noch ein kurzer Schritt zur Gründung von „Community Businesses“, d.h. von Wirtschaftsunternehmen zur Verbesserung der Lebensqualität in den Nachbarschaften und Stadtteilen: Community Gardens, – News Papers und Radios, – Swimming-Pools, – Heritage Centres, – Libraries, aber auch – Transport Systems, – Wind Parks, – City Farms, – Credit Unions sowie eine Vielzahl von Community Resource and Support Centres für unterschiedliche soziale Gruppen und Stadtteile.

„Für mich manifestiert sich darin eine gigantische Suchbewegung nach Auswegen aus Krisensituationen. Ich meine aber jetzt nicht die allgegenwärtige Finanzkrise, sondern die vielen kleinen oder auch großen Krisen in der Daseinsvorsorge und der Versorgung mit den notwendigen Gütern und Dienstleistungen. Zu deren Bewältigung muss heute sehr viel soziales Kapital investiert werden, also sehr viel Zeit und Kraft von vielen Menschen, die Bündelung ihrer Kenntnisse und Fertigkeiten – bis daraus auch wieder physisches und finanzielles Kapital entstehen kann. Und anschließend muss dafür gesorgt werden, dass dieses neu erworbene Kapital auch in der lokalen Ökonomie bleibt.“  Obwohl wir in einer scheinbar reichen Gesellschaft leben, ist die Versorgung der Grundbedürfnisse wie Ernährung, Wohnen, Gesundheit und Bildung nicht (oder nicht mehr ausreichend) für alle gewährleistet. Immer wichtiger wird daneben die Versorgung mit Energie, Wasser, Abwasser, Transport, die sich heute technisch kleinräumig und dezentral organisieren lässt. Ferner geht es um haushaltsnahe Dienste sozialer oder gewerblicher Art, um lokale Kultur, um Naherholung, Umweltreparatur und – vorsorge und schließlich um die kommunale Infrastruktur.  Als die PAULA-Projekte vor mehr als 20 Jahren anfingen, sich mit diesen Anliegen zu beschäftigen, waren die Begriffe Lokale und Soziale Ökonomie – zumindest in Deutschland – nahezu unbekannt oder wurden als abwegig oder überflüssig angesehen. „Unsere Angebote in Forschung, Entwicklung und Bildung trafen auf eine offenkundige Marktlücke, in der es möglich war, ohne öffentliche Unterstützung zu überleben. Heute gibt es aber auch auf diesem Gebiet viel mehr Konkurrenz, weshalb es für uns schwieriger geworden ist, entsprechende Aufträge zu akquirieren. Wir sind an einem kritischen Punkt angekommen, an dem vieles davon abhängt, ob es gelingt, auch die öffentliche Hand davon zu überzeugen, dass die Entwicklung der lokalen sozialen Ökonomie – gerade angesichts der gegenwärtigen Wirtschaftskrise – überlebenswichtig ist und öffentlich gefördert werden muss. So verstehen wir unsere Arbeit in Forschung, Entwicklung und Bildung nicht zuletzt als eine öffentliche Dienstleistung ist, die (zumindest teilweise) auch aus öffentlichen Mitteln bezahlt werden müsste, wie das in anderen europäischen Ländern inzwischen üblich ist“, so Karl Birkhölzer, dessen interdisziplinäres Forschungsprojekt in der Wendezeit einige Jahre lang von der Technischen Universität gefördert wurde, wo er – obwohl inzwischen pensioniert – noch immer ein Büro und sein Archiv hat: Er betreut dafür dort ehrenamtlich studentische Projektwerkstätten.

Im Rahmen eines von der Europäischen Union geförderten Modellprojekts arbeitet er im Augenblick daran, ein europäisches Curriculum und einen Weiterbildungsstudiengang für Multiplikatoren zu entwickeln: „Noch kann man nirgends in Deutschland lokale und soziale Ökonomie lernen: Die Verbindung der Worte „sozial“ und „Ökonomie“ ist hierzulande immer noch eine Provokation, da die Meinung vorherrscht: „Ökonomie“ ist Geld verdienen und „sozial“ ist Geld ausgeben. Ich bin immer wieder erstaunt über das Ausmaß an Unkenntnis in Deutschland über das, was andernorts möglich ist.“

Vom Technologie-Netzwerk Berlin e.V. erschien zuletzt mit Unterstützung der Hans- Böckler-Stiftung: „Soziale Ökonomie in Berlin – Perspektive für neue Angebote und sinnvolle Arbeitsplätze in der Hauptstadt“.

Die Referate des 2006 von Technologie-Netzwerk Berlin e.V. mitveranstalteten Kongresses an der TU Berlin „Solidarische Ökonomie im globalen Kapitalismus – Wie wollen wir wirtschaften?“ wurden 2008, herausgegeben von Sven Giegold und Dagmar Embshoff, in Zusammenarbeit mit der taz im VSA-Verlag, Hamburg, veröffentlicht. Sie stehen nun kostenfrei im Netz.

Weitere Informationen: www.technet-berlin.de; www.soziale-oekonomie.de

Im Wirtschaftskrisenjahr 2009 ist viel von „Genossenschaften“ die Rede, in Osteuropa sollen sie besonders hilfreich in der anhaltenden Transformationsphase sein, da das Kapital weder als scheues Reh noch als Heuschrecke überall hinreichen kann – das können sich plötzlich die phantasielosesten Wirtschaftsforscher vorstellen. Der marxistische Wirtschaftsforscher Elmar Altvater scheint sogar seine ganz  Hoffnung auf Genossenschaften gesetzt zu haben. Das „European Network of Cities and Regions for the Social Economy“ (REVES) in Brüssel, in dem der EU-Genossenschaftsverband CECOP Mitglied ist, veranstaltet am 7./Mai 2010 zusammen mit der Neuköllner Ladengalerie für Genossenschaftsprodukte „Le Grand Magasin“einen Kongreß über Sinn & Form von Kooperativen – im Berliner Collegium Hungaricum.

Gleichzeitig wurde jetzt die noch viel ältere „Allmende“-Diskussion wiederbelebt, nicht zuletzt deswegen, weil der Wirtschaftsnobelpreis, den vorher stets Neoliberale bekamen, heuer an eine Genossenschaftsforscherin verliehen wurde: Elinor OstRom.

Der Träger des alternativen Friedensnobelpreises Johan Galtung erklärte uns einmal: „Die ‚Gegenseitige Hilfe‘ ist, wie ich das sehe, das Normale. Das ist so normal, dass man es manchmal nicht sieht. Kropotkin hat das Offenbare und Normale gesagt, und Darwin hat einige Einzelfälle herausgeholt und daraus das ‚Typische‘ gemacht“.  Dies läßt sich auch auf die berühmte 1968 in „Science“ veröffentlichte Studie von Garrett Hardin „The Tragedy of Allmende“ münzen. Nach Hardin geht jede Genossenschaft bzw. auf Gemeinschaftseigentum basierende Wirtschaftsweise früher oder später „im Egoismus ihrer Teilnehmer“ zugrunde. Im Neodarwinismus gipfelte diese Ansicht dann 1976 in dem Pamphlet „Das egoistische Gen“ des englischen Evolutionsbiologen Richard Dawkins, das tausende von Gentechniker und Gehirnforscher „inspirierte“. Auf Hardin bezogen sich aber in der Folgezeit auch mindestens ebensoviele Kritiker des Genossenschafts- und Gemeinschaftseigentums – wenn sie stattdessen für Privatisierung bzw. Privatbesitz votierten. Anhand vieler Beispiele hat die US-Wirtschaftswissenschaftlerin Elinor Ostrom noch einmal die teilweise jahrhundertelange Stabilität von Allmenden und Genossenschaften empirisch herausgearbeitet – sie spricht in diesem Zusammenhang von einem „Dritten Weg“. Einen solchen erwähnte auch Johan Galtung: „Ich möchte betonen, da Kropotkin immer im Gegensatz zu Darwin dargestellt wird, dass es einen japanischen Ansatz gibt, den von Kinji Imanishi. Das ist eine völlig andere Evolutionstheorie. Er beschreibt ebenfalls die Zusammenarbeit, aber auch, dass die Natur sich immer verändert und die Natur sehr viel dynamischer ist, auch in einer kurzzeitigen Perspektive des Dynamischen, und da eröffnen sich neue Nischen. Diese Nischen sind leer. Es gibt keine Tiere, keine Pflanzen, es ist sozusagen wie im Himmelreich. Und dann kommt ein Ei dazu oder ein Samen und fühlt sich ganz wohl und hat dort die Möglichkeit, sich zu entfalten. Das ist weder Kooperation noch Streit, sondern ganz einfach eine Potentialität. Man könnte sagen, dass eine Art, wie Darwin sie dargestellt hat, ein wenig ist wie die britischen Kolonialisten, und das war ja auch sein Modell: Er findet etwas Unterlegenes, und das wird dann ausgerottet. Bei Kropotkin dagegen sind diese Arten liebenswürdig und auf Kooperation eingestellt. Für Imanishi sind sie Entdecker, sie sind auf Entdeckungsreise und finden etwas, wo sie Möglichkeiten haben, ich erwähne das nur, weil ich denke, in einer westlichen Ökonomie sind wir verloren.“  Elinor Ostrom, die nun mit 76 Jahren den Wirtschaftsnobelpreis verliehen bekam – für ihre Forschung über die „Probleme bei der Nutzung von Gemeinschaftsgütern wie Fischgründe, Grundwasservorkommen, Wald- und Weidegebieten“ – bis hin zur Erd-Atmosphäre, meint mit dem „dritten Weg“ eine Alternative zu Privatisierung und Verstaatlichung – das ist das Gemeinschaftseigentum (Common). Wobei sie als Empirikerin so sehr von der Richtigkeit ihrer jahrzehntelangen Erforschung der kollektiven Nutzung von Ressourcen überzeugt ist, dass sie den Nobelpreis dafür eigentlich gar nicht mehr bräuchte, wie sie sagt. Vielleicht brauchen ihn aber die Kampagnen in der Dritten Welt, die sich z.B. gegen die „Biopiraterie“ der Ersten Welt, u.a. durch Agrarkonzerne wie Monsanto, wehren, die die über Jahrtausende von den Bauern dort gezüchteten Pflanzen und Tiere quasi entwenden – und dann patentieren, um sie ihnen genetisch manipuliert wieder zurückzuverkaufen.  Dieser „Kampf um die Ressourcen“ wird heute weltweit geführt – mit ungleichen Waffen. Zu lange bereits haben bloß Privatunternehmen und Staaten um die Biomasse (wozu auch Kranke, Arbeitslose und Schwangere zählen) konkurriert. Mit der Auszeichnung einer Gemeineigentums- und Selbstverwaltungsverfechterin (ihr wichtigstes Buch heißt auf Deutsch „Die Verfassung der Allmende“) werden nun die Alternativen „Jenseits von Markt und Staat“, wie die NZZ schreibt, ermutigt. Elinor Ostrom untersuchte u.a. Schweizer Genossenschaften, die es dort schon seit dem 15. Jahrhundert mit formeller Satzung gibt, „um u.a. die Nutzung der Almen, der Wälder und des Ödlands besser zu regeln“. Ähnlich studierte Karl Marx bereits die russischen Dörfer mit Gemeinschaftseigentum (Obschtschinas), die er als Ausgangspunkte für den Aufbau einer sozialistischen Gesellschaft begriff. Und 1906 kam der Agrarforscher Franz Christoph in einer Studie über die letzten ländlichen Allmenden in Preussen zu dem Resultat: „Äußerste Armut ist in Ländern mit Gemeingut weniger bekannt, auch der ärmste Tagelöhne hat wenigstens sein Land für Gemüse und Kartoffeln. Ein Proletariat ist in Gegenden mit größerem Allmendebesitz kaum anzutreffen. Und die Gemeinden sind reicher.  In Berlin, wo die Genossenschaftsgründungen seit 1933 rückläufig sind, wird neuerdings neben der Ich-AG auch die „Wir-eG“ finanziell gefördert. Dazu gibt es bereits eine Studie vom Wismarer Genossenschaftsforscher Jost W. Kramer – mit dem Titel „Geförderte Produktivgenossenschaften als Weg aus der Arbeitslosigkeit? Das Beispiel Berlin.“ Kramer hebt darin vor allem auf die Widersprüche in den Fördermaßnahmen ab, die zwar die Gründung von Produktivgenossenschaften forcieren sollen, deren Procedere jedoch gleichzeitig jeden abschreckt. War es bei den Ich-AGs noch das allzu hohe persönliche Risiko, so sind es nun bei den Wir-eGs die Hürden der behördlichen Überkomplexität resultierend aus deren widerstreitenden Interessen und Ideologien. Kramer befürchtet denn auch, „dass die Maßnahme die beabsichtigten Ziele nicht erreicht.“ Die zusätzliche Nobelmaßnahme jetzt wird daran wahrscheinlich nichts ändern. Die Globalisierungskritiker von Attac begrüßten die Auszeichnung dennoch: „Elinor Ostrom hat in ihrem wissenschaftlichen Werk den Nachweis erbracht, dass Gemeinschaftsbesitz sehr gut und nachhaltig bewirtschaftet werden kann. Voraussetzung ist die gemeinsame demokratische Kontrolle über das öffentliche Gut. Die sogenannte ‚Tragik der Allmende‘ wurde von ihr als neoliberale Legende widerlegt“. Die neueste Ausgabe der Zeitschrift „contraste“ widerlegt die „Tragik der Allmende“ noch einmal – mit einem „Heftschwerpunkt“.

Der subversiven Bildungswege gibt es genug, aber nur selten werden dazu Curricula veröffentlicht – wie in „Die Kunst des Verschwindens“ von Jim Dodge:

Im Vorwort schreibt Thomas Pynchon: „In diesem Roman wird man nicht nur eine Gabe für Prophetisches bemerken, sondern auch eine ständige Verherrlichung jener Lebensbereiche, wo noch bar bezahlt wird – und die sich daher zumeist dem digitalen Zugriff widersetzen.“ Pynchon bezeichnet das Buch deswegen auch als erstes Beispiel „für einen bewusst analogen Roman“. Das Gegenteil davon dürften die Essays von Paul Virilio sein, die im Merve Verlag unter dem Titel „Die Ästhetik des Verschwindens“ erschienen sind: bei Virilio handelt niemand von Bedeutung mehr analog.

Dodges Roman beschreibt eine Gruppe kalifornischer Outlaws und Anarchisten, deren Basis die sittliche Vernunft ist. Die amerikanische Literatur über solche Verschwörungen reicht von den ersten Siedler-Fantasien und den Partisanen-Erinnerungen aus dem Unabhängigkeitskrieg über „Huckleberry Finn“, die „Digger“- und „Beatnik“-Geschichten bis zu all den Unterhaltungsromanen, die eigensinnige Verbrecher, herausragende Spieler, glückliche Huren, gewiefte Schmuggler oder gewagte Künstler verherrlichen.

In „Die Kunst des Verschwindens“ befasst sich eine mit dem Kürzel AMO bezeichnete Verschwörung mit all diesen widersetzlichen Existenzweisen gleichzeitig – in Form eines Curriculum Vitae. Dodge schildert Initiation, Lehre und Ausbildung eines Adepten, wobei ausgehend von den New-Age-Therapien in Esalen (Big Sur) und ihren radikalen Ablegern noch ein ganzes Sammelsurium von alchemistisch-pharmazeutisch und indianisch-mystisch angereicherten Zen-Buddhismen ins Spiel kommen. Zudem war die Mutter dieses Adepten bereits eine ausgewiesene Outlaw, so dass seine partisanische Waisen-Erziehung genau genommen schon in der Gebärmutter begann.

Wir haben es hier mit einer erneuten Verkitschung des amerikanischen Mythos zu tun, aber auch mit den realen Weiterentwicklungen – etwa aus der Zeit zwischen Ken Keseys „Merry Prankster“-Bus und seiner Bauernwerdung im Oregon, der Thomas Pynchon mit seinem Roman „Vineland“ ein Denkmal setzte. Dodge scheint nun so etwas wie sein Schüler geworden zu sein: „,Die Kunst des Verschwindens‘ zu lesen ist, als würde man eine endlose Party feiern, zu Ehren aller Dinge, auf die es wirklich ankommt“, lobt Pynchon. Dabei geht es stets um ein spiralistisches Ausbalancieren zwischen dem umherschweifenden Rebellen, der angreift und flüchtet oder umgekehrt, und dem sich wertkonservativ verteidigenden Partisanen – wobei Verschwörung auf Verschwörung prallt.

So wie es eine bemerkenswerte Analogie zur Beatnik-Literatur seinerzeit in der Sowjetunion gab (Axjonow, Jewtuschenko und andere), gibt es nun auch solche New-Age-Verschwörungs-Romane wie die von Dodge in Russland. Zu den Autoren gehört etwa der ehemalige Miliz-Untersuchungsführer Sergej Alexejew mit seinem Bestseller „Der Schatz von Walkirij“. Die Kritik sprach von einem „philosophisch-ethnographischen Action-Roman“. Alexejew beschreibt eine unsterbliche neue Komintern, die sich, versteckt in Bergwerkskatakomben im Ural, partisanisch schult, um bei der Gestaltung der neuen Zukunft Russlands effektiv mitzumischen. Zu seinen Lesungen erscheinen immer wieder Fans, die sich persönlich für die Walkirij-Auserwählten (Adepten) halten oder sogar bereits im Untergrund leben.

Der Gegner, das sind hier wie dort Regierung und Kapital. Dodge wendet sich speziell gegen das Edward-Teller-Laboratorium in Livermore, wo man am atomaren Schutzschild der USA baut, und daneben natürlich auch gegen FBI und CIA, deren Überwachungstechnik derart komplex ist, dass dagegen letztlich nur das völlige Verschwinden hilft. Wobei sich noch einmal das Problem des Verrats stellt.

So wie der KGB eine sozusagen saubere partisanische Vergangenheit hat, waren auch die CIA-Anfänge in der Vorgängerorganisation OSS im Zweiten Weltkrieg durchaus ruhmreich. Das OSS rekrutierte seine Mitarbeiter aus den Kreisen der linken Sozialwissenschaftler des New Deal aus Harvard, Yale und Berkeley – unter anderen war Herbert Marcuse dabei. Ihre profunden Analysen bewirkten bald, dass die USA statt die nationalistischen und royalistischen Befreiungsgruppen in Europa mehr und mehr die kommunistischen Partisanen unterstützte, die sich dann auch fast überall durchsetzten. In den OSS-Stützpunkten herrschte damals durchaus der Geist einer Verschwörung der Guten, denn viele (antisemitische bis antikommunistische) US-Militärs wollten eher mit deutschen Truppenteilen verhandeln, wie auch umgekehrt. Der Kalte Krieg verwirklichte dann ihr Konzept.

Die AMO-Verschwörung bei Dodge ist jetzt noch einmal eine Art Alternativ-Harvard, bei dem Marx vorausgesetzt und die Ökonomie über szenetypische Soli-Abos gewährleistet wird. Einen solchen anarchistisch-feministischen Schamanismus, der sich mit Illegalem verbindet, gibt es in Kalifornien tatsächlich. Viele Kommunen, Buchläden und Hang-Outs in dem Roman haben reale Vorbilder – mit „Ghost Dog“ versuchte sich zuletzt auch Jim Jarmusch auf diesem Territorium. Die Umdrehung, dass ausgerechnet ein Verrückter andere heilen kann, kennt man bereits aus Ken Keseys romantisch-antipsychiatrischen Roman/Film „Einer flog über das Kuckucksnest“ – bei Dodge gibt es dafür das „therapeutische Tagebuch“ eines schizophrenen Teenagers.

Insgesamt ist sein Buch eine Blütenlese aus all dem, was das andere Amerika bisher über den Großen Teich geschickt hat – ideelle Carepakete, verpackt als hedonistische Bildungsromane: Was hier bloß ein Oxymoron wäre, ist dort jedoch merkwürdigerweise ein Erfolgsrezept.

In Europa hat man statt auf eine „romantische“ reeducation (with lots of fun) eher auf Neoverismus beziehungsweise auf einen dunkel gekleideten Existenzialismus gesetzt. Wie bei Dodge geht es zum Beispiel auch in dem 1948 erschienenen neoveristischen Roman „Der Himmel ist rot“ von Giuseppe Berto um Adepten, die erzogen werden müssen: Hier ist es eine Gruppe von 13- bis 16-Jährigen, die durch deutsche Bombardierung zu Waisen geworden sind. Sie müssen sich quasi selbst zu den neuen (kommunistischen) Menschen erziehen. Die Amerikaner sind dabei nur Geldgeber – und zwar im Tausch gegen Geschlechtsverkehr, die Prostitution wird zur Hauptökonomie.  Die Prostituierten standen stets auf Seiten der Linken, bei Dodge spielen sie deshalb jetzt eine wichtige Rolle. Zudem zählen diese Gewerbetreibenden ebenso wie Haschischanbauer und sonstige Drogenschmuggler in den USA quasi automatisch zu den nicht sesshaften Outlaws. In Europa dagegen gibt es für solche Leute dagegen  quasioffizielle pädagogische Modelle. Aus Dänemark kommt das immer noch wirksame Schulmodell Tvind, deren interessanter Ableger für Heimkinder in der BRD Werkschule hieß. Erwähnt sei ferner die jesuitische Kinderrepublik Bemposta in Spanien, wo jeder Adept vor seiner Artistenausbildung erst einmal ein Jahr ein Handwerk lernen muss, danach geht er betteln, anschließend eine Weile stehlen und schließlich muss er auch noch in den Knast. An sozialen Brennpunkten operiert in Berlin der „größte Kinderzirkus der Welt – Cabuwazi“, wo auch körperlich behinderte Kinder mitmachen. Daneben gibt es in den Chevennen auch noch ein Partisanenlager für geistig behinderte Kinder, „Ein Floß in den Bergen“ genannt.

Solche Kaderschmieden könnten den Kaliforniern gefallen – auch wenn sie ebenfalls eher neoveristisch als romantisch sind. Das eine wie das andere lässt sich im Übrigen verkitschen. Was in Italien das Kultbuch „Schweine mit Flügeln“ wurde, hieß in den USA: „Even Cowgirls get the Blues“. Eins haben jedoch all diese zwischen Vernetzung und Verschwörung verwickelten Existenzen und Literaturen noch nicht geschafft: das Verschwinden. Daran scheitert auch Dodge, der erst Bauer war und dann Autor wurde, während Ken Kesey genau umgekehrt vorging – und Thomas Pynchon von Anfang an verschwunden blieb. Insofern leistet „Die Kunst des Handelns“ vom französischen Jesuiten Certeau – in dem er die spurlosen alltagspartisanischen Tugenden des „Kleinen Mannes“ gegenüber den Zumutungen der informatisierten und digitalisierten Megalopolen-Ökonomie herausarbeitet -, was „Die Kunst des Verschwindens“ von Jim Dodge bloß handlungsmäßig behauptet.

Die Geschichte der „Scene“, in der solche Behauptungen gedeihen, reicht bis ins 19. Jahrhundert zurück – zu den “New World Utopias”, gemeint sind damit ganze Dörfer, Gemeinden, Landkommunen, die kollektiv wirtschafteten – bis ins Private hinein: sogenannte Totalgenossenschaften.

Erwähnt sei “New Harmony”, gegründet vom englischen Genossenschaftstheoretiker Robert Owen. Ferner die schon 1805 entstandene Kolonie “Harmony” von ausgewanderten “Rappiten”. Die an Ralph Waldo Emerson orientierte Transzendentalistenkommune “Brook Farm”; die New Yorker Kommune “Oneida” und die von sexuellem Mystizismus beseelte Kommune “Fountaingrove”. Sie wurde 1928 von Kanaye Nagasawa privatisiert. Ferner die Kolonie Icaria Speranza, in der nur Französisch gesprochen werden durfte. Ihr Erforscher, der Gründer des “Utopian Studies Center” in Kalifornien – Paul Kagan schreibt: “Die Ikarier unterließen es, ihre Kinder im Sinne der Kommunideale zu erziehen, und daher wuchs keine Nachfolgegeneration heran, die die Traditionen hätte bewahren können.”

In den Kibbuzim, aber auch in der österreichischen AA-Kommune, auf dem schwäbischen Finkhof und in der Kommune Niederkaufungen, wurde das versucht, dennoch wollten auch hier die Kinder später lieber raus aus dem Kollektiv und mindestens vorübergehend ein anderes Leben führen.

Zu den “New World Utopias” zählt Paul Kagan ferner die “theosophische Bewegung, die einige wichtige Kommunen in Kalifornien hervorbrachte”. Eine in Halycons gibt es noch heute, allerdings sind nur noch die Hälfte aller Bewohner dort Theosophen. Von einer anderen, Krotona, 1912 gegründet, gibt es noch eine Schule. Diese wurde 1946 von Krishnamurti und Aldous Huxley begründet, sie nannten sie “Happy Valley”, ihre Leitung übernahm 1971 der Biologe Alfred Taylor. Die Schule liegt im Ojai-Tal, in den Achtzigerjahren wurde es zu einem der Zentren der kalifornischen “New Age”-Bewegung.

2004 machte sich das Ehepaar Barbara und Gunter Hamburger-Langer auf, um zu sehen, was von diesen Projekten, ganzen Initiativen und Kommunen übrig geblieben oder neu hinzugekommen war. Anschließend veröffentlichten sie ihre “Weltreise auf der Suche nach Samen für die Zukunft” als Buch im Selbstverlag. (1)

Merkwürdig viele der oben genannten “New World Utopias” wurden mit den US-Sittengesetzen zermürbt (in Österreich geschah zuletzt Ähnliches mit der AA-Kommune) – und mußten aufgeben, die Genossenschaften wurden liquidiert und das Land privatisiert. Andere, wie die “Kooperative Commonwealth Kaewahs”, waren den Behörden zu kommunistisch, privatbesitzfeindlich eingestellt – und wurden aufgelöst. “Das Ende Kaweahs als Kolonie leitete im Januar 1892 die Anklage ein, sein Kuratorium hätte gegen die Beförderungsbedingungen der Post verstoßen, indem es Propagandamaterial der Kolonie und Spendenaufrufe verschickt hätte,” schreibt Paul Kagan.

Von Spenden lebte zuletzt auch die Alternativbewegung”, das “Netzwerk” diente ihrer Sammlung und Verteilung ebenso wie in Berlin die “Stiftung Umverteilung” und später die Stiftungen der Grünen. Die taz machte unterdes aus ihren Spendern Mitglieder einer Genossenschaft bzw. Zuwender für eine Stiftung (namens Panter). Für die Genossenschaften gibt es heute einen “Bundesverein zur Förderung des Genossenschaftsgedankens” sowie die Beratungsorganisation für Genossenschaftsgründungen “innova eG”, die alljährlich Preise an Genossenschaften für “Ideen und Engagement” verleiht, ähnlich wie auch die “Arbeitsgemeinschaft Genossenschaftswissenschaftlicher Institute”.

Von vornherein auf Aktien angelegt war die 1914 “von einer Handvoll Soziualutopisten” gegründete “kooperative Kolonie Llano del Rio” bei Los Angeles. Ihre Gründer wollten den Beweis erbringen, “dass eine Kooperation in der Realität bestehen kann, wenn sie auf den Prinzipien des gleichverteilten Eigentums, des gleichen Lohns und sozialer Chancengleichheit beruhte”. Die Kolonie spaltete sich schon bald – am Problem der Drückeberger und der Frage, wie ihnen beizukommen sei. Auch hier stand dabei wieder Leistung gegen Leidenschaft. Während einer Finanzkrise verkaufte der Kolonie-Sekretär schließlich die Aktien. Die Kolonisten zogen weiter nach Louisiana, 1936 gingen sie auch dort pleite. Ähnliches gilt für die 1914 gegründete Kommune Christlicher Evangelisten “Pisgah Grande”, sie überlebte jedoch als religiöse Bewegung. 1972 kehrte sie zurück nach Los Angeles, wo sie mit der “Jesus-Bewegung”, einem Zweig der Hippies, verschmolz. In den Sechzigerjahren wurde das abseits gelegene Tassajara Zen Bergzentrum bei Montery auf Spendenbasis gebaut. Das es noch immer existiert, führt Paul Kagan darauf zurück, dass es nicht von einem mehr oder weniger charismatischen Führer begründet wurde, sondern aus einer ganzen Tradition (dem Zen-Buddhismus) heraus in einer Gruppe entstand.

Inzwischen gibt es eine ganze Reihe solcher Zentren und “Schulen” in den USA, zudem öffneten sich ihnen die Universitäten. Einige besuchten zuletzt die Konstanzer Leiter von “Visionssuchegruppen”, das Ehepaar Hamburger-Langer.

Auch für sie gilt noch, was bereits in den Siebzigerjahren festgestellt wurde: “Wichtig ist, dass Alternativprojekte nicht auf Gedeih und Verderb darauf angewiesen sind, finanziell rentabel, ökonomisch konkurrenzfähig zu sein gegenüber traditionell kapitalistischen Unternehmen”. Dazu wurden Spendenaufrufe, eine Reduzierung der Bedürfnisse auf Wesentliches, Schwarzfahren, Förderanträge stellen etc. empfohlen. Auf diese Weise geriet den Aktivisten jedoch die wirkliche Ökonomie, “die Infragestellung der Eigentumsverhältnisse und die Aneignung des gesellschaftlichen Reichtums”, wie Arndt Neumann es in seinem Buch „Kleine geile Firmen“ nennt, aus dem Blickfeld.

In dieser Situation unternahmen die beiden Lankommunarden Schibel und Leineweber 1974, ähnlich wie das Ehepaar Hamburger-Langer 2004, eine Reise in die USA. Sie “besuchten Anwaltskollektive, Freie Kliniken, Mietergewerkschaften, Stadtteilgruppen, Lebensmittelkooperativen, Stadt und Landkommunen, um herauszufinden, wie die Genossen die Probleme angehen, die uns selbst beschäftigen.” Eine generelle Lösung sahen die beiden Autoren “in der Vernetzung einer großen Zahl von Alternativprojekten”.

Das sahen auch bereits die “Lassalleaner” der alten Sozialdemokraten so – in bezug auf die damals entstehenden Arbeiter-Genossenschaften. Im Gothaer Programm der SPD hieß es dazu: “Die deutsche Arbeiterpartei verlangt, um die Lösung der sozialen Frage anzubahnen, die Errichtung von Produktivgenossenschaften mit Staatshilfe unter der demokratischen Kontrolle des arbeitenden Volks. Sie sind in solchem Umfang ins Leben zu rufen, daß aus ihnen die sozialistische Organisation der Gesamtarbeit entsteht.” Marx und Engels kritisierten damals dieses Netzwerk-Konzept scharf: Ersterer merkte dazu an: “An die Stelle des existierenden Klassenkampfes tritt eine Zeitungsschreiberphrase – ,die soziale Frage’, deren ,Lösung’ man ,anbahnt’. Statt aus dem revolutionären Umwandlungsprozesse der Gesellschaft ,entsteht’ die ,sozialistische Organisation der Gesamtarbeit’ aus der ,Staatshilfe’, die der Staat Produktivgenossenschaften gibt, die er, nicht der Arbeiter, ,ins Leben ruft’. Es ist dies würdig der Einbildung Lassalles, daß man mit Staatsanleihen ebensogut eine neue Gesellschaft bauen kann wie eine neue Eisenbahn!” Engels schrieb rückblickend, dass der Kritik ungeachtet dann doch jede Menge “Gewerksgenossenschaften, Produktivgenossenschaften ins Werk gesetzt – und dabei vergessen wurde, daß es sich vor allem darum handelte, durch politische Siege sich erst das Gebiet zu erobern, worauf allein solche Dinge auf die Dauer durchführbar waren.”

Rosa Luxemburg charakterisierte später die Genossenschaft als ein im Kapitalismus eigentlich nicht-lebensfähiges Oxymoron: “Was die Genossenschaften, und zwar vor allem die Produktivgenossenschaften betrifft, so stellen sie ihrem inneren Wesen nach inmitten der kapitalistischen Wirtschaft ein Zwitterding dar: eine im kleinen sozialisierte Produktion bei kapitalistischem Austausche. In der kapitalistischen Wirtschaft beherrscht aber der Austausch die Produktion und macht, angesichts der Konkurrenz, rücksichtslose ausbeutung, d.h. völlige Beherrschung des Produktionsprozesses durch die Interessen des Kapitals, zur Existenzbedingung der Unternehmung. Praktisch äußert sich das in der Notwendigkeit, die Arbeit möglichst intensiv zu machen, sie zu verkürzen oder zu verlängern, je nach der Marktlage, die Arbeitskraft je nach den Anforderungen des Absatzmarktes heranzuziehen oder sie abzustoßen und aufs Pflaster zu setzen, mit einem Wort, all die bekannten Methoden zu praktizieren, die eine kapitalistische Unternehmung konkurrenzfähig machen. In der Produktivgenossenschaft ergibt sich daraus die widerspruchsvolle Notwendigkeit für die Arbeiter, sich selbst mit dem ganzen erfoderlichen Absolutismus zu regieren, sich selbst gegenüber die Rolle des kapitalistischen Unternehmers zu spielen. An diesem Widerspruche geht die Produktivgenossenschaft auch zugrunde, indem sie entweder zur kapitalistischen Unternehmung sich rückentwickelt, oder, falls die Interessen der Arbeiter stärker sind, sich auflöst…”

Die europäische Genossenschaftswissenschaftliche Forschung tut heute alles, um diese “Rückentwicklung” zu fördern – und ein Verschwinden der Genossenschaften zu verhindern, sie sollen “konkurrenzfähig” sein bzw. werden.

Dem gegenüber ging es bei den Alternativbetrieben laut Arndt Neumann noch primär darum, die “Arbeitsorganisation” so zu verändern, dass dabei dem “Bedürfnis nach Autonomie” Rechnung getragen und somit “die Trennung zwischen Freizeit und Arbeit” überwunden wird. Das war auch der “Plan” des Genossenschaftsprojektanten Charles Fourier, der dabei die Leidenschaft in seinem Kommunemodell (Phalanstère) an die Stelle des Leistungsdrucks setzte – und zwar so konsequent, dass Marx und Engels seine Werke immer wieder mit großem Vergnügen lasen und André Breton im Exil nichts anderes. “Wünscht sich nicht jeder, die Arbeit in Lust zu transformieren (und nicht etwa die Arbeit zugunsten der Freizeit nur auszusetzen)?” fragte sich der Semiologe Roland Barthes – in “Sade, Fourier, Loyola”.

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(1) Barbara und Gunter Hamburger-Langer wohnen am Bodensee. Die Diplompsychologin leitet seit 20 Jahren “Visionssuchegruppen” und ihr Mann, Geschäftsführer des Diakonischen Werks in Konstanz, mindestens ebenso lange “Open Space Konferenzen”. Die beiden wurden von der spirituellen Ökologiebewegung in Amerika, dem “New Age” der Posthippiezeit, beeinflußt und machten sich 2001 elf Monate lang auf, um zu sehen, was davon übrig geblieben oder neu hinzugekommen war. Anschließend veröffentlichten sie ihre “Weltreise auf der Suche nach Samen für die Zukunft” als Buch:

Als erstes besuchten sie ein Camp von Regenwaldaktivisten (forest defenders) und die Hippiestadt Nimbim in Australien. Jedes ihrer Reise-Kapitel schließt mit einem Interview ab. Hier ist es eins mit John Seed vom “Rainforest Information Center”. Er hat eine typische New Age-”Karriere” hinter sich: Tune-In – erst Studium, dann Job bei IBM; Turn-On – mit LSD “die Augen öffnen”, sich für Buddhismus interessieren; Drop-Out – “Meditationsretreats in Indien und Nepal”, sich mit “Ökologie” befassen, in eine Landkommune ziehen und Biogemüse anbauen.

Als Baumschützer begeistert er sich derzeit für die Gaia-Hypothese. Er nennt das “Hitch your wagon on a star” – andere Visionen brauche er nicht. Die Gaia-Hypothese des Geophysiologen James Lovelock besagt, dass die Erde und ihre Atmosphäre ein einziger Organismus ist. Anfang November 2008 führte darüber die amerikanische Mikrobiologin und Symbioseforscherin Lynn Margulis im Berliner Zentrum für Literatur- und Kulturforschung Näheres aus. Das Ehepaar Hamburger-Langer nahm bereits bei Brisbane an einem Gaia-Workshop teil. Außerdem besuchte es ein Uni-Seminar von Ureinwohnern Australiens über “Aboriginal Studies”. Das anschließende Interview mit einem der Dozenten drehte sich um die “Bedeutung des Wissens der First People” und um deren “Zukunftsvisionen”. Dann ging es weiter nach Perth in Westaustralien, wo sie Jo Vallentine interviewten. Von Petra Kelly agitiert hatte diese in Westaustralien eine Grüne Partei gegründet, 1992 beendete sie jedoch ihre Parlamentsarbeit und ist nun wieder als Umweltaktivistin unterwegs. “Mein Engagement kommt direkt aus meinem Herzen,” sagt sie. So reden “New Age-People”. Es klingt immer ein bißchen wie schwäbischer Protestantismus. Und tatsächlich macht das Ehepaar Hamburger-Langer auch keinen großen Unterschied: zwischen religiösen (Quäker-)Aktivitäten, Friedensgruppen, Öko-Aktivisten, Indigenem Culturalism, Vegetarismus, Universitätsseminaren, Meditationsübungen, Riten des Übergangs für Trauernde und semiöffentlichem “Breast-Feeding”, das sich in Australien als ein “unter jungen Frauen verbreitetes Thema” erwies.

Auf Hawaii besuchten sie ein “Bildungszentrum für gewaltlosen Widerstand”. Dort organisiert man seit dem 11.9. “Friedensmahnwachen”, an denen sich auch Ureinwohner und Mitglieder einer Bibelrunde beteiligen.

In Kanada traf das Ehepaar sich dann mit einem Psychologen am “Yukon Hospice Center”: Er ist Sterbebegleiter für an unheilbaren Krankheiten leidende Ureinwohner. Anschließend besuchte das Ehepaar das “Yukon College”, eine Ausbildungsstätte für die Ureinwohner und fragten eine als Bibliothekarin tätige Angehörige des “Raven”-Clan der Nacho Nyak Dun First Nations People über die “Mythologie des Yukon” aus. Daneben nahmen sie an einem Seminar über die schädlichen Folgen von Alkoholgenuss bei schwangeren Müttern teil, das besonders die Ureinwohner aufklären soll.

Weiter ging es nach Kalifornien. Dort trafen sie eine Dozentin, die Seminare über “offene Systeme” abhält und “Schritte zum holonischen Wandel” entwirft. In ihrer Arbeit, so sagte diese, gehe es um die “Veränderung vom Ego-Selbst zum Öko-Selbst”. Ansonsten sieht sie seit der Verabschiedung des “Patriot Acts” die USA langsam faschistisch werden. In Oakland besuchte das Ehepaar die private “Universität für Schöpfungsspiritualität” von Matthew Fox, wo der anglikanische Bischof ebenso wie der Botaniker Rupert Sheldrake lehren. Letzterer versucht seit 1973 die vom russischen Biologen Alexander Gurwitsch aufgestellte Hypothese der morphischen Felder mit Medienexperimenten zu verifizieren. Laut Sheldrake bestehen die formbildenden Kräfte nicht aus Chromosomen oder Genen, sondern aus einem masselosen Feld – in das wir uns einem Radio ähnlich eintunen, damit ein Mensch, und nicht z.B. ein Esel aus unserem Keim wird. Sheldrake gehört zum Kern der kalifornischen New Age-Scene, die sich in den Achtzigerjahren u.a. in Esalen und in der Ojai-Foundation versammelte.

In San Rafael trafen Hamburger-Langer auf Ralph Gunter Metzner, dessen Bücher der taz-blogwart Mathias Broeckers ins Deutsche übersetzt. Der Harvard-Psychologe unternahm einst mit Timothy Leary und Richard Alpert LSD-Experimente – bis man sie von der Uni schmiß. Heute ist er Dozent am “California Institute for Integral Studies” (CIIS). Als Gründer der “Green Earth Foundation” will er “die Beziehungen zwischen Mensch und Natur heilen.” Die Amis müssen immer gleich die ganze Welt retten – unter dem tun sie es nicht! Dabei ist Metzner z.B. in seinem demnächst auf Deutsch erscheinenden Buch über “Krieg und Herrschaft” alles andere als optimistisch. In seiner US-anthropologischen Sichtweise zieht er Hoffnung allenfalls noch aus gewissen Affenforschungen: z.B. die des Kaliforniers Robert Zapolsky, der in Uganda Paviane erforschte, die nach dem plötzlichen Tod des ranghöchsten Männchens diesen Rang in ihrer Horde einfach nicht mehr besetzten – und fortan quasi führerlos, dafür aber um so fröhlicher weiterlebten. Als das Naturschutzgebiet und mit ihm die autonome Pavianhorde zerstört wurde, gab er seine Affenforschung auf. Statt weiter positiv zu denken beschäftigt er sich nun u.a. mit Depressionen. In seinem Buch “Warum Zebras keine Magengeschwüre bekommen” schreibt er: “Vereinfacht dargestellt können Sie sich das Auftreten einer Depression wie folgt vorstellen: Ihr Stammhirn entwickelt einen abstrakten negativen Gedanken und schafft es, den Rest des Gehirns davon zu überzeugen, dass er wirklich ist wie ein realer Stressfaktor.” Dass es der Zustand der Welt ist, der uns deprimiert, darauf will er sich in seinem Amimaterialismus nicht einlassen. Über nicht von einem ranghöchsten Männchen dominierte Pavianhorden forschte im übrigen auch jahrzehntelang der Zürcher Biologe Hans Kummer – in Äthiopien. Über eine andere Variante herrschaftsfreier Affenhorden referierte 1992 ein US-Biologe auf dem internationalen Primatenkongreß in Torremolinos: Er hatte den Kot einer Gruppe Kapuzineraffen genetisch untersucht – und dabei festgestellt, dass kein einziges Junges vom ranghöchsten Männchen abstammte – obwohl dieser quasi die alleinige Vaterschaft in der Gruppe beanspruchte.

Neben solchen Affenforschungen kann sich Metzner auch noch an einem Radiosender in San Francisco erfreuen, “der jeden Morgen nur gute Nachrichten verbreitet”. Ansonsten hat er jedoch das Gefühl, in einer Zeit “wachsenden Faschismus und Imperialismus” zu leben. Nach Metzner interviewte das Ehepaar den Afrikaner Mutombo Mpanya, den es bereits 1996 in einem Seminar am “Institute for Deep Ecology” in Seattle kennenlernte. Er meint, “Afrika ist vollkommen im Privatbesitz der westlichen Welt” und “die Bekehrung der Menschen zum Christentum in den sogenannten ‘primitiven Gesellschaften’ schuf ein isoliertes und individualistisches Bewußtsein.” Dieses macht Mpanya für die meisten, wenn nicht alle Übel der Welt verantwortlich.

In Oakland sprach das Ehepaar mit Marshall Rosenberg, den Gründer des “International Center for Non-violent Communication”. Die im Center gelehrte “mitfühlende Sprache” lasse sich auch mißbrauchen, meint Rosenberg – und erwähnte einen seiner Studenten, der später sehr erfolgreich selber “gewaltlose Kommunikation” lehrte – und zwar in einem Unternehmen, das die Mitarbeiter daran hindern wollte, Gewerkschaften zu gründen. Für Visionssuche-Gruppenleiter wie die Hamburger-Langers war ein Besuch im kalifornischen “Vision Valley” natürlich Pflicht. Anschließend besuchten sie den im Sterben liegenden Weltverbesserer Steven Foster. Mit ihm führten sie ein Interview an der “School of Lost Borders”, wo u.a. “Vision Fast”-Kurse stattfinden. Für Foster ist “eine Vision kein Luftschloss, keine Täuschung – sie ist eher etwas ganz Praktisches – das getan wird.” Zwischendurch besuchte das Ehepaar noch jemanden, der kirchliche Messen mit Technomusik veranstaltet und Exstacy zu therapeutischen Zwecken verwendet.

Ich fragte mich nach dieser langen Visionssuche, warum die Autoren unbedingt und ständig von “Visionen” sprechen (müssen) – von Halluzinationen also? Wo wir doch seit Platon, Morus und Fourier das schöne Wort “Utopie” haben – für einen Ort, den es (noch) nicht gibt. Wobei uns seit Foucault die “Atopie” sogar noch lieber ist – also etwas, das keinen Ort hat. Und da soll es auch bleiben. Besteht nicht das ganze Elend der Welt derzeit vor allem darin, dass hier permanent irgendwelche US-Super-Visionen in die Wirklichkeit eingebildet werden?

Der Schluß des Buches von Barbara Langer und Gunter Hamburger versöhnte mich wieder etwas mit ihrem dicken Buch: “Ursprünglich hatten wir geplant, zwei Wochen länger im Suskwa Valley zu bleiben, aber der bevorstehende Tod unserer Hündin Ora läßt uns früher abreisen. Der Abschied von liebgewonnenen Freunden fällt schwer. Gemeinsam tanzen wir noch einmal den Ulmentanz – auch für Ora.”

Barbara Hamburger-Langer und Gunter Hamburger: “Ein Stern sei mein Wagenlenker – Eine Weltreise auf der Suche nach Samen für die Zukunft”, Edition Octopus, Münster 2008, 612 Seiten 44 Euro 20.

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